“Die Vorstellung, dass ein Verständnis des Genozids, eine Erinnerung an die Holocauste, Menschen nur dazu bringen kann, das System niederzureißen, ist irrtümlich. Der anhaltende Reiz des Nationalismus legt nahe, dass das Gegenteil wahrer ist, nämlich dass ein Verständnis der Genozide Menschen dazu gebracht hat genozidale Armeen zu mobilisieren, dass die Erinnerung an Holocauste Menschen dazu gebracht hat Holocauste zu begehen. Die sensiblen Dichter:innen, die sich der Verluste erinnerten, die Forscher:innen, die diese dokumentiert haben, sind wie die reinen Wissenschaftler:innen gewesen, die die Struktur des Atoms entdeckt haben. Angewandte Wissenschaftler:innen verwendeten die Entdeckung, wie mensch den Atomkern spaltet, dazu Waffen zu produzieren, die jeden Atomkern spalten konnten; Nationalist:innen verwendeten die Poesie, um menschliche Bevölkerungen zu spalten und zu fusionieren, genozidale Armeen zu mobilisieren, neue Holocauste zu begehen.”
-Fredy Perlman, Der anhaltende Reiz des Nationalismus
Als ich in den 1990er Jahren die Post für das von mir herausgegebene Zine beantwortete, fiel mir auf, dass Deutsche — sogar deutsche Anarchist:innen — seltsam reagierten, wenn der Konflikt zwischen Israel und Palästina zur Sprache kam. Jedes Mal, wenn in meinem Zine etwas zu diesem Thema erschien, bekam ich einen langen Brief von einer wütenden deutschen Person, der mich des palästinensischen Nationalismus oder sogar des grenzwertigen Antisemitismus beschuldigte. Ich habe nie einen solchen Brief von Bürger:innen einer anderen Nation erhalten, obwohl das Zine bis nach Israel verbreitet wurde, und auch nicht von einem:r jüdischen Leser:in, egal welcher Nationalität. Aus meiner Sicht waren die Positionen im Zine zu diesem Thema nicht besonders kontrovers: Wie die meisten anderen in der anarchistischen Gemeinschaft beklagte ich die Gewalt und den Rassismus des israelischen Militärs und der zionistischen Siedlerbewegung, blieb aber misstrauisch gegenüber denen, die aus der meiner Meinung nach verständlichen palästinensischen Verzweiflung Kapital schlagen wollten. Damals interpretierte ich diese Briefe als nichts weiter als ein übereifriges Bemühen einiger deutschen Person, in Fragen, die jüdische Menschen betreffen, sensibel zu sein.
Im vergangenen Herbst kehrte ich zum ersten Mal seit einigen Jahren nach Europa zurück. Während meiner Reisen entdeckte ich, dass das, was wie ein kleiner blinder Fleck im deutschen radikalen Milieu aussah, sich zu einer Denkrichtung entwickelt hatte, die ich für wirklich problematisch hielt: die “Antideutsche Kritik”, ein reaktionärer Nationalismus, der sich als radikaler Antinationalismus ausgibt. Für die Anhänger:innen dieser Ideologie ist es nicht wichtig, sich gegen Kapitalismus, Rassismus und Hierarchie überall zu stellen, sondern sich speziell gegen Deutschland und Antisemitismus zu wenden, sogar bis hin zur Unterstützung anderer kapitalistischer Nationen und anderer Formen des Rassismus.1 Da Revolutionen nicht zu erwarten sind, begnügen sich antideutsche Antifaschist:innen damit, die gegenwärtige Regierung Israels trotz aller Ungerechtigkeiten, die sie begeht, wegen der Ungerechtigkeiten, die ihre Gegner begehen, zu unterstützen.
Zunächst stieß ich nur auf Andeutungen davon. Als ich das riesige Stiegenhaus des EKH, Wiens langjährigem besetzten Sozialzentrum, hinaufstieg, stieß ich auf eine kleine, an die Wand gekritzelte Aufforderung: “Zionismus unterstützen”. Das ist seltsam, dachte ich mir: hier, in einer anarchistischen Hochburg, ein Graffiti, das die Leute dazu auffordert, sich für eine Sache zu engagieren, die bereits mehr Unterstützung von den Vereinigten Staaten erhält als jede andere Regierung der Welt und die für die Vertreibung und Unterdrückung einer ganzen Bevölkerungsgruppe von PoC verantwortlich ist. In der zeitlosen Tradition der Edding tragenden Hausbesetzer:innen fügte ich eine eigene kleine Botschaft hinzu: “Nieder mit allen -ismen/ — unterstützt Menschen, nicht Nationen”.
In der folgenden Woche wohnte ich in einem sozialen Zentrum in Dresden. Zu den anderen Bewohnern des Hauses gehörten zwei Israelis, die — wie viele junge Israelis, die ich bei früheren Besuchen in Europa kennengelernt hatte2 — den Kontinent bereisten, um der Wehrpflicht zu entgehen, die Israelis zum Militärdienst zwingt. Mit einem von ihnen kam ich ins Gespräch über Politik. Er lehnte es ab, zum israelisch-palästinensischen Konflikt Stellung zu nehmen — eine bewundernswerte Haltung für einen Menschen, der aus einer so komplizierten Situation kommt und der lieber ins Exil gegangen war, als zu riskieren, für eine Sache zu töten oder zu sterben, an die er nicht glaubte.
Andere in Deutschland hatten seine Entscheidung jedoch nicht respektiert. Als herauskam, dass er sich dem Militärdienst entzog, war ein anderer Mitreisender — ein deutscher Nichtjude, der sich ansonsten für revolutionäre Politik einsetzte — empört: “Du willst also nicht dienen, um dein Volk zu schützen? Du Feigling!”
Kaum zwei Tage später, bei einer antifaschistischen Aktion in Leipzig, hatte ich meine erste Begegnung mit Antideutschen. Ich erspare dir die Einzelheiten meiner Teilnahme an der Veranstaltung — es genügt zu sagen, dass meine Freund:innen und ich stundenlang umherwanderten und auf fotokopierte Landkarten schauten, gefolgt von ein paar aufregenden Minuten, in denen wir von der Bereitschaftspolizei durch abgesperrte Straßen und über Stacheldrahtzäune verfolgt wurden, und schließlich wurde der geplante faschistische Aufmarsch vereitelt. Nach einer Reise durch Süd- und Osteuropa, wo der Faschismus immer mehr an Macht gewinnt, war es eine echte Erleichterung, zu sehen, dass er irgendwo in Schach gehalten wird. Weniger ermutigend war es jedoch, zu sehen, wie US-amerikanische, israelische und britische Fahnen am Ausgangspunkt eines antifaschistischen Marsches abgeladen wurden.
Ich ging sofort zu den jungen Männern hin, die sie ausluden. Mein deutscher Freund hatte mir geraten, meine Zeit nicht zu verschwenden, aber ich war neugierig, ob sie mir zuhören würden oder nicht, und wollte wissen, was sie zu sagen hatten.
“Was machst du mit dieser Fahne?” Ich deutete auf die Sterne und Streifen, die ein junger Mann aus dem LKW gezogen hatte.
“Wir werden damit marschieren.”
“Ich komme aus den Vereinigten Staaten”, begann ich, “und ich kann verdammt noch mal nicht glauben, dass du bei dieser Kundgebung mit einer US-Fahne marschierst. Weißt du nicht, was diese Fahne bedeutet?”
“Aber hier ist es anders! Hier ist diese Fahne ein Symbol des antifaschistischen Kampfes.”
“Höre mal. Überall auf der Welt steht diese Fahen für die gleichen Dinge: Hollywood, Coca-Cola, die absolute Macht des kapitalistischen Marktes. Was hat das mit Freiheit zu tun?”
Seine Antwort war fast klagend. “Aber Großbritannien und die Vereinigten Staaten haben die deutsche Regierung geschlagen! Sie waren die Einzigen, die das tun konnten. Wir tragen ihre Fahnen, um uns daran zu erinnern.”
“Sie führten diesen Krieg mit ihren Armeen, die in schwarze und weiße Divisionen getrennt waren, und mit japanischen Bürger:inne in Internierungslagern! Sie kämpften nicht für die Freiheit, sondern für ihre eigene nationale Macht — genau wie in den völkermörderischen Kriegen gegen die amerikanischen Ureinwohner! Diese Fahne ist mit dem Blut von Millionen von Menschen befleckt!”
“Aber sie waren die Einzigen, die die Nazis hier aufhalten konnten”, wiederholte er fast verlegen. Ich hatte mich nicht als besonders leidenschaftlicher Antideutscher erwischt.
“Dieser Krieg wurde nur geführt, weil die Menschen bereit waren, unter Fahnen zu marschieren, und wir hätten ihn auch ohne Fahnen gewinnen können, wenn Leute wie du nicht auf sie bestanden hätten. Wenn ihr mit dieser Fahne marschieren wollt, bin ich nicht dabei, und jede:r Antifaschist:in in den USA würde das Gleiche tun.” Ich ging weg, um meine eigene Route zu finden, um die Faschos zu blockieren — daher die verrückte Verfolgungsszene mit dem Stacheldrahtzaun.
In dieser Nacht, mit einem neuen Hinken, das wochenlang andauert, übernachtete ich in einem besetzten Haus in Erfurt. Hier war jemand zu allen Plakaten gegangen, auf denen “Antifaschist” stand, und hatte “Faschist” geschwärzt und durch “Deutsch” ersetzt. Was sind das für Leute, die meinen, es sei wichtiger, sich gegen Deutschland zu stellen als gegen den Faschismus?
Erst in Hamburg, meinem letzten Halt in Deutschland, hatte ich die Gelegenheit, mit einem echten Antideutschen zu diskutieren, die ich mir gewünscht hatte. Es war jemand, den ich kannte: In den 90er Jahren hatte er meine alte Punkrockband in einem sozialen Zentrum in Deutschland gebucht. Er war jetzt dünner, hatte eine hochmütigere, intellektuellere Ausstrahlung und trug einen sehr dünnen Schnurrbart.
“Ja”, sagte er, “aber deine neue Band ist…nicht so gut, oder?” Er nickte mir zu und zog die Augenbrauen hoch.
“Wir sind eine neue Band”, antwortete ich spielerisch. “Wir haben gerade neue Instrumente gelernt. Ich hoffe, dass wir uns mit der Zeit verbessern werden. Aber ja, im Moment sind wir vielleicht nicht so gut.”
“Deine letzte Band” — er machte eine dramatische Pause — “wurde mit der Zeit nicht besser, glaube ich. Ich habe euch am Anfang eurer letzten Tournee gesehen, und dann am Ende. Erinnerst du dich?”
“Ja, natürlich. Ich stimme zu.” Bescheidenheit ist der bessere Teil der Berühmtheit, wenn mensch in Punk-Kreisen eine Stunde überleben will.
“Weißt du”, sagte er, lehnte den Kopf zurück und blickte in die Ferne, “ich glaube, als ich anfing, das Interesse zu verlieren, war das, als die Platte mit dem Lied über die Intifada herauskam.”3
“Aha!” rief ich aus und schlug praktisch mit der Faust auf den allgegenwärtigen Kickertisch — ein Spiel, das in Deutschland sehr beliebt ist, und der Himmel helfe jedem Ausländer, der es mit einem noch so betrunkenen einheimischen Spieler aufnimmt. “Ein Antideutscher! Darauf habe ich schon gewartet! Kommen wir zur Sache.”
“Ja, ich denke, es gibt vieles, wo wir uns nicht einig sind! Aber vielleicht gibt es auch gar keinen Grund, darüber zu reden.” Er warf mir einen Seitenblick zu. “Du hast zum Beispiel gesagt, du lebst in den Wäldern — du bist gegen Technik und Zivilisation, ja? Aber wir sind der Meinung, dass Technologie einfach etwas ist, das funktioniert. Sie breitet sich aus, weil sie funktioniert.”
Jetzt hatte er meine volle Aufmerksamkeit. “Und andere Völker, die weniger, sagen wir mal, fortschrittlich sind?”
“Ah, ich verstehe, was du meintest. Ja, manche mögen sagen, dass dies eine westlich geprägte Sichtweise ist. Aber die Menschen auf der ganzen Welt nehmen diesen Lebensstil so schnell wie möglich an.”
“Aber mensch kann wirklich nicht behaupten, dass alles, was sich ausbreitet, etwas Gutes ist. Weißt du, eine Seuche verbreitet sich auch. Eine Seuche breitet sich aus, weil sie funktioniert! Außerdem bin ich nicht gegen jede Technologie — nur gegen Technologien, die Hierarchien fördern oder unsere Lebenserfahrung verwässern. Außerdem, wenn jeder so leben würde wie die Menschen in Deutschland und den USA, wäre der Planet in einer Generation zerstört.”
“Eine Seuche breitet sich aus, weil sie funktioniert”, wiederholte er und nickte in Anerkennung meiner klugen Erwiderung mit skeptischen Augen.
Später erfuhr ich bei meinen Nachforschungen über antideutsches Gedankengut, dass einige antideutsche Autor:innen die Weltgeschichte tatsächlich in Begriffen des zivilisatorischen Fortschritts (d. h. der westlichen Zivilisation) betrachten, was bedeutet, dass andere Kulturen primitiv sind. Dies ist eine altmodische marxistische Analyse, in der die kapitalistische Technokratie ein Stadium der menschlichen Evolution ist, das auf dem Weg zur kommunistischen Utopie durchschritten werden muss; dies war die Ausrede der Bolschewiki und Maoist:innen, um Millionen von Menschen zu zwingen, ihre traditionelle Lebensweise aufzugeben, um sich der Maschinerie des industriellen Kommunismus anzuschließen. “Es gibt etwas Schlimmeres als den Kapitalismus und die bürgerliche Gesellschaft: ihre barbarische Abschaffung”, schreibt ein Antideutscher, und er macht deutlich, dass er damit sowohl den arabischen Nationalismus als auch den deutschen Faschismus meint. Diese Denkweise macht es leicht, Israel und die Vereinigten Staaten als die Flaggschiffe der Kultur und des Fortschritts darzustellen und diese dreckigen Araber als die Wilden, an die die Fackel der nazistischen Irrationalität und Brutalität weitergereicht wurde.
Aber kehren wir zurück zu dem Gespräch in Hamburg. “Aber wozu dienen die US-Fahnen bei den Demonstrationen?” fragte ich.
“Sie sind ein Scherz, um die Leute zu ärgern”, erklärte er. “Es gibt bestimmte Leute, die mensch mit diesen Fahnen verärgern will. Weißt du, in Deutschland nutzen die Rechten die ganze antiamerikanische Sache für ihre Zwecke aus.”
“Aber ist es nicht total reaktionär, sie zu tragen, nur weil sie die Feinde ärgert? Heißt das, dass mensch die Flagge einer so zerstörerischen, unterdrückerischen Nation umarmen muss?”
Wie ich später in meinen Studien herausfand, hätte er mir, wenn er ein echter Antideutscher gewesen wäre, erklärt, dass die USA Israel mit Geld und Waffen versorgen, um den gesamten Nahen Osten in Schach zu halten und mit den Palästinenser:innen zu machen, was sie wollen, und dass Israel daher überhaupt keine zerstörerische Nation ist, sondern der wichtigste Beschützer des Friedens. Stattdessen entschied er sich für einen versöhnlicheren Ansatz: “Das ist eine deutsche Sache, speziell in unserem deutschen Kontext. Hier, wo der Holocaust stattgefunden hat, ist es unsere wichtigste Aufgabe, die deutsche Macht zu bekämpfen, und dafür sind die Fahnen gut.”
Ich habe eine Minute nachgedacht. “Ist es nicht sehr deutsch zu behaupten, dass mensch im deutschen Kontext eine besondere, privilegierte Perspektive hat, die Handlungen rechtfertigt, die nirgendwo sonst Sinn machen?”
Wie ihr Name schon andeutet, verwenden die Antideutschen viel Energie darauf, den besonderen Status des deutschen Nationalstaates als ein Übel zu begründen, das schrecklicher ist als jedes andere. Dementsprechend begann mein Begleiter mit einer Erklärung, warum der Holocaust in Deutschland stattfand, warum er nur in Deutschland geschehen konnte und warum er schlimmer war als jede andere Gräueltat in der Geschichte. Die Tatsache, dass der deutsche Staat das schrecklichste aller Verbrechen begangen hat, verleiht seinen Bürger:innen besondere Rechte und eine besondere Beobachtungsgabe: Da sie den Antisemitismus besser kennen als jeder andere, können sie deutlicher als andere erkennen, dass er immer noch die größte Gefahr für die Welt darstellt.
Ich konnte seiner Argumentation allerdings nicht so weit folgen, da ich immer noch schockiert darüber war, dass er die rassistische Unterdrückung und das Abschlachten anderer abtat. “Warte mal, was ist mit der Ausrottung der amerikanischen Ureinwohner?”
“Das war etwas anderes: Es handelte sich lediglich um einen Konflikt um Land und Ressourcen, der beendet wurde, als die letzten Indianer:innen kapitulierten. Die Jüd:innen waren gesetzestreue deutsche Bürger:innen und wurden aus rein rassistischen, ideologischen Gründen ausgesondert. Sie werden wahrscheinlich sagen, dass neben den Jüd:innen noch andere Menschen in den Vernichtungslagern waren; aber die Jüd:innen waren die eigentlichen Ziele der Shoah.”
“Natürlich haben die Jüd:innen heute die Möglichkeit, über ihre Erfahrungen in den Todeslagern zu sprechen, während die Roma und Romnja, die immer noch überall unterdrückt und enteignet werden, kein Gehör finden.”
“Glaubst du nicht, dass diese Art von Rhetorik ein wenig antisemitisch ist, so wie die Behauptung, es gäbe eine weltweite jüdische Verschwörung?”
“Es ist sehr bequem für einen Nichtjuden wie dich, jeden, der anderer Meinung ist, als antisemitisch zu bezeichnen! Du wirst dich erinnern, dass das letzte Mal, als ich mit einer Band hier war, die über Israel und Palästina sprach, die Hälfte von uns jüdisch war. Wie auch immer, was ist mit meiner Frage von vorhin? Ist es nicht nationalistisch, die deutsche Kultur als einen eigenständigen Kontext zu betrachten, der sich vom internationalen Kontext abhebt? Was ist eigentlich aus ‘no borders, no nations’ geworden?”
Er antwortete mir mit einem Satz, der für mich alles zusammenfasste: “Aber das berücksichtigt nicht unsere besondere Situation. Hier sagen wir: ‘Zerstört alle Staaten, aber Israel zuletzt’.”
Mit dieser Formulierung stoßen wir auf den zentralen Irrtum der pro-zionistischen Position: die Vorstellung, dass Nationen ihre Bürger:innen schützen. Dies ist ein grundlegendes Missverständnis der Funktionsweise staatlicher Macht. Jede Regierung argumentiert gegenüber ihren Bürger:innen, dass sie existiert, um sie vor anderen Regierungen zu schützen; aber wenn Nationen kämpfen, sterben nicht die Regierenden, sondern ihre Bürger:innen. Seit der Gründung Israels im Jahr 1948 sind Tausende und Abertausende von Israelis gestorben. Ehemalige Terrorist:innen wie Schamir und Scharon sind auf einer Welle der Angst an die Macht gekommen und haben ihren Wählern versichert, dass, wenn irgendjemand leiden muss, es die Araber:innen sein werden — aber ihre Politik hat weiterhin zum Verlust israelischer Leben geführt, während sie an Altersschwäche sterben.4
Im Vergleich zu den bereits erwähnten Roma und Romnja, die immer noch in ganz Europa verfolgt werden, könnte mensch sogar sagen, dass die Israelis es noch schlechter haben: Dank Milliarden und Milliarden von Dollar aus den Vereinigten Staaten sind sie in der Lage, einen künstlich hohen Lebensstandard aufrechtzuerhalten, aber jeden Moment kann ein:e Selbstmordattentäter:in sie oder ihre Angehörigen töten. Mensch muss sich fragen, ob die meisten Roma und Romnja, wenn sie die Möglichkeit hätten, Macht und Luxus unter dem Damoklesschwert ihrer derzeitigen Situation vorziehen würden. Wären sie irgendwie vom Schicksal dazu auserwählt worden, ein Volk aus seiner Heimat zu vertreiben und seit einem halben Jahrhundert einen von den USA finanzierten Krieg gegen ihre Nachbarn zu führen, wären die Ergebnisse sicherlich ähnlich.
Beide Schicksale sind natürlich nicht wünschenswert. Wären die Jüd:innen heute in der gleichen Situation wie die Roma und Romnja, wäre das ebenfalls eine schreckliche Tragödie. Aber wir sollten uns nicht vorstellen, dass dies die einzigen beiden Möglichkeiten für die Überlebenden des Holocaust sind. Ein solcher Mangel an Vorstellungskraft, der alle Fragen darauf reduziert, sich für das kleinere Übel zu entscheiden, ist der Grund für alle Unwegsamkeiten, mit denen wir heute in der Welt konfrontiert sind. Es ist derselbe Mangel an Vorstellungskraft, der die Menschen dazu gebracht hat, sich um Kerry gegen Bush zu mobilisieren, anstatt sich gegen die US-Regierung selbst zu stellen. Es ist derselbe Mangel an Vorstellungskraft, der die Antideutschen dazu veranlasst, sich auf die Seite des Staates Israel gegen seine Feinde zu stellen, anstatt sich mit uns gegen Nationalismus und Feindschaft zu stellen.
Natürlich wurden die Jüd:innen, die in den letzten sechs Jahrzehnten weltweit ermordet wurden, von Antisemit:innen umgebracht. Der Antisemitismus hat unter den Araber:inne eine Blütezeit erlebt; dies wird von den Antideutschen, die den arabischen Nationalismus auf frühe Verbindungen zwischen bestimmten Araber:innen und deutschen Nazis zurückführen, besonders hervorgehoben. Diese wenigen Verbindungen wären jedoch bedeutungslos gewesen, wenn arabische Antisemit:innen nicht in der Lage gewesen wären, die israelischen Gräueltaten in den folgenden Jahren zu nutzen, um Konvertit:innen zu rekrutieren. Die heutige Gewalt im Nahen Osten ist nicht der direkte Nachfolger des Nazi-Holocausts, sondern das Ergebnis der Gewalt, die von Überlebenden dieses Holocausts begangen wurde, die ihrerseits zu Täter:innen wurden — wie es Überlebende nur allzu oft tun.
Bis jetzt haben wir die Zahl der Palästinenser:innen und anderer Araber:innen, die unter dem israelischen Staat gelitten haben, kaum erwähnt. Wenn mensch ein Argument für Nationen als Beschützer von Menschen vorbringt, muss mensch alle Menschen berücksichtigen, nicht nur die Bürger:innen bestimmter Nationen — es sei denn, mensch hält die anderen für Untermenschen. Hier können wir sehen, dass der Preis für die Errichtung und Aufrechterhaltung des Staates Israel kolossal war, was das Leiden und den Tod von Israelis und Palästinenser:innen angeht.
Als Anarchist:innen können wir die Erklärung dafür nicht in der angeborenen Blutrünstigkeit und dem Antisemitismus der Araber:innen finden (und auch nicht in den imperialistischen Machenschaften der Jüd:innen), sondern in der Art und Weise, wie Nationalist:innen und Nationalstaaten die Menschen gegeneinander ausspielen. Für uns ist die Antwort klar: Wir müssen gegen die Regierungen Israels und Palästinas sowie gegen die der USA, Deutschlands und aller anderen Nationen kämpfen. Solange eine intolerante, gewalttätige, eigennützige Regierung unangefochten weitermachen kann, wird es für rivalisierende Regierungen nur allzu leicht sein, verängstigte Anhänger zu finden, die ebenfalls mörderische Taten begehen. Sogenannte Pragmatiker:innen, die darauf bestehen, dass wir die eine oder andere dieser Banden unterstützen müssen, wollen, dass wir den ganzen Schlamassel bis in alle Ewigkeit fortsetzen. Wir können unsere Solidarität mit allen Palästinenser:innen und Israelis, die gegen ihre eigenen Herrscher kämpfen, auf der Grundlage der Anerkennung der gegenseitigen Menschlichkeit finden.5
Bevor wir zum Schluss kommen, wollen wir noch einmal auf die Ursprünge und die Mentalität der antideutschen Ideologie zurückkommen, denn sie ist ein Beispiel für viele der potenziellen Fallstricke für Radikalen im heutigen globalen Kontext. Lange bevor die Nazis in Deutschland an die Macht kamen, richtete sich der Widerstand gegen den Kapitalismus und die Reichen oft gegen Karikaturen des “Internationalen Juden”. Viele deutsche Nationalist:innen waren der Ansicht, dass das Proletariat aus nicht-jüdischen Deutschen bestand, die angeblich von jüdischen Geldverleihern ausgebeutet wurden. Die Implikation war, dass das kapitalistische System symbolisch von seinen Parasiten gereinigt werden könnte, wenn mensch die Jüd:innen loswerden würde. In vielen revolutionären Kreisen war der Antisemitismus eine Selbstverständlichkeit: Bakunin, einer der berühmtesten frühen anarchistischen Denker, machte antisemitische Äußerungen, und Mussolini selbst interessierte sich anfangs für den Anarchismus. Der revolutionäre Aktivismus der Arbeiterklasse wurde vom nationalen Sozialismus, wie dem der Mussolinis Schwarzhemden, ebenso vereinnahmt wie vom nationalistischen Sozialismus, wie dem der Bolschewiki. Dieses wechselvolle Erbe macht es den Antideutschen leicht, im Radikalismus ihrer Zeitgenoss:innen Antisemitismus zu erkennen, ob er nun vorhanden ist oder nicht.
Heute haben Faschist:innen in Deutschland und in anderen Ländern die Dinge ähnlich vernebelt, indem sie umweltfreundliche und globalisierungsfeindliche Standpunkte einnehmen. Es wäre schön, wenn mensch zu dem Schluss käme, dass die Antideutschen einfach von ihren Feinde dazu provoziert wurden, gedankenlos widersprüchliche Positionen einzunehmen, aber die Tatsache, dass sie in den Nationalismus und den grenzwertigen Rassismus abgleiten, deutet auf etwas Heimtückischeres hin: dass sie, als sie sich aufmachten, dem Faschismus zu widerstehen, von ihm infiziert wurden, vielleicht als Ergebnis derselben deutschen Neigungen, die sie bekämpfen wollen. Wenn wir ihr Beispiel studieren, können wir erkennen, wie wichtig es ist, eine nuancierte Kritik der Machtverhältnisse zu entwickeln, aber wir werden auch an Nietzsches Diktum erinnert, dass diejenigen, die mit Ungeheuern kämpfen, aufpassen müssen, dass sie nicht selbst zu Ungeheuern werden.
Jeder Holocaust rechtfertigt sich unter dem Vorwand, Unschuldige zu schützen. In den USA wurden während der Ausrottung der amerikanischen Ureinwohner (und später während der Zeit der Rassentrennung) weiße Frauen als von farbigen Wilden bedroht dargestellt; in Nazideutschland wurden Bürger mit reinem “arischem Blut” als Opfer einer weltweiten Verschwörung von Entarteten fetischisiert. Indem die Antideutschen das jüdische Volk als eine Kategorie betrachteten — “die” Gefährdet:innen, “die” Opfer der Unterdrückung — anstatt sich dem Kampf gegen das Unrecht überall und in allen Formen zu verschreiben, die Antideutschen haben sich selbst die Voraussetzungen geschaffen, um als Anstifter zum Krieg zu enden. Es ist leicht nachvollziehbar, dass deutsche Radikalen, die sich von der antisemitischen Geschichte ihres Landes distanzieren wollen und verzweifelt versuchen, einer wiederauflebenden faschistischen Bewegung entgegenzutreten, jüdischen Belangen den Vorrang vor anderen geben könnten. Aber so kommt es manchmal zu neuen Gräueltaten: Die Überlebenden der Verfolgung werden zu Verfolgern, und andere, die ihre frühere Verfolgung billigend in Kauf nehmen wollen, drücken ein Auge zu.
Die einmal in Gang gesetzte antideutsche Parteinahme für Israel entbehrt nicht einer Rechtfertigung und Ermutigung: Es gibt eine ganze Propaganda-Industrie, die sich der Rationalisierung der israelischen Politik verschrieben hat, ebenso wie eine andere, die sie zur Mobilisierung der arabischen Widerstandsgruppen nutzt. Die zionistischen Israelis sind in der Tat Opfer im israelisch-palästinensischen Konflikt, ebenso wie die palästinensischen Selbstmordattentäter:Innen. Das Problem ist, dass beide nicht kämpfen, um den Konflikt zu beenden, sondern um ihn zu gewinnen. Das antideutsche Phänomen sollte Anarchist:innen daran erinnern, sich nicht vorschnell für eine Seite in nationalen und ethnischen Konflikten zu entscheiden. Wir müssen uns vielmehr auf die Seite derjenigen Teile dieser Kämpfe stellen, die mit unserem Wunsch übereinstimmen, die Bedingungen solcher Konflikte zu überwinden, wie verschüttet diese Teile auch sein mögen. Wir können uns einmischen, wie es Rachel Corrie vorgemacht hat, die US-amerikanische Aktivistin, die von einem Bulldozer der israelischen Verteidigungsstreitkräfte getötet wurde, als sie für den Schutz palästinensischer Häuser kämpfte: nicht, damit eine Seite triumphiert, sondern um Menschen zu helfen, einen unmenschlichen Konflikt zu überleben.
All dies ist sicherlich kompliziert. In einer Welt, in der scheinbar jeder auf der einen oder anderen Seite solcher Konflikte steht, scheint es, dass diejenigen, die mit allen gegen den Konflikt selbst Partei ergreifen würden, sich von allen anderen getrennt, ja sogar mit ihnen verfeindet sehen. Aber auch hier sollten wir von den Antideutschen lernen: Diejenigen, die sich mit dem Scheitern revolutionärer Perspektiven abfinden, verwandeln sich in der Defensive in genau die Monster, die sie noch vor kurzem bekämpft haben.
Von Scrappy Capy Distro für „Deutscher Anti-antisemitismus und Zionismus: ein Sammelband“ übersetzt.
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Das Wort Rassismus wird in diesem Text verwendet, um auf die Doppelmoral aufmerksam zu machen, mit der so viele weiße Menschen den Palästina/Israel-Konflikt betrachten. Mensch muss schon ein Rassist sein, um die Lebensbedingungen einer durchschnittlichen palästinensischen und einer israelischen Familie heute zu vergleichen und keine Ungerechtigkeit zu sehen, wie auch immer die Dinge im Bandenkrieg stehen. Es ist auch unmöglich, die Politik der israelischen Regierung, die die Palästinenser entrechtet, dominiert und demütigt, so wie es die Apartheid mit den Afrikaner:innen in Südafrika tat, als weniger als rassistisch zu bezeichnen. Einige Palästinenser:innen könnten auch als rassistisch bezeichnet werden, aber sie sind kaum in der Lage, Israelis massenhaft einer solch entmenschlichenden Behandlung auszusetzen. ↩
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Unter anderem hatte ich Zeit mit Mitgliedern der Band Dir Yassin verbracht, einer anarchistischen und antizionistischen Band aus Israel. Sie wurden 1998 in der Anarcho-Punk-Zeitschrift Profane Existence interviewt, und mit etwas Glück kann mensch das Interview noch finden. ↩
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Der beleidigende Song mit dem Titel „Called Terrorists by Terrorists“ („von Terrorist:innen Terrorist:innen genannt“) wurde in den Liner Notes so erklärt: „Der Titel dieses Liedes bezieht sich auf den bekannten Mord an dem UN-Vermittler Graf Folke Bernadotte, der auf Befehl des späteren israelischen Politikers Yitzhak Shamir getötet wurde. Bernadotte wurde 1948 mit der Aufgabe betraut, zwischen den palästinensischen Ureinwohnern und den Zionisten zu verhandeln, die versuchten, in ihrer Heimat einen israelischen Staat zu errichten. Er war der ehemalige Leiter des schwedischen Roten Kreuzes und hatte sein Leben riskiert, um während des Zweiten Weltkriegs Tausende von Jüd:innen aus Konzentrationslagern zu retten. Nach monatelangem Studium der Situation kam Bernadotte zu dem Schluss, dass im Interesse des menschlichen Anstands, wenn die Zionist:innen schließlich die Souveränität über einen Teil Palästinas erhalten sollten, den palästinensischen Flüchtlingen, die durch die zionistische Gewalt vertrieben worden waren, zwei Möglichkeiten eingeräumt werden sollten: Sie sollten in ihr gestohlenes Land zurückkehren dürfen oder aber von der neuen Nation Israel eine Entschädigung für das erhalten, was ihnen genommen worden war. Am Tag nach seinem Vorschlag wurde er von zionistischen Terrorist:innen getötet, die Shamirs Anweisungen befolgten. Jahre später konnte Shamir, unterstützt durch die Verdunkelung der Vergangenheit durch die Medien und die Tatsache, dass Geschichte immer von den Siegern geschrieben wird, zusammen mit anderen führenden Politikern der Welt die Palästinenser:innen, die sich immer noch gegen die rassistische Unterdrückung durch sein Regime wehrten, als ‚Terroristen‘ bezeichnen, ohne dass jemand seine eigene blutige Vergangenheit erwähnte.“ ↩
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Abgesehen natürlich vom israelischen Premierminister Yitzhak Rabin, der von einem zionistischen Juden ermordet wurde, weil er befürchtete, er könnte Fortschritte in Richtung einer friedlichen und gerechten Lösung des Konflikts machen. Mensch sollte meinen, dass dies die israelische Öffentlichkeit eher gegen den militanten Zionismus aufgebracht hätte — aber nein, auf ihn folgte ein rechter Hardliner an der Macht. ↩
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In diesem Sinne möchte ich diesen Text mit einem Gedicht des führenden israelischen Autors Aharon Shabtai abschließen:
Auch ich habe den Krieg erklärt: / Ihr müsst einen Teil der Truppen abziehen, / die eingesetzt werden, um die Araber zu vernichten — / sie aus ihren Häusern zu vertreiben / und ihr Land zu enteignen — / und sie gegen mich einsetzen. / Ihr habt Panzer und Flugzeuge und Soldaten in Bataillonsstärke; / ihr habt die Widderhörner in der Hand, / mit denen ihr die Massen aufrütteln könnt; / ihr habt Männer, um sie zu verhören und zu foltern; / ihr habt Zellen zum Festhalten. / Ich habe nur dieses Herz, / mit dem ich einem arabischen Kind / Schutz biete. / Richtet eure Waffen darauf: / selbst wenn ihr es in die Luft jagt, / wird es euch immer, / immer verhöhnen. ↩