Unter Rückgriff auf Interviews mit lokalen Anarchist*innen erkunden wir die kolonialen Wurzeln der andauernden Katastrophen, die Hurrikan Ida in Louisiana verschärft hat und diskutieren, wie Communities ernsthaft resiliente Infrastruktur für alle aufbauen können.
Es ist nun vier Tage her [02.09.2021], dass Hurrikan Ida in New Orleans und Umgebung eine Spur der Verwüstung hinterlassen hat. Während Hunderttausende sich damit auseinandersetzen, wie sie die nächsten Wochen mit drastisch reduziertem Zugang zu Gütern des täglichen Bedarfs verbringen, stehen viele vor den gleichen Fragen, mit denen sie nach Hurrikan Katrina bereits konfrontiert waren. In einem Klima – in einer Welt – die jeden Tag ein wenig an Stabilität verliert, lautet die Frage nach dem nächsten erwartbaren Desaster dieser Größenordnung im Süden Louisianas lediglich wann und nicht ob.
New Orleans ist durch seine bunte, üppige kulturelle Mischung – die seine Seele ausmacht – zugleich einzigartig, aber auch mit einzigartigen Herausforderungen konfrontiert. In den letzten Jahren wurde rund um den Globus deutlich, dass sich vom Klimawandel ausgelöste Extremwetterlagen und die damit verbundenen sozialen Krisen, weltweit beschleunigen und intensivieren. Für all jene, die die Auswirkungen des Klimawandels noch nicht mit voller Wucht zu spüren bekommen haben: Die Situation im Südosten Louisianas zwingt uns einer Zukunft mit aufziehenden Desastern ins Auge zu sehen.
Die Welt, in der wir leben, wurde nach den Erfordernissen politischer und ökonomischer Macht gestaltet, nicht nach den Bedürfnissen der Menschen. Nun ist es an uns, Strategien zu implementieren, die uns für die bevorstehenden Katastrophen rüsten, um neue Welten mitten in ihnen zu errichten.
Um autonome Hilfsaktionen in und um New Orleans direkt zu unterstützen, könnt ihr an die New Orleans Mutual Aid Group und Lobelia Commons mit [der Bezahlapp] Venmo an @NolaMutualAid und @LobeliaCommons spenden.
Zerstörung und Knappheit
Die große Mehrheit der Bewohner*innen von New Orleans hat aktuell keinen Strom und erwartet nicht, dass sich dies in den nächsten Wochen ändert. Gleiches gilt für die umliegenden Gebiete, die von Ida noch härter getroffen wurden. Viele haben keinen Zugang zu sauberem Leitungswasser und es gibt Berichte, dass auch Trinkwasser in Flaschen zunehmend schwerer zu bekommen ist. Bäume sind auf Straßen und Häuser gestürzt, Dächer wurden [vom Sturm] abgedeckt.
Die Benzinvorräte sind knapp. Dies erschwert jenen, die nicht bereits vor dem Sturm die Stadt verlassen haben, es jetzt zu tun – falls sie überhaupt ein Fahrzeug haben. In einem Interview, welches wir am 31. August 2021 geführt haben, schildert uns M., ein*e Anarchist*in, der*die viele Jahre in New Orleans‘ Süden (7. Bezirk) gelebt hat, die Lage wie folgt: „Eine Tankfüllung Benzin draußen in New Orleans‘ Osten geht für 200 bis 400 USD weg. Benzin wird auf den Straßen von bewaffneten Leuten verkauft.“ M. ist vor kurzem weggezogen, um an der Infrastruktur für eine autonome regionale Lebensmittelversorgung mitzuarbeiten.
Die Regierung hat so gut wie gar nicht geholfen. „[Ihre] Vorbereitungen wirken überschaubar,“ sagte uns ein Rettungssanitäter, der lieber anonym bleiben wollte, am 31. August. Die Stadt hat vor dem Sturm nur ein Minimum an Unterkünften bereitgestellt. Jetzt versuchen sie überstürzt den Leuten Leistungen bereitzustellen und zusätzliche Unterkünfte aufzutreiben, um sie zu beherbergen – 3 Tage später. Die Krankenhäuser standen schon mit den Coronapatient*innen kurz vor dem Kollaps, aber das jetzt könnte ihre Belastungsgrenze überschreiten. Viele greifen auf die medizinische Notfallversorgung zurück, in dem Versuch, an ein wenig Komfort und ein Dach überm Kopf zu kommen.“
„Auf der anderen Seite wirkte es so,” fügte er hinzu, „als sei der Einsatz von NOPD [New Orleans Police Department] und Nationalgarde um Schaufenster – Walgreens [ein Drogeriemarkt] usw. – zu bewachen eine klare Priorität.“ Weniger als 24 Stunden nach dem Sturm hatte die Polizei Anti-Plünderungsteams im Einsatz.
Geplante Stadt, geplantes Desaster
Aus verschiedenen, miteinander verbundenen Gründen warten eine ganze Reihe von „Natur“katastrophen nur darauf, zu geschehen. Sie entspringen der Kolonialisierung, dem Kapitalismus und der Hybris, die mit dem Glauben, dass Wirtschaftskraft Naturgewalten zu übertrumpfen vermag, einhergeht.
Das heutige Südlouisiana, das gesamte Gebiet südlich von Lafayette und Baton Rouge, wurde innerhalb der letzten 7000 Jahre durch Sedimentablagerungen und Flüsse, die über ihre Ufer traten, geformt. Der Mississippi führt Milliarden Tonnen Sedimente aus dem Inneren Nordamerikas mit sich, die sich an der Mündung ablagern. Durch die Ablagerung dieser änderte sich sein Lauf häufig, sodass im Laufe der letzten paar Jahrtausende das Flussdelta entstand. Die Überflutungen jedes Frühjahr brachten neue Sedimente mit sich und lagerten neues Land an beiden Flussufern ab: natürliche Dämme. In Flussdeltas, anders als in Flusstälern, ist der Wasserspiegel üblicherweise höher als im Umland, mit der Flussböschung als natürlicher Puffer.
Das untere Mississippigebiet ist eine der am intensivsten hydrologisch entwickelten Regionen der Welt. Bulbancha – die choctawische [indigene Bevölkerungsgruppe] Bezeichnung für das Gebiet, was jetzt New Orleans genannt wird – war bereits vor der Kolonisation durch die Europäer*innen ein multilinguales indigenes Zentrum für Handel und andere Aktivitäten. Aber auf Grund der saisonalen Überflutungen gab es dort nie eine permanente Siedlung.
Die Stadt New Orleans wurde 1718 von den Französ*innen als Kolonialstützpunkt gegründet. Sie wählten diesen Ort, weil er über genügend trockenes Bauland verfügte und sie ganze sechs Meilen flussabwärts ungehindert mit ihren Kanonen auf rivalisierende Kolonialmächte schießen konnten. Dies ermöglichte die strategische Kontrolle der Flussmündung und damit des gesamten innernordamerikanischen Handels. In den 1720ern begannen sie Erddämme aufzuschütten, um das Frühjahrshochwasser in den Griff zu bekommen. Die Überflutungen kamen ihren Bestrebungen eine Stadt im europäischen Stil zu errichten in die Quere.
M. kennt sich mit der komplexen Regionalgeschichte und -gewässerkunde aus, da er einige Jahre als Ökotourguide für Louisianas Sumpfgebiete gearbeitet hat. Er machte deutlich, dass die gleichen baulichen Maßnahmen, die es der Stadt erlauben, ganzjährig als Wohnort zu dienen, mitverantwortlich sind für die zunehmende Vulnerabilität gegenüber Stürmen wie Ida.
„Vor den Eingriffen durch menschliche Technik war die Faustregel: Je näher am Pontchartrainsee, desto größer die Chancen auf moorigen oder sumpfigen Boden. Um dort Häuser auf trockenem Land bauen zu können, darf die natürliche Erde nicht so vollgesogen und sumpfig sein. Deshalb wurden eine Reihe von Pumpsystemen installiert und Kanäle gegraben, um die Sümpfe trockenzulegen. Jetzt wird jedes Mal, wenn sie zur Trockenlegung der Straßen die Pumpen anwerfen, mehr Wasser aus dem Boden gesogen.“ Das verstärkt den natürlichen Prozess des Absinkens des Bodens. Normalerweise entsteht neues Land durch Überflutungen. Weich und gesättigt mit Wasser sinkt es über die Jahre ab und wird zu Sedimentgestein komprimiert. Seit menschengemachte Dämme die Überflutungen zunächst drastisch eingeschränkt und schließlich ganz gestoppt haben, kann der Fluss kein neues Sediment mehr ablagern. Die Konsequenz ist, dass sich die Tendenz abzusinken verschärft.
„So lässt der Boden unter Gebäuden und Stadt weiter nach und erzeugt einen Schüsseleffekt an den Dammwänden des Mississippis. Und am See, der anfällig für Sturmfluten ist, steht die Flutwand der Army Corps. Die zwei Hauptquellen für Überflutungen sind der Mississippi, welcher Sturmfluten, die sie Rückstaufluten nennen, aufweist und der Pontchartrainsee, der wie gesagt anfällig ist für Sturmfluten, die über den Mississippi Sound [eine Bucht] und den Borgnesee hereinziehen.“
So lässt sich erklären, warum circa die Hälfte des Gebiets, was 1718 noch über dem Meeresspiegel lag, jetzt unter dem Meeresspiegel liegt. Leichte Überflutungen kommen in der Stadt häufig vor wegen heftigen Regenfällen und der veralteten Kanalisation.
Im Laufe des 18., 19. und 20. Jahrhunderts wurde der Hochwasserschutz intensiviert und auch geografisch ausgedehnt, insbesondere nach der Großen Mississippiflut von 1927. Nach diesen katastrophalen Schäden initiierte der Bundesstaat das Mississippi River and Tributaries Project, das „den Fluss in eine Zwangsjacke steckte“, so M..
„Prähistorisch gesehen ist der Fluss lebendig, er bewegt sich, sinkt, steigt und so weiter. Die Dämme wurden gebaut, um ihn daran zu hindern, je wieder über seine Ufer zu treten. Das ist die gefährlichste nur mögliche Option für den Fluss, da so all das Wasser, was in den Fluss strömt, ihn nicht mehr verlassen kann. Früher überschwemmte der Fluss einfach die Flussniederung. Die Sedimente lagerten sich dann dort ab. Jetzt bauen sich Sedimentschichten an den Seiten der Dämme und am Boden des Kanals auf.“
Obwohl die Bauingenieure der US-Armee den Fluss regelmäßig ausbaggern, um ihn weiter als Schiffsroute nutzen zu können, „bleibt all das Wasser innerhalb der Dämme, aber es gibt nicht genug Kanal um es aufzunehmen“, sagt M.. Selbst wenn der Klimawandel das Einzugsgebiet des Mississippis nicht jedes Jahr nasser machen würde, was er tut, „würde der Fluss jedes Jahr auf Grund der Sedimentablagerungen ansteigen. Der einzige Ausweg aus dieser Lage sind immer höhere Dämme.
In den Dekaden nach der Flut von 1927 haben die Bauingenieure der US-Armee riesige Projekte, wie die Bonnet Carre und Morganza Hochwasserüberlaufbecken, die Old River Control Structure (ORCS) [Kontrollstruktur für den alten Fluss] und den Mississippi River Gulf Outlet Canal (MRGO)[Mississippi Golf Abfluss Kanal] gebaut. Die Zucker-, Schifffahrts-, Öl-, Gas- und Petrochemieindustrien waren nicht in der Lage mit den saisonalen Ebben und Fluten, wie sie die Natur vorgibt, umzugehen. Deshalb strebten diejenigen mit politischer und wirtschaftlicher Macht danach, die Kontrolle über die mächtigste Naturgewalt des Kontinents zu erlangen.
Die Old River Control Structure, die schon als “Amerikas Achillesferse” bezeichnet wurde, befindet sich zwischen Natchez, Mississippi und Baton Rouge, Louisiana, wo der Mississippi und der Atchafalayafluss aufeinandertreffen. Sie wurde 1963 fertiggestellt, designt, um den Mississippi davon abzuhalten, hinzufließen, wo er will erklärte M.. „Bevor dieses Überlaufbecken gebaut wurde“, sagte er, „floss langsam Jahr für Jahr mehr Wasser des Mississippi in den Atchafalaya. Die Kontrollstruktur sorgt dafür, dass nur 30% des Mississippis in den Atchafalayafluss fließen und die restlichen 70% weiter den Mississippi hinabfließen.“
Falls die Old River Control Structure ausfällt, was wahrscheinlicher wird je mehr Regen aus dem oberen mittleren Westen der Klimawandel mit sich bringt, wäre eine unvorstellbare Flut die Folge.
„1973 gab es eine große Überflutung des Mississippis, die zu allerlei Problemen flussaufwärts in Louisiana geführt hat. Das war die erste Flut, die wirklich die ORCS an ihre Grenzen gebracht hat. Das Flutwasser formte Geysire, die anfingen Beton aus dem Fluttor zu reißen. Das Tor war so stark beschädigt, dass es nicht mehr repariert werden konnte und ein neues namens Hilfskontrollstruktur [Auxiliary Control Structure] angefertigt wurde. Um die 15 Meter Beton hielten den Fluss, wo er war. Falls die versagt hätten, was fast passiert wäre, dann wäre der Mississippi den Atchafalaya Fluss hinuntergeströmt und hätte eine katastrophale Flut im Atchafalayabecken ausgelöst. Alles vom Mississippi bis Morgan City wäre dezimiert worden und der Mississippi wäre nie zurück in seinen aktuellen Kanal geflossen. Von New Orleans wäre dann nur noch eine Flussmündung übrig, fast ohne Wasser im Fluss. Es wäre dann nicht mehr als Schiffskanal nutzbar und New Orleans als Stadt würde wahrscheinlich nicht mehr funktionieren, weil New Orleans und Umgebung ihr gesamtes Wasser aus dem Mississippi beziehen.“
Das alte Hilfskontrollbauwerk für den Fluss.
Während absinkende Böden und Flussüberflutungen ein immer größeres Risiko werden, verliert auch Louisiana Land, wie nie zuvor an invasive Arten. Außerdem zerschneiden Öl- und Gasindustriekanäle die Küstenlinie und geben mehr und mehr Fläche der verheerenden Wirkung der Wellen preis. Stürme nehmen zu, der Meeresspiegel steigt. Die Sümpfe und Moore an der Küste, die in der Vergangenheit durch Zypressen und Tupelobäume die Region von den schlimmsten Folgen der Hurrikanes abgeschirmt haben, sind Großteils zerstört worden. „In Jahrhunderten des Kanalbaus, der Abholzung und wegen anderer Konstruktionen, wurden die Wälder dezimiert,“ sagt M..
“Nach dem ganzen Skandal und der Armeekorps-Katastrophe während Katrina, wurden die Dämme erhöht und genauer getestet. Sie sind jetzt eher in der Lage nicht zu brechen“, so M. weiter. Der Mississippi Gulf Outlet (MRGO) ist der schlecht geplante Kanal, der dafür verantwortlich ist, dass der plötzliche Anstieg durch den Sturm Katrina direkt nach New Orleans geliefert wurde. „Er wurde für ein paar Jahre geschlossen, was notwendig war, um das Wasser, was in den Pontchartrainsee fließt, zu entsalzen. So kann sich der Wald in dem Gebiet ein wenig erholen.“ Diese Verbesserungen haben einige zu der falschen Schlussfolgerung gebracht, dass dieser fix funktioniert habe. Leider ist es für vieles ein bisschen zu spät, wie bereits oben erklärt. Das weitere Erhöhen der Dämme rund um New Orleans, obwohl es essenziell ist, um die Einwohner*innen der Stadt zu beschützen, ist nur eine provisorische Notlösung.
Eine Erdgasraffinerie nach Ida. Die Rauchfahnen aus den Schornsteinen sind leider normal.
So sehr die Einwohner*innen von New Orleans auch in dauerhafter Gefahr schweben, die Leute am Stadtrand und im Umland sind noch mehr den Naturgewalten ausgeliefert. Je weiter flussabwärts mensch schaut, desto schlimmer wird die Lage, aber flussaufwärts sieht es auch nicht gut aus: Das Gebiet des Mississippis zwischen Baton Rouge und New Orleans ist als „Krebsgasse“ bekannt. Dort stehen circa 200 Petrochemiefabriken und 25 Öl- und Gasraffinerien. Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass es dort die höchsten Krebsraten im ganzen Land gibt. Die meisten Gemeinden in diesem Gebiet sind von den Nachkommen früher versklavter Schwarzer Menschen bewohnt, viele von ihnen arbeiten in diesen Industrien. Weil es wenig andere Arbeit gibt, sind sie diesem hohen Risiko an Karzinogenen ausgesetzt.
Es ist gruselig sich auszumalen, was für ein Giftmülldesaster uns bevorstünde, wenn auch nur eine dieser Petrochemiefabriken in einem katastrophalen Sturm beschädigt würde.
Kalkuliertes Risiko – aber für wen?
Bei so viel Elend und Gefahr fragen sich Außenstehende wahrscheinlich, warum Leute weiterhin in dieser Region leben.
Erstens, wie viele in Louisiana Geboren und Aufgewachsene stolz sagen werden, ist es ihr Zuhause. Dieses flache, heiße Sumpfgebiet, mit mehr Wasser als Erde, diese köstliche Küche und einzigartige Musik, und dieser synkretistische Mix an Kulturen: mehr als 30 indigene Bevölkerungsgruppen, westafrikanische Überlebende des Sklavenhandels, Nachkommen europäischer Kolonisator*innen und Migrant*innen, regelmäßiger Austausch mit Haiti, Kuba und anderen karibischen Ländern und die neueren Zuzüge aus Vietnam, Honduras und Mexiko haben einen Ort geschaffen, der seines Gleichen auf dieser Welt sucht. Diese einmalige und pulsierende Kultur erhält die Leute dort am Leben. Und die Leute erhalten die Kultur.
Zweitens wäre es für viele Leute sehr schwierig wegzuziehen. „Mit New Orleans im Speziellen,“ sagte M., „die Leute, die das betrifft, leben in dürftigen Verhältnissen. Die Leute, die nicht wegziehen können sind Leute, die keine eigene Wohnung, kein Auto haben, die vielleicht ein historisches Trauma in Verbindung mit Hurrikan Katrina haben, oder die nicht gehen wollen.“ Hurrikan Ida hat sich so schnell zusammengebraut, dass es keine Zeit gab, die notwendigen Schritte für eine komplette und verpflichtende Evakuierung von New Orleans durchzuführen. Ein wesentlicher Teil davon ist Beförderungsmöglichkeiten zu organisieren, für diejenigen ohne private Autos. Aber auch wenn dies der Fall gewesen wäre, gab es kaum noch Evakuierungsbusse.
„Die Leute, die darunter leiden, sind typischerweise Marginalisierte, die im Kapitalismus als überschüssig betrachtet werden: Indigene, People of Color, Queere, Arme und Leute der Arbeiter*innenklasse,“ sagte M. 2005 und heute war das so. „Dieses Desaster rückt bereits vorher bestehenden Zustände in unser Sichtfeld. Leute haben das schon tausend Mal über die Pandemie gesagt, aber der Hurrikan macht sie erst recht sichtbar. Die Leute achten jetzt auf die Elektrizität. Aber es gibt Leute in meiner Nachbarschaft, die mal mit mal ohne Strom und Wasser schon viele Jahre gelebt haben. Wenn der Strom in New Orleans zurückkommt, kommt er nicht für alle zurück. Wie können wir den Staat davon abhalten die Bedingungen für seine Rückkehr zu diktieren?“
Ohne Strom ist das Französische Viertel wie leergefegt.
Seit es in Kolonialbesitz kam, war Südostlouisiana ein strategisch wichtiger, unverzichtbarer Ort – aber gleichzeitig auch ein Ort brutaler Tode und harter Exklusion. Die Französ*innen vertrieben die indigene Bevölkerung, zettelten Kolonialkriege gegen sie an und hetzten verschiedene Völker gegeneinander auf. Sie versklavten tausende, vor allem aus der Senegambia Region Afrikas. Die ersten Kolonialisator*innen, die aus der Unterschicht Europas rekrutiert wurden, starben in hohen Zahlen an Seuchen. Die Stadt war ständig überflutet und konnte nicht verlässlich trockengelegt werden, was zu Problemen der öffentlichen Hygiene führte, die bis heute andauern.
Als versklavte Afrikaner*innen nach Europa gebracht wurden, starben auch sie in großer Zahl, viele, bevor sie den Auktionsblock erreichten. Nach erfolglosen Versuchen, mit Indigo und Tabak Geld zu verdienen, wurde die Klasse der Sklavenhlater*innen in den späten 1700er Jahren mit Zuckerrohr reich. Die Versklavten in dieser Region hatten die höchste Sterblichkeitsrate aller Versklavten in den Vereinigten Staaten zu verzeichnen, da sie bei der Zuckerrohrernte die brutale Hitze Louisianas ertragen mussten. Im Jahr 1811 erhoben sich etwa 500 versklavte Afrikaner*innen zum größten Sklavenaufstand in der Geschichte der USA. Sie marschierten von den Plantagen flussaufwärts nach New Orleans, töteten zwei weiße Männer und verwüsteten die Plantagen entlang ihres Weges. Unterstützt von Bundestruppen schlug die örtliche Miliz den Aufstand gewaltsam nieder.
Heute werden die Städte flussaufwärts von New Orleans von den Nachkommen der Menschen bewohnt, die hier als Sklav*innen gearbeitet haben. Sie arbeiten in den Raffinerien und Chemiefabriken, die die Zuckerrohrplantagen überholt, aber nicht vollständig ersetzt haben. Getreide- und Containerschiffe haben die Flachboote auf dem Mississippi ersetzt, die in den 1800er Jahren den größten Teil des Binnenhandels abwickelten. „Etwa 60 % des gesamten für den Export bestimmten US-Getreides wird über den Mississippi transportiert“, erklärte uns M. „Sollte das aus irgendeinem Grund aufhören, hätte das enorme Folgen sowohl für die US- als auch für die Weltwirtschaft.“
Louisiana hat die höchste Pro-Kopf-Gefängnispopulation der Welt. Gefangene werden immer noch routinemäßig zu harter Arbeit in einer Einrichtung verurteilt, die nahtlos von einer Sklavenplantage in ein Gefängnis überging. Das Erbe der Sklaverei besteht fort: Für viele ländliche Gemeinden in Louisiana ist das Gefängnis der wichtigste Wirtschaftszweig. In vielerlei Hinsicht ist der Staat immer noch eine Sklavenkolonie innerhalb des Strafvollzugssystems der Vereinigten Staaten.
Gelbfieberepidemien, die zuerst durch den Sklav*innenhandel in die Region gebracht wurden, töteten hier im 19. Jahrhundert 40.000 Menschen. Dieselbe Stadt erlebt nun die vierte Coronawelle, die das unterfinanzierte medizinische System in den Abgrund treibt. Gleichzeitig haben Hunderttausende Menschen nach Hurrikan Ida in der brütenden Hitze des Sommers den Zugang zu Strom und Trinkwasser verloren.
Strukturell hat sich in der Region hinsichtlich der Frage, wer leidet und wer profitiert, wenig geändert. Die derzeitige Situation stellt eine modernisierte Version jahrhundertealter Ungerechtigkeiten dar.
Die Tatsache, dass Katastrophen die am stärksten Marginalisierten unverhältnismäßig stark treffen, wurde bereits mehrfach nachgewiesen. Dies ist jedoch nicht eine Frage der Notwendigkeit einer besseren staatlichen Politik. Katastrophen wie diese sind nicht nur das Ergebnis von Inkompetenz oder mangelnder technokratischer Planung; sie sind das unvermeidliche Ergebnis von Prozessen, die die Entscheidungsmacht in den Händen einiger weniger konzentrieren und diese dafür belohnen, dass sie sich nicht um die Folgen für andere kümmern. Wir leben in einer Gesellschaft der ständigen Katastrophen, und zwar nicht so sehr, weil das Leben außerhalb der Komfortzone, die durch staatliche Macht und kapitalistische Technologie gesichert ist, scheußlich, brutal und kurz ist, sondern weil die Prioritäten, die die Entwicklung und Anwendung dieser Macht und dieser Technologien vorantreiben, sehr wenig damit zu tun haben, das Leben für die meisten Menschen nachhaltig zu gestalten.
In New Orleans – wie auch anderswo auf der Welt – diktiert der Profitimperativ, der das transnationale Öl-, Chemie- und Schifffahrtskapital leitet, was vor schlimmeren Stürmen geschützt wird, wie dieser kurzfristige Schutz umgesetzt wird und wer vom Schutz ausgeschlossen wird. Für diejenigen, die dieses Kapital kontrollieren, gibt es kaum Anreize, sich um die Menschen oder die Kultur von New Orleans zu kümmern. Selbst Angehörige der lokalen wohlhabenden Schicht, die rechtzeitig vor einem Sturm abreisen können und dies auch tun und die nach Katrina einen unverhältnismäßig großen Anteil der Hilfsgelder für den Sturm erhalten haben, sind in den eiskalten Kalkulationen der milliardenschweren Unternehmen bestenfalls eine Randnotiz. Die Armen spielen nicht einmal eine Rolle – und je weiter man sich flussabwärts von New Orleans bewegt, desto mehr Menschen sind sich selbst überlassen, um sich zu verteidigen.
Wenn wir uns also nicht auf die Systeme verlassen können, die Energie verwalten und verteilen, was können wir dann selbst tun?
Aktiv werden im Desasterzeitalter
Extreme Wettereignisse gepaart mit anderen Krisen sind mittlerweile so alltäglich, dass sie die Möglichkeiten der Medien, über sie zu berichten, überstrapazieren und sich Compassion Fatigue [Mitgefühlsermüdung] eingestellt hat. Bevor die Schäden eines Hurrikans, einer Flut oder eines Feuers überhaupt erfasst werden konnten, drehen sich die Nachrichten schon um die nächste Katastrophe. Gleichzeitig läuft das Leben der Betroffenen nur langsam wieder an, während sie versuchen die Scherben ihrer Existenz wieder zusammenzusetzen. Vielen Menschen überall auf der Welt fällt es mittlerweile schwer, sich ein Leben ohne ständige Krisen vorzustellen. In den kommenden Jahren werden diese Krisen immer mehr von uns betreffen.
Es ist falsch zu glauben, dass der Staat im Falle einer „ausreichend schlimmen“ Wirtschaftskrise gezwungen sei, Hilfe zu organisieren. Aus kapitalistischer Perspektive sind ungleich verteilte Risiken und ihre Folgen schon immer essenziell für den Markt. In einer Kolonialgesellschaft wie den USA ist es für Menschen aller Klassen selbstverständlich, dass es zu Todesfällen kommen wird. Jeder Ansatz, der in der kapitalistischen Logik verbleibt, wird nur symptomatische Lösungen hervorbringen, wobei das Problem ein systemisches ist.
Das hat zwei Auswirkungen auf die Graswurzelantwort auf den katastrophalen Klimawandel. Erstens: Der Kampf gegen den Kapitalismus und seine Prämissen ist ein essenzieller Bestandteil der Katastrophenhilfe. Um uns selbst und andere zu schützen, müssen wir gegen politische und wirtschaftliche Systeme die Bedingungen hervorbringen, die Desaster unvermeidbar machen, ankämpfen. Zweitens: Während wir uns organisieren, um diesen Krisen entgegenzutreten, dürfen wir nicht die autoritären Strukturen reproduzieren oder nutzen, die diese Probleme überhaupt erst hervorgebracht haben.
Zurückblickend auf die Nachwirkungen von Hurrikan Katrina wird deutlich, dass der Staat und der Nonprofitsektor die Dinge häufig eher verschlimmern als verbessern. Die Landesregierung hat fast nichts für die Armen von New Orleans getan, während sie die Stadt militärisch besetzt und schamlos Gelder zweckentfremdet hat. Hinterher haben dann Bauunternehmer*innen die Gunst der Stunde genutzt, um Menschen zu verdrängen und die Gentrifizierung zu beschleunigen. Viele, die diese Nachwirkungen miterlebt haben, empfinden jetzt tiefes Misstrauen gegenüber dem Staat.
In der Hoffnung über das Versagen des Staates und des Nonprofitsektors hinauszuwachsen, haben sich viele Leute Graswurzelmodellen zugewandt. Die Pandemie und das Klimadesaster der letzten Jahre lösten eine Explosion an Mutual Aid Gruppen überall in den USA aus. „Mutual Aid,” ein anarchistisches Schlagwort seit über einem Jahrhundert und ein Konzept des logischen Menschenverstands, was von unzähligen Millionen bereits viel länger praktiziert wurde, ist nun zum Modewort geworden. Die Idee ist simpel: Leute helfen einander, alle profitieren davon. Leider haben einige angefangen, genau dieses Etikett zu nutzen, um genau die Art von Wohltätigkeitskonzept gepaart mit politischer Macht zu beschreiben, zu der Mutual Aid ursprünglich eine Alternative liefern wollte. Die tatsächlichen Unterschiede an Macht und Zugang zu Ressourcen zwischen Leuten, die mit einem ähnlichen Ziel oder in ähnlichen Umständen agieren, kann sehr herausfordernd sein. Besonders wenn das Ziel ist, genuin horizontale Beziehungen zu erzeugen.
M. sprach darüber, wie vorhergehende Graswurzelsolidaritätsbemühungen verbessert werden könnten. In einigen Fällen „ist die Beziehung so sehr auf Abhängigkeit gegründet, dass wenn der*die Aktivist*in weggeht, die Empfangenden der Mutual Aid daran leiden. Das ist etwas, was sich in jedem Krisengebiet, wo ich war, wiederholt hat.“
„Statt das zu tun, fragen wir: Wie können unsere Fähigkeiten, unser Zugang zu Ressourcen und die Infrastruktur, an der wir langsam gearbeitet haben, genutzt werden, ohne dass alles an uns persönlich hängt und ohne dass die Aktivist*innenrolle oder irgendeine Art von Spezialisierung notwendig wäre? Wie können wir die Schlüssel zu dieser Art von Zugang loswerden? Das ist gleichzeitig praktischer und mehr im Einklang mit unseren Werten.“
Zu Beginn der Pandemie oder noch früher haben Leute in New Orleans verschiedene politische Mutual Aid Gruppen gegründet, unter anderem New Orleans Mutual Aid Group (NOMAG), New Orleans Mutual Aid Society (NOMAS), und Southern Solidarity. Sie alle verteilen Lebensmittel und andere Ressourcen. Am ersten Tag nach dem Sturm hat NOMAG hunderte Gallonen kostenlosen Treibstoff verteilt, eine nicht ungefährliche Maßnahme in dieser hoffnungslosen Lage.
Neben diesen offen politischen Bemühungen gab es auch unzählige Solidaritäts- und Widerstandsaktionen, die weniger erkennbar und öffentlichkeitswirksam waren. Von Hause aus sind diese weniger leicht zu erfassen, aber solche Formen sich zu organisieren sind unter Umständen genauso effektiv und nachhaltig, wie viele der sichtbareren, politisierten Gesten. Leute grillen non-stop, um ihre Nachbar*innen zu versorgen, sie flicken Dächer und helfen einander ihre Häuser zu reparieren. Anarchist*innen sind bei diesen Aktivitäten genauso engagiert dabei, wie bei Aktionen unter klaren politischem Vorzeichen.
Die Lobelia Commons arbeiten daran, ein Netzwerk aufzubauen das langfristig Lebensmittelautonomie in der Region herstellt. Darunter fallen auch autonome Lieferketten, die Lebensmittel und andere Notwendigkeiten in die Nachbarschaftsküchen bringen können, selbst im Angesicht von Störungen wie Hurrikan Ida.
Einige Leute greifen auf konfrontativere Ansätze zurück. Als logische Reaktion auf die Situation „begannen Plünderungen bereits, als der Wind von Ida nachließ,“ berichtet M. „New Orleans war kein Zentrum der Aufstände, die im letzten Jahr durch den Rest des Landes gefegt sind. Mit Hinblick auf die Coronakrise und den allgemeinen Stand der Armut in New Orleans, war das die erste Möglichkeit nach Luft zu schnappen. Es hat sich viel Energie angestaut und unmittelbare Bedürfnisse, die sich in Zukunft garantiert entladen werden.“ Während New Orleans von tragischer horizontaler Gewalt überschwemmt wird, die zu eher negativen Haltungen gegenüber allem, was als „Kriminalität“ bezeichnet werden könnte, führt, ist es wichtig zwischen den verschiedenen Formen von Aktivitäten, die manchmal unter diesem Etikett zusammengewürfelt werden, zu unterscheiden. Plündern ist häufig ein einfacher und sinnvoller Akt der Umverteilung, in einer Gesellschaft, die massive Zahlen an armen Leuten hat, die selbst von elementarer Grundversorgung abgeschnitten sind. Es lässt sich sogar noch leichter rechtfertigen in Situationen wie dieser.
In dieser Ära der Desaster ist eine der schwierigsten Aufgaben über das Reagieren auf eine Krise nach der anderen hinauszuwachsen, um ambitionierter für eine unsichere Zukunft zu planen. Schon allein ersteres ist überfordernd und es wird nicht leichter. Aber selbst mitten im Chaos wissen wir, dass die Beziehungen, Fähigkeiten und neuen oder zeitlosen Arten zu denken, die entstehen, wenn das alltägliche Leben unterbrochen wird, von Dauer und transformativ sein können. Die Mächtigen können uns nicht die Bedingungen der Rückkehr zur Normalität diktieren. Es wird keine Rückkehr zur Normalität geben, selbst wenn wir eine wollen. Die Ansage ist Unsicherheit von jetzt an.
Wir werden kreative Möglichkeiten ersinnen müssen, um zu überleben und um es uns gut gehen zu lassen in dieser unvorhersehbaren Welt. Dafür können wir uns an vielen Vorbildern der Gegenwart und Vergangenheit orientieren: An Leuten, die auf resiliente Weise gelebt und sich auf stets neue Art, den wechselhaften natürlichen Mustern angepasst haben. Was jetzt New Orleans heißt, wurde schon immer Bulbancha, „Das Land der vielen Zungen“ in Choctaw genannt. Ein Hinweis auf die Vielzahl an Sprachen, die sich in dieser turbulenten Region begegneten und auf die saisonalen Unterschiede. Indigene Kulturen überall auf der Welt, die vom Klimawandel und von anderen kolonial erzwungenen Tragödien gefährdet sind, zeigen Möglichkeiten auf, wie wir von diesen hausgemachten Desastern zu holistischeren Beziehungen aufbrechen können.