Wir haben den folgenden Bericht über die Proteste in Russland am 23. Januar aus zweiter Hand von Anarchist:innen aus Russland erhalten. Im Anhang veröffentlichen wir einen zweiten Brief, der uns erreicht hat und der etwas mehr auf die Auslöser der Proteste eingeht. Am Samstag versammelten sich Zehntausende im ganzen Land als Reaktion auf die Verhaftung des Oppositionsführers Aleksei Navalny – die Proteste sind aber ein Ausdruck von viel tiefer sitzender Wut. Wir hatten gehofft, dass die Unruhen aus Belarus früher oder später nach Russland überschwappen würden – die größte Hoffnung für die Rebell:innen in Belarus (und anderswo in der russischen Einflusssphäre), sowie für alle, die unter Putin leiden. Wir veröffentlichen dies hier im Interesse der Förderung internationaler Perspektiven unter allen, die die Folgen von Kapitalismus und Staat ertragen müssen. Möge sich auch die Revolte vertiefen und ausbreiten.
twitter.com/robin_vevo/status/1353024734926155777
Heute, am 23. Januar, ist in der Russischen Föderation ein Funke entfacht worden. Von Moskau bis Ulan-Ude sind Zehntausende auf die Straßen geströmt, um gegen Putin, Korruption und Unterdrückung zu protestieren. Auf den ersten Blick mögen diese Demonstrationen wie die gleichen Oppositionsproteste wirken, die jedes Mal losgehen, wenn ein prominenter Oppositionskandidat akut unterdrückt wird. Aber für uns vor Ort haben wir das Gefühl, dass sich etwas verändert hat.
Die übliche passive Haltung, die für diese Art von Protesten typisch ist, wurde aufgegeben. Die Menschen wehren sich gegen die Polizei. Auch finden diese Kundgebungen nicht nur an den typischen Orten statt und sie bestehen auch nicht nur aus denselben politisch aktiven Menschen der Oberschicht. Aus der Stadt Tschita hören wir Geschichten, dass die Polizei vertrieben wurde. In Perm applaudiert eine Menschenmenge, nachdem Anarchist:innen eine Rede über Rebellion, selbstorganisierte Aktivität und Solidarität gegen Unterdrückung hielten. In Irkutsk empfingen die Menschen die Anarchist:innen und ihre Worte ebenfalls mit großer Herzlichkeit. An einem Ort blockierten Menschen Polizeiautos, während sie an einem anderen Ort einen Demonstranten aus dem Gewahrsam befreiten. Auf einer Straße schlug ein Mann einen Polizisten k.o., auf einer anderen skandierten die Menschen »Freiheit! Freiheit!«, während eine Frau einem Polizisten einen Schlagstock aus der Hand reißt. Jenseits des wachsenden Interesses an anarchistischen Ideen, das sicherlich aufregend ist, gibt es ein noch aufregenderes anarchisches Potenzial in der Revolte, die heute ausgebrochen ist, wie bescheiden es auch immer ist.
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Eine aufregende aufkommende Taktik waren Schneeballattacken auf die Polizei, die das Selbstvertrauen förderten und die Spannung aufrechterhielten, während sie gleichzeitig eine Eskalation darstellten, mit der die Leute einverstanden waren. Wenn der Sinn eines Aufstandes darin besteht, die Behörden zu demütigen und andere Parteigänger zum Handeln zu motivieren, ist dies sicherlich ein Weg, dies zu tun. In einem Video, das auf Telegram kursiert, sieht man sogar eine Schneeballattacke, die zu einem Angriff auf ein Fahrzeug mit staatlichem Nummernschild eskaliert [angeblich ein Fahrzeug, das möglicherweise mit dem FSB, dem verhassten russischen Föderalen Sicherheitsdienst, in Verbindung gebracht wird]. Wir haben gesehen, dass die Revolte in diesen Taktiken zu blühen beginnt, aber andererseits ist auch die Repression gekommen.
Der Staat hat über 3000 Verhaftungen zugegeben. Videos, die brutale Schläge der Polizei zeigen, sind aufgetaucht. Para-Staatswächter waren in Scharen unterwegs. U-Bahn-Stationen wurden geschlossen. Zweifellos wird weitere Repression folgen; der russische Staat verfügt über große repressive Ressourcen. Wie alle Staaten benötigen sie jedoch ein gewisses Maß an Unterstützung seitens der Bevölkerung, wenn sie bei der Unterdrückung von Menschenmengen auf der Straße und Bewegungen im Allgemeinen erfolgreich sein wollen. Die Polizisten konnten ihre übliche Routine durchführen, indem sie zahlreiche Male in die Menge stürmten und Menschen festnahmen, aber die Menschen wehrten sich auch, retteten ihre Freund:innen vor der Polizei oder vertrieben die Polizei sogar ganz aus einigen Gebieten.
Grob übersetzt: »Die Menschen sind keine Schafe«.
Viele Menschen hier scheinen Belarus als ein Beispiel gesehen zu haben, wo Repression und Polizeigewalt die Rebell:innen nicht zum Rückzug zwangen. Gesänge und Botschaften der Solidarität mit dem dortigen Kampf finden sich heute auf vielen Versammlungen. Das erfüllt uns mit Hoffnung – nicht in dem Sinne, dass zwei Nationalismen einander grüßen, sondern weil diese Kämpfe ihre nationalen Grenzen überschreiten. Jeder Strand, den die Welle des Aufstands erreicht, ist anders, wir alle haben unterschiedliche Kontexte, aber wir können auch eine gemeinsame Ursache, Resonanz und Inspiration finden. Wir können Resonanz finden mit denen in Belarus, die sich gegen einen Oligarchen versammeln, dessen Griff zu entgleiten droht, mit denen, die sich gegen die Polizei wehren und vor allem mit denen, die es zeitweise geschafft haben, den Politikern zuvorzukommen, deren Repressionserfahrung zu den ursprünglichen Katalysatoren der Unruhen gehörte.
Wir sollten vielleicht erwähnen, dass wir kein Lob für Nawalny übrig haben, den Politiker, dessen Verhaftung scheinbar diese Protestwelle ausgelöst hat. Nawalny ist ein opportunistischer, ultranationalistischer Wichtigtuer, der sich selbst als Populist darstellt und ein Narrativ der Anti-Korruptionspolitik verwendet, das nur eine andere Gruppe von Oligarchen stützen und unterdrückerische Haltungen auf schädliche Weise verewigen würde. Er ist nicht einmal der beliebteste Oppositionspolitiker, noch ist seine Partei die beliebteste. Lustigerweise ist die beliebteste Oppositionspartei die Kommunistische Partei Russlands, deren Anhänger heute ebenfalls auf der Straße waren. Aber wir schweifen ab.
twitter.com/alexkokcharov/status/1352986501798354945
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Heute sahen wir, wie sich Taktik und Entschlossenheit zum Kampf fast augenblicklich über Terrain und kommunale Unterschiede hinweg verbreiteten. Rund 100.000 Menschen bekamen einen Vorgeschmack auf kollektives Handeln. Wir hoffen, dass sich die Themen des Protests so gut verallgemeinern wie die Proteste selbst, aber dies ist so gut wie jedes andere Sprungbrett, von dem aus man den nächsten Sprung machen kann. Diese nächsten Momente sind entscheidend. Wie können wir kohärent, effektiv und entschlossen handeln, ohne militärähnliche Kommandostrukturen und ohne uns auf die Führung der FBK (Anti-Korruptions-Stiftung) zu verlassen? Wie können wir agieren, ohne zu viel Repression auf unsere eigenen, autonomen Organisationen oder Bezugsgruppen zu ziehen? Wir haben noch viele Fragen, aber wir sehen auch, dass so vieles von dem, was wir brauchen, schon da ist.
Wir haben dieses Schreiben in der Hoffnung verschickt, dass es einige amerikanische Freund:innen erreicht, deren Sommer des Kampfes gegen die Polizei zumindest für uns eine Inspiration gewesen ist. In Russland haben wir ein Sprichwort, »die Ziegen fressen die Wölfe«, wo die Amerikaner sagen könnten »die Schweine fliegen.« In Russland werden korrupte Polizisten Werwölfe genannt und in den USA verstehen wir Polizisten als Schweine. Also sagen wir im Geiste der internationalen Solidarität: Mögen die Ziegen die Wölfe fressen und lasst uns den Schweinen Flügel verpassen.
twitter.com/bad_immigrant/status/1353055663530913792
Wo Not ist, da ist auch Widerstand.
Mut und Gerissenheit!
Nicht für Nawalny, sondern für die Leute!
PS - Grüße der Rebell:innen an die Kämpfer:innen auf den Straßen Tunesiens! Nieder mit dem Polizeistaat!
Anhang
Ein weiterer Bericht:
Zehntausende Menschen haben heute in ganz Russland in einer der größten Demonstrationen gegen die Herrschaft von Wladimir Putin im vergangenen Jahrzehnt protestiert. Mehr als 3000 wurden verhaftet.
Diese Proteste unterschieden sich deutlich von den früheren, die in den letzten 10 Jahren ängstlich in Moskau und St. Petersburg stattfanden. In diesem Fall kommen die Menschen in allen großen Städten Russlands auf die Straße, einschließlich der Stadt Jakutsk mit -52°. Der zweite wichtige Unterschied war, dass die Menschen keine Angst hatten, in offenen Konflikt mit der Polizei zu gehen: Kämpfe mit Bereitschaftspolizei, Blockaden der größten Straßen, zerstören von Polizeiwagen und sogar eine Lawine von Schneebällen für die Polizei. All dies geschah auch vorher immer mal wieder, aber nicht in einem so großen Ausmaß. Die offizielle Tagesordnung der Proteste ist die Forderung nach der Freilassung des Oppositionspolitikers und unabhängigen Anti-Korruptions-Ermittlers Alexej Nawalny, der vor einer Woche nach seiner Rückkehr aus Deutschland verhaftet wurde, wo er in Behandlung war, nachdem er vom FSB (russischer Geheimdienst) vergiftet wurde. Nachdem Alexej inhaftiert wurde, veröffentlichte das Team seiner Anti-Korruptions-Stiftung eine zweistündige Video-Dokumentation, die in weniger als einer Woche 74 Millionen Aufrufe bei YouTube erreichte. Es erzählte über Putins Korruptionskarriere, die in den 90er Jahren begann und über eines seiner neuen Häuser: den größten Palast (Größe von 39x Monaco) in Russland, den die Oligarchen für ihn gebaut haben. Der unglaubliche Luxus des Palastes hat die Russ:innen verärgert, die in einer sich ständig verschlechternden wirtschaftlichen Situation leben und der staatlichen Propaganda nicht mehr trauen, die in den letzten Jahren bereits die schlimmsten Beispiele der sowjetischen übertroffen hat. Trotz der umstrittenen politischen Ansichten von Nawalny (schwankend zwischen Rechts- und Linkspopulismus) gingen viele Menschen auf die Straße, die seine Ansichten nicht ganz teilen, aber verstehen, wie wichtig es ist, sich zu vereinen und der korrupten russischen Regierung entgegenzutreten, die von Putin und seinem kleinen inneren Kreis kontrolliert wird, den er durch die Übertragung der Kontrolle über die größten russischen Öl- und Gasunternehmen zu den reichsten Menschen in Russland und der Welt gemacht hat. Die Menschen kommen, um gegen Korruption, Armut und die hässlichsten Formen des staatlich kontrollierten Kapitalismus zu protestieren. Auch der Hass auf die Polizei und die Sicherheitsdienste, die diese Ordnung durchsetzen, wächst ins Unermessliche.
Viele Anarchist:innen nahmen an diesen Protesten teil, obwohl viele zögerten, weil sie mit den Ansichten des Politikers nicht einverstanden waren (der dennoch in seinen Reden die Anarchist:innen und Antifaschist:innen unterstützte, die in den letzten Jahren der Repression hinter Gittern waren). Hoffentlich werden die Anarchist:innen die gegenwärtige Situation für eine Interaktion mit verschiedenen Kräften in der Gesellschaft nutzen, um das Regime zu stürzen und aus der Stagnation herauszukommen, in der sich die Bewegung jetzt befindet. Wir können auf eine wichtige Erfahrung der Ukraine schauen, in der die rechten Gruppen die populären Proteste ausnutzten um Zugang zur Macht in dem postrevolutionären Land zu erlangen.
Anarchist:innen können Menschen, die zum ersten Mal an Straßenaktionen teilnehmen, dabei helfen, effektiver und sicherer auf der Straße zu sein, die Polizei zu konfrontieren, horizontale Strukturen zu schaffen und denen helfen, die mit Gefängnis und Repression bedroht werden, sowie zukünftige Aktionen zu planen. Die Erfahrung des Herbstes in Belaurs zeigt, dass eine solche Unterstützung äußerst effektiv ist. Wenn man Informationen (ohne veraltete ideologische Klischees) zur Verfügung stellt, kann das zur Politisierung der Gesellschaft und zur Bildung klarer Ziele des Protests führen.
Die Situation in Russland betrifft nicht nur dieses Land und die nächstgelegenen postsowjetischen Länder. Putins Regime unterstützt viele rechtsgerichtete politische Bewegungen in Europa, schafft überall militärische Konfliktzonen, seine paramilitärischen Gruppen operieren in vielen Ländern von der Ukraine bis zur Zentralafrikanischen Republik. Die Ermordung von Oppositionsführern oder einfach persönlichen Feinden kommt in verschiedenen Ländern regelmäßig vor. Es ist wichtig, auf die kommenden Proteste und die anschließenden Repressionen, die mit Sicherheit folgen werden, vorbereitet zu sein. Die heutigen Ereignisse zeigen jedoch, dass die Menschen bereit sind, den ganzen Weg zu gehen, um ihre Zukunft zu verändern!