Im Oktober 2012 organisierten wir anlässlich der Veröffentlichung der Textsammlung »Message in a Bottle« eine Vortragstour durch Deutschland, die Planung eskalierte allerdings schnell und so wurden es dann insgesamt 45 Veranstaltung in ganz Nordeuropa innerhalb von nicht mal 2 Monaten.
Ich war 14 Tage davon mit unterwegs, 13 Veranstaltungen an 13 Tagen – die meisten davon innerhalb Deutschlands, aber auch in Holland und Belgien. Ich und die beiden Vortragenden kannten uns zuvor nur via Mail… Es wurde eine intensive Tour, voller Abenteuer, voller bedeutsamer Diskussionen, die einige neue Freundschaften und Verbindungen hervorbrachte. Überall waren die Veranstaltungsorte voll, die Diskussionen gingen bis spät in die Nacht – und dazwischen besuchten wir historische Orte, machten Stadtführungen auf den Dächern der Stadt, tanzten auf wilden Partys und eilten schlussendlich immer kurz vor knapp zum nächsten Termin.
An einem dieser Abende, in der die Diskussionen über die grundlegenden Fragen – »Was meinen wir damit, wenn wir sagen, dass wir Anarchist_innen sind? Was ist unsere übergreifende Strategie gegen den Kapitalismus?« – lernte ich Xelîl, damals noch mit anderem Namen, kennen. Es war eine dieser bedeutsamen Begegnungen dieser Tour, eine dieser Momente die in Erinnerung blieben.
Wir landeten nach dem Vortrag in einer Art WG von Aktivist*innen, in der das Privateigentum auf kleine Kisten beschränkt war und die ansonsten auf kollektiver Selbstorganisation basierte, und fühlten uns gleich auf eine eigene Art zu Hause. Wir saßen die halbe Nacht noch am Küchentisch und tranken Wein (nungut, zumindest ich, ob Xelîl mit getrunken hat, weiß ich gar nicht mehr). Ich war beeindruckt von seinem Wissen, seiner Text-Kenntnis von Adorno über Foucault bis hin zu aktuellen CrimethInc. Texten und wie er begierig und unermüdlich versuchte die Ansätze zu verknüpfen, Gemeinsamkeiten zu finden… wenn Peter Schaber im Lower Class Magazine in seinem Nachruf schreibt: »Er gehörte zu jenen Menschen, die ständig von den ganz großen Fragen umgetrieben werden«, dann muss ich sofort an jene Begegnung denken.
Xelîl bot direkt an bei kommenden Übersetzungen mitzuarbeiten – und so wurde er Part der Crew, die Work mit übersetze. Wir verdanken ihm die ersten 30 Seiten der deutschen Übersetzung. Die Einleitung beschreibt vieles, von dem über das wir diskutierten:
»Wir könnten jederzeit aufhören unsere Mieten, unsere Hypotheken, unsere Steuern oder die Nebenkosten zu bezahlen. Sie wären machtlos gegen uns, wenn wir das alle gleichzeitig machen würden. Wir könnten jederzeit unsere Ausweise zerreißen, die Nummernschilder von unseren Autos abschrauben, die Überwachungskameras zerstören, Geld verbrennen, unsere Portemonnaies wegwerfen und kollektive Formen schaffen, um zu produzieren und zu verteilen, was wir brauchen. Immer wenn meine Arbeitsschicht stinklangweilig ist, ertappe ich mich dabei so etwas zu denken. Bin ich wirklich alleine mit diesen Ideen? Ich kann mir all die üblichen Einwände vorstellen, aber ich möchte wetten, wenn es an irgendeinem Ort in der Welt beginnen würde, alle anderen würden schnell aufspringen. Stellt euch all die unzähligen Wege vor, auf denen wir stattdessen unsere Leben vergeuden. Was wäre nötig, um diese Kettenreaktion loszutreten? Wohin kann ich gehen, um Leute zu finden […]?«
Xelîl auf den Spuren der Revolutionen in Lateinamerika.
Xelîls erste Band, Unknown Artists.
Wir blieben nach der Arbeit an Work im losen Kontakt. Xelîl war damals einer der ersten, die mir das »neue Paradigma« der kurdischen Bewegung näher legte, mich dazu brachte meine althergebrachten Bedenken gegenüber der kurdischen Bewegung zu überdenken und mich mit der Theorie Abdullah Öcalans zu beschäftigen. Ich blieb skeptisch, aber ohne die Diskussionen mit Xelîl und anderen Freund*innen wären wohl nicht so frühzeitig Texte von Öcalan und Soli-Artikel der kurdischen Bewegung in unserem lokalen Buchversand gelandet. »[Er] schaffte […] es in einigen Jahren viele Menschen und Bewegungen mit der Befreiungsbewegung zu verbinden und Brücken zu schlagen.« schreibt die Internationalistische Kommune in ihrem Nachruf und wir können dem nur beipflichten.
2015 trafen wir uns bei einer Info-Veranstaltung zu Kurdistan wieder. Xelîl berichtete von seiner Reise nach Bakur. Nach der Veranstaltung saßen wir wiederum bis spät nachts / früh morgens bei uns im Wohnzimmer und diskutierten. Wir waren uns bei vielem nicht einig, aber uns verband der Wille und die Motivation Kämpfe und Theorien zu verbinden, etwas neues zu erschaffen, den Rahmen zu sprengen und die langweiligen Pfade zu verlassen. Es waren bereichernde Gespräche, es war ein Beispiel für eine gelungene Streit- und Debattenkultur, eine die mensch sich öfter wünschen würde. Während Xelîl gegen den westlichen Individualismus mit Öcalan polemisierte, hielt ich ihm mit Stirner entgegen und wir näherten uns einer Debatte über Autonomie, Individuum und der Bedeutung revolutionärer Politik für eben jene. Kurz darauf brach der Kontakt ab, doch noch heute ist die Erinnerung klar vor Augen.
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Heute lese ich seinen Text über »revolutionäre Führung«, er beinhaltet so viel über das ich gerne mit ihm gestritten, diskutiert und auch einiges bei dem ich gerne nachgefragt hätte. »Die Samen, die Heval Bager auf seinen vielen Reisen gesät hat, haben überall begonnen zu keimen und zu sprießen«, so die Internationalistische Kommune in ihrem Nachruf. Hoffentlich gehen diese Samen nicht nur in seiner Theorie, sondern auch im Willen zur Diskussion und des produktiven Streits auf.
Auf crimethinc.com erschien dann 2015 das Interview »Von Deutschland nach Bakur«, bei dem Xelîl mitwirkte … in einer Antwort auf die Frage nach der kurdischen Kampfform schrieb er:
»Lass mich eine Geschichte wiedergeben, die mir einst ein Freund erzählte. Er nahm am Kandil-Krieg 2011 teil. Kandil ist am südlichen Ende der Mediya Verteidigungsgebiete, den durch die Guerillas kontrollierten Bergen in den Grenzregionen des Iran, Irak und der Türkei. Er erzählte mir von einer Situation als anderthalb Tausend Pasdaran, die iranischen Infanterieregimente, versuchten den Hügel zu stürmen auf dem sich die Guerillas verschanzten. Es gab nur etwa 30 GenossInnen, die ihren Berg verteidigten. Er erklärte, dass, was die iranische Armee gegen sie einzusetzen versuchte, lediglich ihre Kugeln und ihre Angst vor Bestrafung durch ihre Führer war. Sie rannten blindlings den Berg herauf und wurden zurückgeschlagen. Sie hatten keine Überzeugung, keine Kraft und keine Freundschaft untereinander. Auf der anderen Seite, als seine GenossInnen ihre Position verteidigten, benutzten sie nicht nur ihre Waffen, wie er sagte. Sie kämpften für ihre geplünderten Dörfer, für ihre zerrissenen Familien, mit ihren gefallenen FreundInnen im Herzen, mit der Gewissheit, dass die angreifende Armee die Berge und Wälder hinter ihnen niederbrennen und die Natur ihres Landes zerstören würde. Sie kämpften für die, die zu schwach waren es selbst zu tun, für all die Teile der Gesellschaft, die hinter ihnen standen und ihnen den Rücken stärkten. Vielleicht ist es schwer zu verstehen, wenn du es nicht selbst fühlst. Aber ihre Kraft wurde gestärkt durch viele FreundInnen, der historischen Erfahrung der Unterdrückung, gegenseitigem Schutz – einer Liebe zum Leben und einem Glauben an sich selbst.
All diese Dinge, so sagte er, stehen an oberster Stelle, wenn du neben deinen FreundInnen auf deinem Posten sitzt und deine Waffen zur Verteidigung erhebst: Dein Vertrauen in deine GenossInnen, deine Dankbarkeit für die in den Tälern lebenden, die an eine befreite Gesellschaft glauben, die die Felder bestellen, von denen du lebst, deine Traurigkeit über den Horror, den der Staat über deine FreundInnen und Familien brachte. Und am Ende ist da die Kugel, die du auf diejenigen schießt, die in deine Richtung stolpern. Wie könnten die jemals gewinnen, fragte er lächelnd.«
Wir lesen seine Bewunderung und Anerkennung in den Zeilen für die Guerilla in den Mediya-Verteidigungsgebieten, in denen Xelîl im Dezember 2018 in den Reihen der HPG (Hêzên Parastina Gel, Volksverteidigungseinheiten) von der türkischen Luftwaffe ermordet wurde. In der kurdischen Bewegung sagt mensch, Şehîd namirin, die Gefallenen sind unsterblich.
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Sie haben Recht, die Gefallenen sind unsterblich – das gilt aber nicht nur für jene, die im Kampf fielen, sondern für alle, die auf der Suche nach ihrem vollen Potential, auf der Spur des Lebens und auf der Suche nach Auswegen aus der globalen Misere sind. Xelîl hat Spuren hinterlassen, die ihn und seine Gedanken unvergesslich gemacht haben.
Weiteres Material
Interview mit Xelîl (unter anderem Namen) im Kurdistan Report, ab Seite 59