Uns erreichen immer wieder grässliche Neuigkeiten aus Russland über die Aktivitäten des russischen Inlandsgeheimdienstes – des FSB, der aus dem KGB hervorgegangen ist. In einer Darstellung nach der nächsten berichten Anarchist*innen und Antifaschist*innen davon, dass der FSB sie entführt, Waffen in ihren Autos platziert und Folter angewendet hat, um sie zu zwingen, gefälschte Geständnisse zu unterschreiben, in denen sie zugeben, Teil eines offensichtlich erfundenen Terrornetzwerks zu sein.
Warum sollten wir uns gerade für diese russischen Fälle von Folter interessieren? Zunächst mag es Menschen aus Westeuropa oder den USA wie eine weitere abstrakte Tragödie erscheinen, ein weiterer Ruf nach internationaler Solidarität von glücklosen Menschen in einem fernen Land. Doch hier steht eine Menge auf dem Spiel. Was gerade in Russland passiert, ist ein Alptraum-Szenario, das sich auch bei uns wiederholen könnte, wenn wir es nicht ernst nehmen.
Bereits seit Jahrzehnten haben Sicherheitsbehörden vieler verschiedener Länder wiederholt versucht, nationale und internationale »terroristische Verschwörungen« zu erfinden, um dadurch Anarchist*innen fälschlich des Terrorismus zu bezichtigen. Bis heute sind all diese Versuche kläglich gescheitert. Jetzt hat die russische Geheimpolizei eine Neuerung eingeführt: sie haben Anarchist*innen ohne Vorwarnung entführt, Waffen in ihren Autos platziert und sie gefoltert, bis sie gefälschte »Geständnisse« unterschrieben haben. Sie hoffen, dass sie dadurch endlich Anarchist*innen erfolgreich der Teilnahme an einem »terroristischen Netzwerk« bezichtigen können. Wenn sie damit Erfolg haben, können wir davon ausgehen, dass andere Polizeieinheiten auf der ganzen Welt es ihnen gleichtun werden.
In der folgenden Analyse werden wir die Geschichte dieses Unterdrückungsmodells darlegen, die Details der russischen Folterfälle untersuchen und vorschlagen, wie wir reagieren können. Der Anhang listet die Einzelheiten der Verhaftungen und Folterungen in chronologischer Reihenfolge auf und liefert damit untermauernde Beweise der hier enthaltenen Berichte.
Wir haben auch Poster erstellt, die Solidarität mit den von der Repressionswelle Betroffenen zum Ausdruck bringen. Bitte druckt sie aus und kleistert damit die Straßen zu, um die Aufmerksamkeit auf diesen Fall zu lenken.
Dann schmiss der Mann mit den Handschuhen den Generator an. Der Strom drang in meine Knie ein. Meine Wadenmuskeln zogen sich zusammen und ich wurde von paralysierenden Schmerzen erfasst. Ich schrie. Mein Rücken und mein Schädel schlugen gegen die Wand. Sie legten eine Jacke zwischen meinen nackten Körper und die Steinmauer. Dies dauerte etwa zehn Sekunden, doch während es passierte, fühlte es sich für mich wie eine Ewigkeit an.
Einer von ihnen sprach mich an.
»Ich kenne das Wort ‚Nein‘ nicht. Ich erinnere mich nicht daran. Du solltest es auch vergessen. Verstanden?«, sagte er wortgetreu.
»Ja!«, antwortete ich.
»Das ist die richtige Antwort. Gut gemacht, Dimochka«, sagte er.
Der Knebel wurde wieder in meinen Mund gestopft und ich bekam vier Stromstöße verpasst, jeder dauerte drei Sekunden. […] Dann wurde ich auf den Boden geschmissen. Da eines meiner Beine an den Fuß der Bank gefesselt war, schlug ich mir die Knie auf, als ich fiel. Sie bluteten stark. Ich lag auf dem Bauch. Sie versuchten Drähte an meinen Genitalien anzubringen. Ich schrie und flehte sie an, die Misshandlung zu beenden.
»Du bist der Anführer«, wiederholten sie.
»Ja, ich bin der Anführer«, sagte ich, damit sie aufhörten mich zu foltern.
»Ihr habt Terroranschläge geplant.«
»Ja, wir haben Terroranschläge geplant«, antwortete ich.
Einer der Männer maß meinen Puls und setzte mir seine Sturmhaube auf, so dass ich sie nicht sehen konnte. Irgendwann verlor ich für eine Weile das Bewusstsein. […] Nachdem sie gegangen waren, betrat ein Gefängniswärter den Raum und befahl mir mich anzuziehen. Er brachte mich zurück in meine Isolationszelle.
Am nächsten Tag, am 29. Oktober 2017, zerbrach ich den Spülkasten der Toilette und benutzte die Scherben, um meine Arme an Gelenken und Ellenbogen und meinen Hals aufzuschlitzen, damit die Folter aufhören würde. Es gab viel Blut auf meiner Kleidung und auf dem Fußboden und ich brach auf dem Boden zusammen. Vermutlich haben sie meine Taten über die Überwachungskamera in meiner Zelle gesehen. Gefängnisangestellte kamen in meine Zelle und gaben mir erste Hilfe. Danach besuchte mich die Psychologin des Gefängnisses, Vera Vladimirovna.
– entnommen aus dem Transkript des Interviews des Anwalts Oleg Zaitsev mit dem Gefangenen Dmitri Pchelintsev über seine Foltererfahrungen in der Untersuchungshaft durch den FSB
Wunden, die Ilya Kapustin durch Folter mit Elektroschocks zugefügt wurden.
Zusammenfassung der Fälle: Lügen, gefälschtes Beweismaterial und Folter
Die Geschichte beginnt in Penza im Oktober 2017, als der FSB sechs Antifaschist*innen verhaftete, die manchmal mit einer Softairwaffe spielten. Laut den Angaben des FSB gehörten alle Gefangenen der einfallslos betitelten Organisation Set (Netzwerk) an. Sie planten angeblich, Bomben zu legen, um während der Präsidentenwahl und der Fußball WM ydas politische Klima im Land zu destabilisieren«. Der FSB behauptete, dass die Zellen des Netzwerks in Moskau, St. Petersburg, Penza und in Weißrussland agierten.
Die FSB-Beamten platzierten Waffen und Sprengstoff in den Fahrzeugen einiger Gefangener und folterten sie in der Untersuchungshaft. Sie schlugen die Gefangenen, hängten sie kopfüber auf, brachten Elektroden an ihren Körpern an, durch die sie sie mit Elektroschocks folterten und sie drohten mit noch schlimmeren Maßnahmen. Durch die Anwendung dieser Methoden zwangen die Beamten die Gefangenen, die gefälschten Geständnisse zu bestätigen, in denen sie sich dazu bekannten, Teil des vermeintlichen terroristischen Netzwerks zu sein. Ende Januar 2018 wurden zwei weitere Antifaschist*innen in St. Petersburg verhaftet. Auch sie wurden geschlagen, mit Elektroschocks gefoltert und dazu gezwungen zuzugeben, dass auch sie Mitglieder des erfundenen Netzwerks seien.
Zum jetzigen Zeitpunkt befinden sich sieben Antifaschist*innen hinter Gittern und ein*e weitere*r steht unter Hausarrest. Ihnen allen stehen bis zu zehn Jahren Haft bevor.
Eine Solidaritätsdemonstration in Berlin am 18. März, die parallel zur Präsidentenwahl stattfand
Nachdem die Nachrichten über die Verhaftungen und Folterungen die Runde gemacht hatten, organisierten Aktivist*innen Solidaritätsaktionen in Russland und an anderen Orten auf der ganzen Welt. Der russische Staat reagierte mit weiteren Razzien. In Moskau verhafteten Beamte Teilnehmer*innen von Solidaritätsaktionen und erhoben Anklage gegen sie. Antifaschist*innen aus Chelyabinsk wurden verhaftet, mit Elektroschocks gefoltert und erwarten nun ebenfalls eine Anklage.
Am 21. März hat der FSB zugegeben, dass sie zumindest einem Gefangenen Elektroschocks zugefügt haben. Mitglieder der öffentlichen Aufsichtskommission hatten den Angeklagten Viktor Filinkova ein paar Tage nach seiner Verhaftung besucht und dutzende Verletzungen durch Folter mittels Elektroschocks an seinem Körper aufgezeichnet. Der FSB erkennt an, dass Beamte Filinkova diese Verletzungen mittels Elektroschocks zugefügt haben, beharrt jedoch darauf, dass dies notwendig gewesen sei, »um ihn von der Flucht abzuhalten.«
Im Anhang, weiter unten, findet sich eine chronologische Auflistung der Verhafteten zusammen mit Ausschnitten aus ihren Berichten und den Berichten ihrer Anwält*innen. Eine aktuelle Auflistung findet sich auf rupression.com
Frühere Präzedenzfälle in Europa und den Vereinigten Staaten
Einer der ersten Versuche der Gegenwart eine weitreichende Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung zu konstruieren, um Anarchist*innen fälschlich zu bezichtigen, fand Mitte der 90er Jahre in Italien statt. Dieser Vorfall wurde als der Marini-Fall bekannt. Italien war einer der Geburtsorte der anarchistischen Bewegungen, und somit kam es dort auch zu den ersten Repressionsstrategien. Es lohnt sich, eine Analyse des Marini-Falls, die damals von Anarchist*innen veröffentlicht wurde, umfangreich zu zitieren, da sie wie ein unheilvoller Vorbote dessen wirkt, was in den Jahren seitdem folgte:
»Mit dem sogenannten Marini-Fall haben sie einen komplexeren Ansatz gewählt. Sie haben eine angebliche kriminelle anarchistische Organisation mit zwei Ebenen erfunden: die umfangreichere öffentliche Ebene bestehend aus Veröffentlichungen, Druckereien, besetzten Zentren und so weiter; und der klandestine Teil, die bewaffnete Gang. Unter Anwendung dieser fiktionalen Konstruktion hat der Staatsanwalt Antonio Marini dutzende Anarchist*innen angeklagt, Mitglied einer „subversiven Assoziation“ sowie einer »bewaffneten Gang« zu sein (und einige wurden angeklagt, Verbrechen begangen zu haben, die in Bezug zu tatsächlich stattgefundenen Taten standen). Der einzige Beweis für die Anklage der »subversiven Assoziation« sowie der »bewaffneten Gang« bestand in Briefen, Zeitschriften, e-mails, Gesprächen sowie Besuchen unter den Angeklagten.«
»Da diese Anklagen (besonders die der »subversiven Assoziation«) tatsächlich nicht genau definiert sind, geben sie dem Staat ein Schwert in die Hand, dass er dauerhaft drohend über den Köpfen von Anarchist*innen schwingen kann. Wenn eine Verhandlung scheitert, können neue Untersuchungen begonnen werden und die italienischen Beamten starten immer wieder neue Untersuchungen, die Razzien, Durchsuchungen, Abhörmaßnahmen und Schikanen beinhalten – die ganz normalen Polizeitaktiken eben. Selbst wenn diese Anklagen nur selten erfolgreich sind, kann dieser Vorgang schnell dazu führen, dass die Gefährt*innen ihre Energie eher darauf verwenden, sich selbst zu verteidigen als die soziale Ordnung anzugreifen. Wenn dies passiert, war die Strategie des Staates erfolgreich.«
In den Jahren 2008 und 2009 führte die Polizei Razzien mit der Intention durch, die Existenz eines landesweiten anarchistischen Terrornetzwerks in Frankreich (der Tarnac 9 Fall) und den USA zu etablieren. Keine dieser Bemühungen war letztendlich erfolgreich.
In einem Artikel, den wir 2010 veröffentlicht haben, The Age of Conspiracy Charges, haben wir mehr als ein Dutzend hochkarätiger Fälle von Mitgliedschaft in terroristischen Vereinigungen untersucht, die in den Vereinigten Staaten von 2004 bis 2010 gestartet wurden, um Anarchist*innen und ihre Verbündeten ins Visier zu nehmen. Mehrere dieser Versuche führten dazu, dass einzelne Menschen für Jahre oder gar Jahrzehnte ins Gefängnis mussten, aber keiner konnte den Nachweis eines welt- oder landesweiten Terrornetzwerks bringen. Nach dem Höhepunkt der Aufstände im Jahr 2011 schlug die Polizei mit einer weiteren Welle von Versuchen, anarchistische Terrornetzwerke zu erfinden, zurück. Ende 2014 und Anfang 2015 führte die Polizei in Spanien und Katalonien die Operationen Pandora und Piñata durch, im Zuge derer dutzende Anarchist*innen verhaftet wurden. Viele von ihnen wurden beschuldigt, Teil einer terroristischen Gruppe zu sein – als Beweis diente unter anderem, dass sie gemeinsam ein Buch mit dem Titel Gegen die Demokratie veröffentlicht hatten. Anfang 2018 stellte sich heraus, dass auch dieser Versuch kläglich gescheitert ist. Ein wichtiger Faktor, der zu dem Scheitern dieser Repressionswelle beigetragen hat, war die breite Unterstützung, die die Angeklagten an vielen Orten auf der Iberischen Halbinsel erhalten haben, unter anderem eine Solidaritätskampagne unter dem Motto #YoTambienSoyAnarquista (»Ich bin auch Anarchist*in«).
Die Polizei in Tschechien nahm sich ein Beispiel an den Vorgängen in Spanien, als sie im April 2015 ihre eigene Operation Fenix startete. Auch dieser Fall ging für die Behörden nicht gut aus. Die Verhandlung endete damit, dass alle Angeklagten freigesprochen wurden während der Staat weiter versuchte, neue Rechtfertigungen zu erfinden, um seine Opfer weiter schikanieren zu können. Dank der hartnäckigen Solidaritätsbemühungen und der Faulheit, Inkompetenz und der Dummheit der Polizei scheiterten die Behörden daran, selbst ihre eigenen reaktionären Justizbeamten davon zu überzeugen, dass diese fingierten Terrornetzwerke existierten.
Weitere Informationen zur Repression in Europa während dieser Zeit findet ihr in dem Artikel On Repression Patterns in Europe, der euch einen wichtigen Überblick über Repression und Solidarität in sechs Ländern liefert.
Auf der Suche nach einem Weg, um all diese Fehlschläge zu umgehen, führte der Russische Geheimdienst 2017 eine Innovation ein: unter Anwendung grausamer Foltermethoden zielte er darauf ab, die Gefangenen dazu zu zwingen, die Schuldeingeständnisse selbst zu unterschreiben. Bisher ist es ihnen gelungen, sechs Menschen dazu zu bringen, die Mitgliedschaft in einem weit hergeholten »Terror-Netzwerk« zuzugeben, das bisher noch keine Taten begangen hat.
Warum könnte sich das russische Modell ausbreiten?
Die Polizeibehörden aller Nationen sind in einem globalen Netzwerk miteinander verbunden. Sie tauschen sich über Taktiken, Strategien und Trainingsmethoden aus; Innovationen in einem dieser Felder oder in einer Region werden schnell weitergegeben. Es ist offensichtlich, dass die Regierungen und ihre Mittel der Überwachung und Kontrolle seit der Jahrhundertwende zunehmend autoritärer geworden sind. In diesem Zusammenhang ist es nicht weit hergeholt sich vorzustellen, dass die Polizei in Europa und den Vereinigten Staaten das russische Modell übernehmen könnte, indem sie eine Verschwörung erfinden und ihre Opfer durch Folter dazu zwingen, deren Existenz zu bestätigen.
Ist es wirklich schwer, sich das vorzustellen?
Die Behörden in Europa und den Vereinigten Staaten scheuen sich sicherlich nicht davor, Ausreden zu erfinden, um Anklagen erheben zu können. Wie wir in Bounty Hunters and Child Predators dargestellt haben, ist die Polizei oft zu faul, um die tatsächlichen anarchistischen Organisationen anzugreifen. So wie alle zynischen Angestellten oft nachlässig arbeiten, fällt es auch ihnen oft leichter, sich unerfahrene Individuen vorzunehmen, die am Rande anarchistischer Bewegungen teilnehmen. In den Vereinigten Staaten kann dies deutlich an der Verführung zu Straftaten von Eric McDavid, David McKay, Bradley Crowder, Matthew DePalma, der Nato 3 und der Cleveland 4 durch agents provocateur des FBI wie bspw. Andrew Darst und Brandon Darby illustriert werden, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Keine dieser Personen hätte illegale Taten begangen, wären sie nicht durch FBI Mitarbeiter*innen unter Druck gesetzt oder, wie in einigen Fällen, von ihnen dazu verführt worden. Sie alle verbrachten deswegen Jahre im Gefängnis. Eric McDavids Verurteilung wurde nach neun seiner 19,5 Jahre währenden Strafe zurückgezogen, als herauskam, dass das FBI Beweise zurückgehalten hatte, die ihn entlasteten; doch in all diesen Fällen wendeten die Behörden ungefähr den gleichen Ansatz an. Es ist gut dokumentiert, dass die Vereinigten Staaten bereits Bürger*innen aus den USA und Europa gefoltert haben. Die verwendeten Methoden beinhalteten Prügel, erzwungene anale Penetration, erzwungene Drogeninjektionen, Verhinderung des Zugangs zu Nahrung und Wasser, Folter durch extreme Kälte und Todesdrohungen. Ein Bericht des Büros aus der juristischen Abteilung des Generalinspekteurs erkennt an, dass nach dem 11. September Gefangene mit dem Gesicht voran gegen eine Wand geschleudert wurden, an der ein Hemd mit der amerikanischen Flagge hing; der Blutfleck, der zurückblieb, wurde von einem Offizier als ein Abdruck blutiger Nasen und Münder beschrieben. Einzelne Verhörer*innen des Militärs haben aufgrund der Rolle, die sie bei der Folter Gefangener spielten, Selbstmord begangen.
Es gibt auch Berichte, dass die Verhörer*innen der US-Regierung Elektroschocks und fingierte Exekutionen angewendet haben, um die Inhaftierten dazu zu zwingen, erfundene »Geständnisse« zu unterschreiben. Dies ist das Modell des FSB.
Es ist auch nicht unrealistisch sich vorzustellen, dass die Polizei in Europa und den Vereinigten Staaten Folter gegen Anarchist*innen anwenden könnte. Die italienische Polizei hat 2001 während des G8-Gipfels in Genua Gefangene gefoltert, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte jüngst anerkannte. Es gab Berichte, nach denen die Polizei Gefangene im Rahmen der Proteste gegen die Planung der amerikanischen Freihandelszone in Miami gefoltert hat. Seit dem haben diverse Stadtverwaltungen unzählige Millionen Dollar als Resultat von Fehlverhalten seitens der Polizei ausgegeben; es dauert lange, bis es externe Bestätigungen von Foltervorwürfen gibt, aber wir werden in den kommenden Jahren sicherlich erleben, dass viele Fälle aus den letzten 15 Jahren aufgeklärt werden.
Die derzeitige US-Administration versucht offen voranzutreiben, dass Folter in einem breiteren Rahmen angewendet wird. Genauso wie die Agenda der Trump-Administration eine treibende Kraft hinter dem noch nie dagewesenen harten Durchgreifen bei den Strafverfolgungen im Rahmen der J20-Proteste war, ist es durchaus realistisch zu erwarten, dass sich der Enthusiasmus, den Trump und seine Spießgesellen in Bezug auf die russische »Härte« gezeigt haben, in den kommenden Jahren in den Handlungen der Polizei und der Bundesbehörden spiegeln wird.
Wenn es soweit ist, dass die Behörden dazu kommen, die neuen Strategien an Anarchist*innen auszuprobieren, können wir sicher sein, dass sie sie bereits an Muslim*innen und an armen People of Color ausprobiert haben werden. Dies ist noch ein weiterer Grund, warum wir uns in der Organisation von Solidarität mit Communities, die es eher treffen wird als uns, engagieren sollten, so dass wir mit den Polizeitaktiken, die als nächstes gegen uns angewendet werden, Schritt halten können.
Wunden, die dem Gefangenen Ilya Kapustin durch Handschellen zugefügt wurden.
Vorherige Präzedenzfälle in Russland
Die Taktik, Angeklagte zu zwingen, gefälschte Geständnisse zu unterschreiben, wird in Russland schon seit Längerem durchgeführt, wie ein kurzer Überblick über die Geschichte der UdSSR zeigen wird. Es ist auch nicht das erste Mal, dass russische Sicherheitsbehörden versucht haben, Anarchist*innen und Antifaschist*innen fälschlich zu bezichtigen, Teil eines ausgedachten Terrornetzwerks zu sein.
So hat sich zum Beispiel die Nizhny Novgorod Anti-Extremismus-Einheit im Jahr vor der Präsidentenwahl 2012 den sogenannten Antifa-RASH Fall ausgedacht, bei dem sie mehrere Antifaschist*innen beschuldigten, einen bewaffneten Staatsstreich vorzubereiten; sie haben sogar offensichtlich falsche »Mitgliedsausweise« hergestellt, die mit Fehlern gespickt waren. Drei der Angeklagten wurden letztendlich freigesprochen, doch zwei leben bis heute im Exil.
Nach den Parlamentswahlen Ende 2011 kam es zu massiven Protesten, die sich bis zu der Präsidentenwahl hinzogen. Allem Anschein nach machte diese weit verbreitete Reaktion der russischen Regierung Angst. Als Putin wieder an die Macht kam, wurden neue repressive Gesetze erlassen, die dazu dienen sollten jegliche Protestbewegungen und Kritik an der Regierung zu unterbinden.
Bis 2014 hatten die Behörden mit rechtsextremen Nationalist*innen kooperiert. Doch nach den Maidan-Aufständen in der Ukraine sind sie auch gegen Nationalist*innen und Faschist*innen vorgegangen. Und nach den Annektion der Krim verklagten die Behörden immer mehr sogenannte »Terrorist*innen« und »Extremist*innen«: sie verklagten Muslime*as aus »nicht-traditionellen« Religionsgemeinschaften, sie verklagten Krim-Tataren, sie verklagten Nationalist*innen, Anarchist*innen und Antifaschist*innen. So wurde in dem Fall Sentsov und Kolchenko beispielsweise ein Anarchist zu zehn Jahren Haft verurteilt, Seite an Seite mit einem vermeintlichen Mitglied der ukrainischen faschistischen Partei Der Rechte Sektor – obwohl seine einzige Verbindung zu den Nationalist*innen die ist, dass er von ihnen verprügelt worden war.
Einige Jahre lang setzte sich der Nationalist Vyacheslav Maltsev für die Idee ein, dass es am 5. November 2017 eine Revolution geben würde. Maltsev selbst verließ Russland aufgrund einer laufenden Anklage gegen ihn (»Öffentlicher Aufruf zu extremistischen Aktivitäten«). Beginnend im Oktober 2017 verhafteten die Behörden in ganz Russland viele Menschen, die mit Maltsev und seiner Bewegung in Verbindung standen und sie beschuldigten sie der Vorbereitung terroristischer Angriffe.
Und so geschah es, dass in der Stadt Penza zwei Antifaschist*innen, die ein Airsoft-Team namens 5.111 hatten, verhaftet, gefoltert und des Terrorismus beschuldigt wurden. Als der Geheimdienst begriff, dass die Verhafteten nichts mit einer nationalistischen Revolution zu tun hatten, erfanden sie eine Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung: die Teilnahme an der erfundenen anarchistischen terroristischen Gruppe, Netzwerk. Auf diese Weise versuchte der FSB sowohl rechte als auch linke Bewegungen gleichzeitig zu zerschlagen.
All dies fand im Vorfeld einer neuen Runde der Präsidenten»wahlen« am 18. März statt. Putin und seine Mitarbeiter*innen wollten erreichen, dass diese Wahlen ohne anschließende Proteste stattfinden. Deshalb machten sie sich daran, jede*n einzuschüchtern, die/der möglicherweise Menschen auf die Straße bringen könnte.
Währenddessen bereitet sich Russland darauf vor, die FIFA-WM auszurichten. Wie wir schon in Bezug auf die WM in Brasilien berichtet haben, bieten Mega-Events wie eine WM den unterdrückerischen Staaten die Möglichkeit, Massen an neuen Initiativen der Restrukturierung und der Repression durchzuführen. Der Russische Geheimdienst war entschlossen zu zeigen, dass sie effektiv terroristische Angriffe verhindern könnten – und der einfachste Weg, dies zu tun, war es, eine Straftat zu erfinden. Dies ist ein weiteres Element, das die neue Welle der Repression gegen Anarchist*innen und Antifaschist*innen in Russland erklärt.
Die Tatsache, dass der Staat seine Angriffe gegen Anarchist*innen und Antifaschist*innen intensivierte, nachdem er endlich gegen rechtsextreme Gruppen vorgegangen war, sollte als eine Erinnerung für Antifaschist*innen dienen, dass sie, im Rahmen ihrer Organisation, keine Form der staatlichen Repression legitimieren sollten, selbst wenn sie sich gegen die gefährlichsten Faschist*innen richtet. Was immer der Staat heute den Faschist*innen antut, wird er morgen sicherlich auch Anarchist*innen und anderen Rebell*innen antun.
Eine Karte der russischen Wahlergebnisse: der Diktator Putin wurde einstimmig gewählt. Demokratie funktioniert auf nicht-so-mysteriöse Arten.
Was wir tun können
Was können wir tun, um die russischen Angeklagten zu unterstützen und den Versuch zu vereiteln, ein neues Repressionsmodell einzuführen?
Auf jeden Fall müssen wir den russischen Folterfällen Aufmerksamkeit verschaffen, um die russische Polizei zu diskreditieren, in der Hoffnung, dass die Sicherheitsbehörden anderer Länder davon abgehalten werden, ihrem Beispiel zu folgen. So viel sollte möglich sein. Es ist nur ein paar Jahre her, dass Pussy Riot zu den Darlings der liberalen Medien wurden, indem sie die ehrenvolle Rolle der »russischen Dissidentinnen« erfüllten. In einer Zeit, in der Donald Trumps geheime Absprachen mit Russland die Nachrichten dominieren, sollte es uns möglich sein, die selben Kanäle zu nutzen, die die J20-Fälle veröffentlicht haben, um auch diesen Fällen Aufmerksamkeit zu verschaffen.
In Reaktion auf die erfundenen Fälle der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung können wir auf unseren bereits erwähnten Text The Age of Conspiracy Charges zurückgreifen:
1. Lassen wir nicht zu, dass der Staat uns einschüchtert und uns daran hindert konfrontative öffentliche Aktionen zu organisieren.
Der Staat zielt auf die Organisator*innen öffentlicher Aktionen ab, weil sie effektiv sind. Selbst wenn es als eine strategische Option erscheint, spielt das Zurückziehen von der Organisation öffentlicher Aktionen nur in die Hände der Behörden. Repression soll Militante davon abhalten, sich in der Öffentlichkeit zu engagieren, so dass sie die Verbindung zu einem breiteren sozialen Fundament verlieren und die falsche Dichotomie zwischen passiver »Arbeit in der Gemeinde« und klandestinen direkten Aktionen verstärken. Dies soll nicht heißen, dass jede*r sich in der Öffentlichkeit organisieren soll – im Gegenteil, ein Zweck der öffentlichen Organisierung ist es, eine wohlgesonnene Basis für allgemeinere und anonyme Aktionen zu gewinnen – aber es ist ein notwendiger Aspekt des anarchistischen Kampfes.
2. Minimieren wir unsere Anfälligkeit, aufgrund einer Verschwörung angeklagt zu werden
Es gibt viele Wege, wie wir dies tun können. Der Offensichtlichste ist das Praktizieren einer angemessenen Sicherheitskultur, bei der wir Informationen nur mit denen teilen, die sie wissen müssen und unser Bestes tun, Informant*innen aus unseren Kreisen herauszuhalten. Eine Sicherheitskultur gilt nicht nur für diejenigen, die an illegalen Aktivitäten teilnehmen; sie gilt für alle, die mit Netzwerken verbunden sind, die der Staat ausspionieren oder sprengen will.
Genauso gilt es, staatliche Kopfgeldjäger*innen im Auge zu behalten, die sich naive junge Aktivist*innen vorknöpfen. Oft zielen sie auf die am wenigsten erfahrenen oder am wenigsten verbundenen Individuen eines sozialen Milieus ab anstatt sich mit langjährigen Militanten auseinanderzusetzen. Wir können uns auch dadurch vor einer Sprengung unserer Netzwerke schützen, indem wir interne Konflikte klären, bevor sie Eindringlingen oder Strafverfolger*innen die Möglichkeit bieten, uns selbst gegeneinander aufzubringen.
Wann immer jemand von einem politisch motivierten Fall von Mitgliedschaft in einer terroristischen oder kriminellen Vereinigung betroffen ist, ist es wichtig, dass wir die allerbeste juristische Verteidigung mobilisieren, die wir auftreiben können. Jeder Fall von Mitgliedschaft in einer terroristischen oder kriminellen Vereinigung gegen Radikale ist ein Präzedenzfall, der andere nach sich zieht; wenn wir eine*n von uns verteidigen, verteidigen wir uns alle. Gute Anwält*innen haben zwei Funktionen. Zunächst schüchtern sie den Staat ein, der viel eher verhandeln oder die Anklage fallen lassen wird, wenn er weiß, dass es teuer und riskant sein wird, jemanden zu verklagen. Zudem können sie Fälle gewinnen oder dafür sorgen, dass sie fallen gelassen werden. Das Geld aufzutreiben, um eine Person effektiv zu schützen, kann langfristig viel Geld und Kummer einsparen.
Öffentliche Unterstützungskampagnen sind genauso wichtig. Einerseits bedeutet es, an die Öffentlichkeit zu gehen, wenn wir angegriffen werden – sowohl um Unterstützung zu erhalten als auch um die Repression ins Rampenlicht zu rücken. Andererseits bedeutet es, langfristige Unterstützung für die Angeklagten zu organisieren, damit sie sich in die Community eingebunden fühlen und damit die Behörden die Öffentlichkeitsarbeit mit in die Waagschale legen, wenn sie darüber nachdenken, ob sie uns angreifen sollen. Unterstützungskampagnen können die verletzlichsten Individuen in der Hierarchie angreifen; die Unterstützer*innen der RNC 8 taten dies, indem sie sich auf die Staatsanwältin des Landkreises Susan Gaertner konzentrierten, die schlussendlich dazu gedrängt wurde, die Terrorismusanklage fallen zu lassen.
Und, auch wenn dies eine Selbstverständlichkeit sein sollte, können wir uns vor Anklagen der Mitgliedschaft in einer terroristischen oder kriminellen Vereinigung einfach dadurch schützen, dass wir nicht mit den Behörden kooperieren. Viele dieser Fälle hätten nicht aufgenommen werden können, wären einige Individuen nicht dazu gebracht worden, gegen ehemalige Gefährt*innen auszusagen. Anna und Arthur halten‘s Maul – das gilt sowohl für unsere ganze Community als auch für konkrete Gruppen von Angeklagten.
Angeklagte, die mit der Regierung kooperieren, werden dadurch keine Vorteile erlangen. Wie wir weiter unten und an anderer Stelle bereits ausgeführt haben, verlieren sie nicht nur Freund*innen und die Unterstützung der Community, sie erhalten auch nur in seltenen Fällen deutlich kürzere Haftstrafen – und ein Knastaufenthalt ist als Informant*in deutlich härter.
3. Erstellt aussagekräftige Berichte, die die Anwendung der Anklage der Mitgliedschaft in einer terroristischen oder kriminellen Vereinigung durch den Staat diskreditieren, und verbreitet sie in der breiten Öffentlichkeit.
Wenn die Behörden als eine zentrale Strategie auf Anklagen der Mitgliedschaft in einer terroristischen oder kriminellen Vereinigung gegen Anarchist*innen bauen, dann müssen wir uns zunutze machen, wie dies die Behörden angreifbar macht. Viele in unserer Gesellschaft – und zwar nicht nur Radikale – haben Probleme mit der Vorstellung, dass Menschen für Meinungsdelikte verfolgt werden. Wir müssen Wege finden, wie wir Menschen außerhalb unserer sozialen und politischen Kreise über die Verbreitung von Anklagen der Mitgliedschaft in einer terroristischen oder kriminellen Vereinigung informieren, so dass wir diese Möglichkeit nutzen können, um den Staat zu diskreditieren und um derartige Anklagen zu de-legitimieren. Je weitere Kreise wir dazu bringen, diese Taktik abzulehnen, umso schwieriger wird es für die Behörden werden, zu handeln. Die meiste Arbeit steht uns noch bevor. Wenn dich die Repression der Regierung beunruhigt, dann denk über Wege nach, wie du andere Menschen außerhalb der radikalen Kreise über dieses Thema informieren kannst.
Wenn wir über Anklagen der Mitgliedschaft in einer terroristischen oder kriminellen Vereinigung und Hexenjagden sprechen, ist es wichtig zu betonen, dass wir über den Staat sprechen, der besteht um gewalttätige Unterdrückung auszuüben. Solange Ungleichheit und Ungerechtigkeit bestehen, wird es Widerstand geben und die an der Macht werden versuchen, diesen zu unterdrücken. Wenn wir uns als revolutionäre Bewegung ernst nehmen, müssen wir uns in einem größeren Kontext und in der Geschichte der Widerstandsbewegung mit der dazugehörigen Repression betrachten; es täte uns gut, würden wir sowohl von den Erfolgen als auch von den Fehlschlägen in der Vergangenheit lernen. Es ist auch wichtig, dass wir uns daran erinnern, dass Repression zum täglichen Leben unzähliger Menschen aus weniger privilegierten Communities am anderen Ende der Macht dazugehört; Anarchist*innen sind diesbezüglich bei Weitem keine Ausnahme.
Selbstverständlich ist es für Menschen viel schwieriger, dem Druck standzuhalten, nicht mit den Behörden zu kooperieren – oder sogar glatte Lügen nicht zu bestätigen – wenn sie schwer gefoltert werden. Dies macht Solidarität und öffentlichkeitswirksame Maßnahmen in diesem Zusammenhang umso wichtiger.
Eine Aktion der Solidarität in Toronto.
Wenn du Geld spenden möchtest, um die juristische Verteidigung der Gefangenen zu unterstützen, kannst du paypal nutzen, um Geld an das Anarchist Black Cross Moskau zu schicken (abc-msk@riseup.net). Füge im Betreff hinzu, dass die Spende an „St. Petersburg und Penza“ geht. Du kannst in Euros und US Dollar bezahlen. Auf rupression.com findet ihr auch Optionen um mit Bitcoin zu spenden.
Bei Black Mosquito gibt es Soli-Sweatshirts, T-Shirts und Beutel zu kaufen – deren Erlöse gehen dienen der Unterstützung der Gefangenen.
Wenn du eine weitere Option benötigst, um Geld zu überweisen, kontaktiere das Anarchist Black Cross Moskau: abc-msk@riseup.net
Der Gefangene Victor Filinkov.
Anhang: Die Gefangenen (in chronologischer Reihenfolge)
In der Stadt Penza
Egor Zorin – verhaftet am 17./18. Oktober. Er war der erste, der verhaftet wurde und der erste, der ein »Geständnis« abgelegt hat. Momentan unter Hausarrest.
Ilya Shakursky – verhaftet am 19. Oktober. Shakursky hatte versucht Zorin zu finden, nachdem dieser verschwunden war. Er wurde verhaftet, nachdem er auf seinem Heimweg aus einem Bus ausgestiegen war. Die Strafverfolger haben zwei Granaten und eine Pistole unter dem Rücksitz von Shakurskys Auto platziert. Nachdem er in der Untersuchungshaft mit Elektroschocks gefoltert worden war, stimmte er einem »Geständnis« zu. Seine Mutter wurde von ihrem Job gefeuert, nachdem die Nachrichten über den Fall und die Folter veröffentlicht wurden. Er hat eine formelle Beschwerde wegen der Folter eingereicht. Momentan in Untersuchungshaft.
Er sagte, es sei der Plan gewesen, sie in den Maltsev-Fall zu verwickeln. Er sprach es aus. Ich war überrascht. Worin bestand die Verbindung? Meiner Meinung nach wurde dieser Fall aus formellen Gründen fingiert. Sie schnappten sich einen Kameraden mit dem Namen Zorin. Er war der schwächste von ihnen und sagte gegen all seine Freund_innen aus. Zudem ist seine Zeugenaussage vollkommen an den Haaren herbeigezogen. Sie war die Grundlage für die Verhaftung der anderen wegen des Tatverdachts, das gewisse Verbrechen begangen zu haben.
Hier wird es nun interessant. Meinem Klienten zufolge wurden sie alle im Keller des Untersuchungsgefängnisses gefoltert. Die Folter war gut ausgeklügelt. Maskierte Offiziere in Tarnuniformen betraten ihre Zellen. Sie brachten sie in einen Raum im Keller, zwangen sie, sich zu entkleiden, brachten Elektroden an ihren Fingerspitzen an und setzten den sogenannten Dynamo in Gang.
Er sagte nur: »Ich konnte es nicht aushalten. Ich bin zusammengebrochen.«
Vasily Kuksov – verhaftet am 19. Oktober. Als Offiziere ihn mitbrachten, um sein Heim zu durchsuchen, waren seine Hose und seine Jacke zerrissen und mit Blut befleckt und seine Stirn und seine Nase waren schwer verletzt, als wäre er gegen den Bürgersteig geschleudert worden. Es wird spekuliert, dass er an ein Auto gefesselt und hinter diesem hergezogen worden ist. Waffen wurden in seinem Auto platziert (von dem das Schloss zerstört ist). Er hat trotzdem nicht zugestimmt, der Polizei ein Geständnis anzubieten oder zu bestätigen. Momentan in Untersuchungshaft.
Dmitry Pchelintsev – verhaftet am 27. Oktober. Pchelintsev hatte sein Haus ungefähr um sechs Uhr morgens verlassen, um sich mit seiner Großmutter zu treffen, als er verhaftet und daraufhin brutal gefoltert wurde. Er wurde beschuldigt, ein Organisator des vermeintlichen terroristischen Netzwerks zu sein und bestätigte die Geschichte des FSB. Er reichte eine formelle Beschwerde gegen die Folter ein, zog diese jedoch wenige Tage später wieder zurück – vermutlich ein Hinweis darauf, dass er wieder gefoltert wurde. Momentan in Untersuchungshaft.
»Nachdem ich versucht hatte, mich durch das Aufschlitzen meiner Adern umzubringen, wurde ich im Untersuchungsgefängnis unter besondere Aufsicht gestellt. Die Handschellen wurden nicht von meinen Händen entfernt, nicht mal, als ich dabei war, Verhörprotokolle zu unterschreiben.
Ich möchte hinzufügen, dass mein Mund, als ich gefoltert wurde, voll mit »zersplitterten Zähnen« war, da ich meine Zähne so stark zusammengebissen hatte, weil die Schmerzen so heftig waren. Und ich habe mein Zungenbändchen eingerissen.
Ich wurde so heftig geschlagen, dass ich offene Wunden an meinem Kopf hatte.
— Protokoll des Interviews des Anwalts Oleg Zaitsev mit Dmitry Pchelintsev
Andrey Chernov – verhaftet Anfang November. Im Knast traf Chernov auf Pchelintsev, der ihm riet, allem zuzustimmen, um das Ausmaß der Folter möglichst gering zu halten. Demzufolge gestand er seine Schuld. Momentan in Untersuchungshaft.
Arman Sagynbayev – verhaftet Anfang November in St. Petersburg. Sagynbayev hat Berichten zufolge schwere gesundheitliche Probleme und braucht medizinische Hilfe. Während der Anhörung zur Verlängerung der Untersuchungshaft sagte er, dass ihm die ganze Zeit übel war und dass er sich übergeben musste. Nach Aussagen anderer Gefangener wurde Sagynbayev schwer gefoltert. Momentan in Untersuchungshaft. Wichtige Ergänzung zu Arman
In St. Petersburg
Viktor Filinkov – Entführt vom FSB an einem Flughafen am 23. Januar. Filinkov ist ein Antifaschist, ein Programmierer und ein Bürger Kasachstans. Offiziere brachten Filinkov in einen Wald, wo sie ihn mit Elektroschocks folterten. Er reichte eine formelle Beschwerde gegen die Folter ein. Zunächst kooperierte er mit dem FSB und gestand seine Schuld ein, doch jetzt möchte er sein Geständnis zurückziehen. Momentan in Untersuchungshaft.
Einige Fragen konnten sie selbst nicht beantworten.
»Wo sind die Waffen?«
»Welche Waffen? Ich weiß davon nichts«, antwortete ich und bekam einen Stromstoß verpasst.
»Du weißt alles, wo sind die Waffen?« hakte Bondarev K.A. nach.
»Sagt es mir, ich werde sagen, was ihr mir sagt!« Ich hoffte auf Gnade, doch ich bekam wieder einen Stromstoß. Nach mehreren Durchgängen wurden die Fragen zu solchen geändert, auf die es auch Antworten gab.
Der maskierte Mann verpasste mir Stromstöße an verschiedenen Stellen: Handschellen, Hals, Brust, Schritt, aber am häufigsten am rechten Bein – er drückte mich gegen das Fenster, fixierte dort meinen Körper, drückte den Taser rein und betätigte den Knopf und hielt ihn so fest, dass ich mein Bein nirgendwohin bewegen konnte. Bondarev K.A. schlug mir von Zeit zu Zeit immer wieder auf den Hinterkopf – insgesamt hat er mich mindestens zehn Mal geschlagen.
— Viktor Filinkovs Aussage zu seiner Verhaftung und der Folter
Igor Shishkin – entführt am 25. Januar, als er los ging, um mit seinem Hund Gassi zu gehen. Shishkin wurde zwei Tage lang vermisst, tauchte dann wieder bei einer Anhörung vor Gericht auf, der niemand bei sitzen durfte. Er hatte viele Narben an seinem Körper, die von Folter und Elektrodrähten herrührten. Er ließ sich auf einen Deal mit den Verhörenden ein. Momentan in Untersuchungshaft.
Die öffentliche Beobachtungskommission in St. Petersburg hat Filinkov und Shishkin im Gefängnis besucht und hat bestätigt, dass beide Narben von verschiedenen Arten von Folter vorwiesen.
Ilya Kapustin – ein Zeuge. Kapustin wurde am Abend des 25. Januar auf seinem Heimweg von maskierten Geheimdienstoffizieren geschnappt. Er berichtet, dass er während seiner Befragung mit einem elektrischen Viehtreiber gefoltert wurde. Er ist frei.
Als ich abends nach Hause kam und schon nahe bei meinem Haus war, griffen mich ca. fünf maskierte Männer in schwarzen Uniformen aus unterschiedlichen Richtungen an. Sie schubsten mich auf den Boden, zogen mich in einen Minivan und traten dabei auf mich ein. Ich versuchte nach Hilfe zu rufen. Ich schrie, doch es war vergeblich. Ich wurde auf den Boden des Minivan geworfen und die Männer durchsuchten mich, während sie weiter auf mich eintraten. Mir wurden die Handschellen sehr eng angelegt, so eng, dass ich die Einschnitte immer noch auf meiner Haut habe.
Das Fahrzeug fuhr los und ich wurde verhört. Wenn ich die Antworten auf eine Frage nicht wusste oder wenn ich nicht verstand, über wen oder was sie sprachen, versetzten sie mir mit einem Viehtreiber Stromstöße in die Leistengegend oder in die Seite meines Bauches. Sie taten dies, damit ich gestehen würde, dass irgendein Bekannter von mir dabei war, gefährliche Dinge zu planen. Es gab Fragen darüber, ob ich ein Mitglied gewisser Organisationen sei, wohin ich gereist und ob ich in Penza gewesen war. Sie fragten mich nach Details aus dem Leben meiner Bekannten aus.
Immer wieder stießen sie mit dem Viehtreiber auf mich ein. Irgendwann sagte einer von ihnen, sie könnten mich irgendwo im Wald rausschmeißen und mir dann die Beine brechen. Ich freute mich auf diesen Augenblick, wenn alles vorbei sein würde, denn sie hatten mich so lange gefoltert, dass es nicht mehr auszuhalten war.
Ich war von etwa 21.30 Uhr abends bis 1.30 Uhr nachts in dem Fahrzeug, bis wir anscheinend im einem FSB-Büro ankamen. Als sie mich raus holten, setzten sie mir eine Haube auf und zwangen mich, nach unten zu schauen und ich konnte nicht herausfinden, wo wir waren, aber später, als sie mich nach Hause brachten, um meine Wohnung zu durchsuchen, schätzte ich, dass ich in dem FSB-Büro an der Ecke der Shpalernaya Straße war. Ich sah viele Geheimdienstleute in dem Büro, sie trugen jedoch ganz normale Kleidung. Ein Ermittler verhörte mich für etwa eine Stunde. Andere Geheimdienstleute schauten zwischendurch vorbei. Einer von ihnen sagte mir, dass ich, wenn ich nicht noch eine zweite Runde wollte, lieber alle Fragen beantworten solle.
Dann gingen wir in die Wohnung, in der wir leben und dort zeigten sie uns einen Durchsuchungsbefehl, der von einem Gericht in Penza ausgestellt worden war. Während der Durchsuchung weigerte ich mich, meinen Laptop und mein Handy einzuschalten. Das ließ sie heftig reagieren. Sie drohten mir, sie würden eine Granate verstecken und in ein paar Tagen wiederkommen um sie dann bei der Durchsuchung zu finden. Letztendlich konfiszierten sie meinen Laptop, ein Handy und eine Festplatte.
Zusätzlich wurden Aktivist_innen, die in Chelyabinsk Solidaritätsaktionen durchgeführt hatten, von Beamten des FSB verhaftet und gefoltert.
Eine Solidaritätsaktion in Toronto.
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5.11 ist der Name einer Sportbekleidungsmarke. Es ist auch das Datum, an dem Anarchist*innen im Arbekovo-Wald in Penza Anfang des 20. Jahrhunderts erschossen wurden. ↩