Zum Gedenken an Dmitri Petrov

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Eine unvollständige Biographie und Übersetzung seines Werkes

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Am 19. April 2023 wurden drei Anarchisten in der Nähe von Bakhmut im Kampf getötet: ein Amerikaner namens Cooper Andrews, ein Ire namens Finbar Cafferkey und ein Russe namens Dmitri Petrov, der uns bis dahin als Ilya Leshy bekannt war. Personen in unseren Netzwerken haben im Laufe der Jahre gemeinsame Unternehmungen mit allen drei Genossen durchgeführt.

Du kannst hier über Coopers Beweggründe in seinen eigenen Worten sowie eine Trauerrede seiner Genossen lesen. Du kannst dich hier über Finbars lebenslangen Aktivismus informieren, ein Interview mit ihm lesen und ein Lied von ihm anhören. In der folgenden Trauerrede befassen wir uns mit dem Leben von Dmitri Petrov, der auch unter den Pseudonymen Ilya Leshy und Fil Kuznetsov bekannt war. Zum Hintergrund solltest du zunächst die Erklärungen seiner Genoss*innen in der Anarcho-Communist Combat Organization, dem Resistance Committee, den Solidarity Collectives sowie Dmitris Abschiedsbrief lesen. All diese Texte sind hier verfügbar.


Wenige Wochen vor Kriegsbeginn nahm Dmitri an einem Interview teil, das wir in unsere Berichterstattung über die sich entwickelnde Situation aufnahmen. Am ersten Tag der russischen Invasion nahm Dmitri sich in dieser herausfordernden Situation die Zeit, um mit uns über die Reaktion der Anarchist*innen zu sprechen. Während unseres Austauschs im folgenden Jahr waren wir beeindruckt von seiner Bescheidenheit, der Ernsthaftigkeit, mit der er an seine Bemühungen heranging, und seinem aufrichtigen Wunsch nach Kritik.1

Als Dmitri ermordet wurde, enthüllten seine Genoss*innen, dass er an einigen der bedeutendsten anarchistischen Initiativen im Russland des 21. Jahrhunderts beteiligt war. Unter anderem beteiligte er sich an der Gründung der Anarcho-Communist Combat Organization. Wir geben hier einen Überblick über seine Bemühungen als Momentaufnahme der letzten zwei Jahrzehnte des Kampfes in der postsowjetischen Welt und schließen mit einer Übersetzung seines Textes The Mission of Anarchism in the Modern World.

Niemand in unserem Kollektiv glaubt, dass der staatliche Militarismus eine Welt, in der wir zu leben wünschen, herbeiführen kann. In der Frage der Beteiligung von Anarchist*innen am militärischen Widerstand gegen die russische Invasion in der Ukraine sind wir intern gespalten. Einige von uns glauben, dass der Dienst in einer staatlichen Militärformation die anarchistische Sache niemals voranbringen kann. Andere meinen, dass die Entscheidung, dies zu tun, nur angesichts der brutalen Autokratie, die in Russland herrscht, verstanden werden kann, in der engagierte Anarchisten wie Dmitri praktisch jeden anderen Ansatz versucht hatten. Wenn wir den staatlichen Militarismus ablehnen, bleibt die Frage offen, wie wir sonst auf imperialistische Invasionen reagieren sollen – und wir werden besser gerüstet sein, diese Frage anzugehen, wenn wir den Lebensweg russischer Anarchisten wie Dmitri verstehen. Eine Diskussion über die Komplexität der Entwicklung einer anarchistischen Anti-Kriegs-Strategie, die das Feld nicht dem staatlichen Militarismus überlässt, kann man hier beginnen.

Volodya Vagner schreibt: „Ich habe dieses Foto von Dmitri an einem Frühlingstag im Jahr 2018 aufgenommen, als er mich durch die Moskauer Büros der PKK-Vertretung in Russland führte. Seit der Schlacht von Kobanê im Jahr 2014 hatte er dort Zeit verbracht, Kurmandschi studiert und Veranstaltungen über die Revolution in Rojava organisiert… er wirkte auf mich freundlich und bescheiden, ein scharfsinniger Denker, der seine Überzeugungen in die Tat umsetzt.“


Ein Leben im Kampf

Einem unserer Kontakte in der russischen anarchistischen Bewegung zufolge war Dmitri schon als Teenager, also seit 2004, aktiv an anarchistischen Aktivitäten in Moskau beteiligt. Er wurde bei anderen Genoss*innen als Ekolog („Ökologe“) bekannt, weil er sich für den Umweltschutz einsetzte und gegen den Bau von Müllverbrennungsanlagen und für die Verteidigung des Bitsevski-Parks in Moskau organisierte. Er beteiligte sich auch an Food Not Bombs, der anarchistischen Gewerkschaft MPST („Interprofessionelle Arbeiter*innengewerkschaft“) und einer Reihe anderer Initiativen.

Während Dmitri in der anarchistischen Bewegung immer aktiver wurde, verschärften Faschisten und Polizei ihre Gewalt gegen die Bewegung. Sie hatten begonnen, Aktivist*innen sowie Journalist*innen und sogar deren Anwält*innen zu verstümmeln und zu töten; Fedor Filatov, Ilya Borodayenko, Timur Kacharava und Anna Politkovskaya waren nur einige der vielen Opfer. Im Januar 2009 wurden der Rechtsanwalt Stanislaw Markelow und die Journalistin und anarchistische Öko-Aktivistin Anastasia Baburowa in der Moskauer Innenstadt ermordet. Im Sommer zuvor hatte Dmitri an der Seite von Anastasia Baburova für georgische Flüchtlinge aus Abchasien gekämpft, die im Moskauer Yasnyi proezd untergebracht waren.

Im darauf folgenden Monat nahm Dmitri an einer geheimen Aktion teil, die unter dem Namen „People’s Retribution“ bekannt wurde. Einem Bericht zufolge war dies ein bahnbrechendes Ereignis in Russland:

Die erste Brandstiftung einer neuen Generation anarchistischer Rebellen gegen die Polizei fand in der Nacht vom 19. zum 20. Februar 2009 statt. Am nächsten Tag wurde im Internet ein Video im Namen der Gruppe „People’s Retribution“ veröffentlicht, auf dem zu sehen ist, wie anonyme Personen Molotowcocktails auf Polizeiautos werfen. „People’s Retribution“ kündigte die Zerstörung von zwei Autos an und rief „jede Person mit Selbstachtung … auf, sich gegen die Willkür und Tyrannei der Polizei, der Geheimdienste und der Bürokratie zu wehren“.

Danach beteiligte sich Dmitri an der Einrichtung einer anonymen Plattform für die Berichterstattung über derartige geheime Aktionen, dem Black Blog, der im Mai 2010 seine Arbeit aufnahm. Als die anonymen Redakteur*innen im März 2019 das Ende des Black Blogs ankündigten, spielten sie auf die Verbrennung der Polizeiwagen am 19. Februar 2009 an: „Mehr als zehn Jahre sind vergangen, seit wir unseren ersten Molotowcocktail auf die Polizei geworfen haben.“

Einer der Brennpunkte des Konflikts rund um Moskau war damals der Chimki-Wald, den Anarchist*innenen und Umweltaktivist*innen gegen korrupte Beamte und Holzfäller und die von ihnen angeheuerten Faschist*innen verteidigten. Am 28. Juli 2010 spitzte sich der Kampf um Chimki zu, als Hunderte von Anarchist*innen und Antifaschist*innen als Reaktion auf einen faschistischen Angriff vor die örtlichen Gemeindeämter marschierten. Wir wissen nicht, was Dmitris genaue Beteiligung an diesen Ereignissen war. Der anonyme Bericht, den wir von russischen Anarchist*innen erhalten haben, scheint die Handschrift eines Vertrauten zu tragen; in einem Interview bestritt jedoch ein anonymer Vertreter von Black Blog, dass sie an der Demonstration vor dem Gemeindeamt teilgenommen hätten.

In den folgenden Monaten verhafteten und folterten die Behörden über 500 Anarchist*innen und Antifaschist*innen. Mehrere waren gezwungen, aus Russland zu fliehen. Dies reichte jedoch nicht aus, um die zu diesem Zeitpunkt starke Bewegung zu unterdrücken. In dem oben erwähnten Bericht heißt es,

„2009-2012 war der Höhepunkt des anarchistischen Widerstands in der Geschichte des postsowjetischen Raums in Russland, Weißrussland und der Ukraine. Fast jeden Tag passierte etwas, vor allem in der Region Moskau, Tag und Nacht.“

Bis zum Sommer 2012 gab es mehr als hundert Brandanschläge auf Polizeistationen und -fahrzeuge, Rekrutierungsbüros des Militärs, Autos von Staatsbeamten und Baumaschinen, die zur Zerstörung von Wäldern bestimmt waren. Der Black Blog berichtete über viele dieser Aktionen, darunter auch einige, zu denen sich weitere Gruppen bekannten, an denen Dmitri Berichten zufolge beteiligt war, wie die Anti-Naschistische Aktion (gegen die Pro-Putin-Jugendgruppe Naschi) und ZaNurgalijewa (wahrscheinlich eine ironische Anspielung auf den damaligen Innenminister Raschid Nurgalijew, einen ehemaligen KGB-Funktionär).

So explodierte beispielsweise am 7. Juni 2011 ein improvisierter Sprengsatz neben einem Posten der Verkehrspolizei am 22. Kilometer der Moskauer Ringstraße. Die Anarchist Guerilla group bekannte sich dazu und veröffentlichte ein Video der Explosion auf dem Black Blog. Nach Angaben der Anarcho-Communist Combat Organization war Dmitri an dieser Aktion beteiligt.

In einem anschließenden Interview beschrieben pseudonyme Beteiligte an der Verbrennung des Polizeipostens die Aktion im Detail. Hier ist ein Auszug:

DENIS: Wir steigen von der Kreuzung über die Moskauer Ringstraße hinunter. Es ist jetzt fast hell. Ein Rentner ist bereits hier und geht mit seinem Hund spazieren. Nach unserer Erfahrung mit nächtlichen Ausflügen ist diese Kategorie von Bürgern eine der ersten, die morgens auf den Straßen der Stadt auftauchen. Man sagt, dass die Menschen im Alter sehr wenig schlafen. Obwohl unsere Gesichter bedeckt sind, fühle ich immer noch Angst – schließlich kann sich ein Zeuge an etwas erinnern. Natürlich ist es völlig verrückt, zu einer fehlgeschlagenen Bombe zurückzukehren, und das auch noch im Hellen, vor den Augen der ganzen Nachbarschaft. Aber man hat sich so viel Mühe gegeben, dass es unmöglich ist, mit leeren Händen zu gehen.

Kehren wir zum Posten zurück. Alles ist noch so, wie wir es verlassen haben: Ein Becken mit Kohle und ein Zylinder stehen zwischen dem Zaun und dem Stand. Alexej geht an den Rand des Betongrabens, zündet ein Phosphorstreichholz an und wirft es in das Becken. Nichts passiert. Ist das Benzin weggebrannt? Entmutigt gehen wir langsam zurück zur Brücke. „Hör mal, hast du wirklich gesehen, wie das Streichholz in das Becken gefallen ist? frage ich Alexej. „Ja, es sah so aus.“ „Aber du kannst es nicht mit Sicherheit sagen?“ „Nein, ich bin mir nicht sicher.“

Letzter Versuch. Wir kehren zurück, ich klettere über den Graben, nähere mich dem Zaun, zünde ein Streichholz an, werfe es direkt in das Becken und… eine bläuliche Flamme breitet sich über der Kohle aus. Es ist passiert! Jetzt rennen wir, unsere Herzen klopfen – was, wenn die Explosion uns an einer auffälligen Stelle erwischt? Aber die Freude über den Erfolg verdrängt die Angst.

BORIS: Es wurde langsam hell. Ich bemerkte eine unverständliche Bewegung hinter dem Stand. Als ich genau hinsah, erkannte ich, dass es die Spiegelung des Feuers auf den Bäumen war. Es brannte!

Doch plötzlich fuhr ein Auto schnell auf den Parkplatz und beleuchtete den Stand mit seinen Scheinwerfern. Ein Verkehrspolizist stieg aus dem Auto aus, holte einen Feuerlöscher heraus und begann, die Flammen zu löschen. Erfolglos. Im Gegenteil, es schien, als würde das Feuer immer mehr auflodern. Der Verkehrspolizist rannte zum Posten und kam mit einem anderen, größeren Feuerlöscher wieder heraus. Wieder kein Erfolg – die Flamme loderte nur noch mehr. Offenbar beschloss der Verkehrspolizist, kein Risiko einzugehen, und kehrte zu seinem Posten zurück. Die Flamme stieg inzwischen über die Kabine hinaus, aber es gab immer noch keine Explosion. Die Kamera, die ich benutzte, stoppte die Aufnahme zum zweiten Mal; ich drückte erneut auf „Aufnahme“. Polizeiautos begannen, am Posten anzukommen.

Und dann gab es eine Explosion.

Alles wurde von einem Blitz erhellt, eine helle orangefarbene Flamme schoss etwa fünfzehn Meter hoch. Wir filmten weiter. Die Autos fuhren vom Posten der Verkehrspolizei weg, und in diesem Moment kamen unsere Genossen zurück. Alexej rief nervös: „Was macht ihr da, sie sind hinter uns her!“

Einem Beitrag der Anarcho-Communist Combat Organization zufolge war Dmitri derjenige, der zurückkehrte, um es noch einmal mit einem Streichholz zu versuchen – der in dem obigen Bericht Denis genannt wird, wenn man ihm Glauben schenken darf.

Der Bericht endete jedoch mit einer Ermahnung, die charakteristisch für Dmitris späteres Schreiben ist:

Man kann nicht die Macht ergreifen und den Menschen von oben herab Anarchie aufzwingen. Man kann nicht für sie eine Revolution machen und sie zwingen, in einer neuen Gesellschaft zu leben. Die anarchistischen Ideale werden nur dann siegen, wenn die Menschen ihre Stärke erkennen und die Verantwortung für ihr eigenes Leben und das der anderen übernehmen. Es geht also vor allem darum, das Vertrauen der Menschen in ihre eigene Kraft wiederherzustellen.

Die gleichen sozialen Spannungen, die in diesen heimlichen Aktionen zum Ausdruck kamen, kochten schließlich in Massenveranstaltungen zur Teilnahme an den Demonstrationen hoch. In ganz Russland beteiligten sich Hunderttausende von Menschen an der Oppositionsbewegung 2011-2012. Am 6. Mai 2012 endete der „Marsch der Millionen“ in Zusammenstößen mit der Polizei auf dem Moskauer Bolotnaja-Platz. Nach Angaben der Anarcho-Communist Combat Organization nahm Dmitri Petrov erneut an den Ereignissen auf dem Bolotnaja-Platz teil, zusammen mit dem Anarchisten Alexei Polikhovich und anderen, die anschließend inhaftiert wurden, weil sie versucht hatten, Demonstranten vor der gepanzerten Bereitschaftspolizei zu schützen.

Dies war wohl der Höhepunkt der politischen Möglichkeiten in Russland. In den darauffolgenden Jahren gelang es der Regierung Putins, das Land in den Würgegriff zu nehmen und systematisch alle Formen der Opposition zu vernichten oder zu assimilieren. Als wir im vergangenen August die Anarcho-Communist Combat Organization interviewten, führte sie den Beginn des Prozesses, der schließlich zur russischen Invasion in der Ukraine führte, auf die Niederlage dieser Bewegung zurück:

Theoretisch hätte die politische Krise von 2011-2012 Putins Herrschaft beenden können, wenn alle oppositionellen Kräfte geschlossener und radikaler gehandelt hätten. Die Anarchist*innen versuchten, den Protest zu radikalisieren, aber unsere Kräfte reichten nicht aus, und die Behörden beschlossen, die ersten schweren Repressionswellen zu starten.

Nach den Zusammenstößen auf dem Bolotnaja-Platz beteiligte sich Dmitri weiterhin sowohl an geheimen Aktionen als auch an der öffentlichen Organisierung. Die Anarcho-Communist Combat Organization berichtete uns in dem oben erwähnten Interview,

„Uns sind Beispiele bekannt, in denen es einigen Genoss*innen gelungen ist, über einen längeren Zeitraum hinweg ein Gleichgewicht zwischen öffentlichen Aktivitäten und dem Untergrund herzustellen und in beiden Bereichen recht aktiv zu sein.“

Im Jahr 2013 brach eine Protestbewegung gegen die Pro-Putin-Regierung der Ukraine aus, die in der ukrainischen Revolution vom Februar 2014 gipfelte. Obwohl Nationalist*innen die Anarchist*innen und andere Antiautoritäre verdrängten, um einen prominenten Platz in diesen Ereignissen einzunehmen, war dieses Ergebnis nicht vorherbestimmt; die Dinge hätten anders ausgehen können, wenn Anarchist*innen zahlreicher und besser vorbereitet gewesen wären. Die Gelbwestenbewegung 2018-2019 in Frankreich ist ein Beispiel für eine soziale Bewegung, bei der die Nationalist*innen zunächst im Vorteil waren, aber dann Anarchist*innen und Antifaschist*innen die Oberhand gewannen.

Während der Ausgang des ukrainischen Aufstands noch in der Schwebe war, reiste Dmitri Petrow nach Kiew, um an den Kämpfen auf dem Maidan, dem zentralen Platz der ukrainischen Hauptstadt, teilzunehmen. Nach Angaben von Vladimir Platonenko,

Im Februar 2014 verbrachte Ekolog [Dmitri] etwa zehn Tage auf dem Maidan, nachdem er eigens dafür in die Ukraine gekommen war. Er beteiligte sich an der Einrichtung des Ukrdom [das „ukrainische Haus“, ein Aufenthaltsort für Anarchist*innen und Antifaschist*innen während des Aufstands, das am 18. Februar niedergebrannt wurde], an der Lieferung von Lebensmitteln an die Stellungen und sogar an der Schlacht am 18. Februar. Gleichzeitig versuchte er jedoch ständig, eine anarchistische Komponente in der allgemeinen populären, komplexen und heterogenen Protestbewegung des Maidan zu entwickeln. Er beteiligte sich an einem Versuch, die „Linke Hundertschaft“ zu gründen, schuf ein „anarchistisches Regiment“ (mit anarchistischer Literatur) in der Bibliothek des Ukrdoms, erzählte den Maidan-Teilnehmer*innen von den Protesten zugunsten des Aufstandes, die in Moskau stattgefunden hatten, und von den Gründen für die Niederlage der Demonstrierenden. Er schwamm nicht mit dem Strom, sondern bestimmte den Lauf der Dinge nach seinen möglichkeiten mit.

Die Situation in der Ukraine war nie einfach. Im letzten Eintrag des Black Blogs vom Februar 2015 beschreiben die Redakteur*innen die Debatten darüber, ob es sich bei den Brandstiftungen in der Ukraine, die ihrer Plattform gemeldet wurden, um echte staatsfeindliche Aktivitäten oder um autoritäre Aktivitäten zugunsten Putins handelten. Anstatt eine oberflächliche oder geschönte Darstellung zu präsentieren, fassten die Autor*innen beide Ansichten zusammen, damit die Leser*innen ihre eigenen Schlüsse ziehen konnten – aber das war die letzte Aktualisierung des Black Blogs. Diese Debatte war ein Vorgeschmack auf die späteren Kontroversen darüber, wie sich Anarchist*innen im Krieg zwischen der russischen und der ukrainischen Regierung positionieren sollten.

In den Jahren nach seiner Teilnahme am ukrainischen Aufstand führte Dmitri ein Online-Tagebuch, in dem er seine Reisen zu Orten von natürlicher Schönheit und historischem Interesse, darunter Parks, Wälder und Museen in ganz Russland, dokumentierte. Er erwarb einen Doktortitel in Geschichte und beschäftigte sich mit anthropologischen Studien als Forscher am Zentrum für zivilisatorische und regionale Studien des Afrikanischen Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften.

Angeregt durch einen Artikel von David Graeber, reiste Dmitri nach Rojava, als der Krieg gegen den Islamischen Staat am heftigsten war. Er verbrachte dort sechs Monate. Danach, im Jahr 2017, sprach er in diesem Interview über seine Erfahrungen und beteiligte sich an dem Forschungsprojekt Hevale: Revolution in Kurdistan, das mehrere Bücher veröffentlichte.

Später schrieb er für die ukrainische linke Website Commons Artikel über die Auswirkungen von COVID-19 in Rojava und den Konflikt zwischen konföderalen und imperialen Modellen in Kurdistan.

Ukrainischen Antifaschist*innen zufolge „studierte er die revolutionäre Erfahrung der Kurd*innen gründlich, und obwohl er kritisch war, respektierte er sie und versuchte aufrichtig, ihre wertvollsten Lehren zu vermitteln.“ Nach eigenen Angaben wollte Dmitri „nicht nur die russische Linke über die soziale Revolution in Kurdistan informieren, sondern auch die antiautoritäre Weltanschauung mit den Kurd*innen selbst teilen.“

Dmitri fungierte als Verbindung zwischen der russischen anarchistischen Bewegung und dem sozialen Experiment in Rojava.

Im Jahr 2018 verließ Dmitri Russland. Zu diesem Zeitpunkt hatte Putins Regime die gewalttätige faschistische Bewegung des vorangegangenen Jahrzehnts gebändigt und ging dazu über, alle anderen sozialen Bewegungen zu zerschlagen. Es wurde zur gängigen Praxis des russischen Föderalen Sicherheitsdienstes, verdächtige Anarchist*innen und Antifaschist*innen zusammenzutreiben und sie mit Elektroschocks und anderen grausamen Methoden zu foltern, um sie zu zwingen, falsche Geständnisse zu unterschreiben, in denen sie ihre Beteiligung an erfundenen „Terrornetzwerken“ zugeben.

Wie Dmitri später gegenüber der Nachrichtenseite Doxa erklärte,

Ich habe es so lange wie möglich vermieden, das Land zu verlassen, aber als ich erfuhr, dass die Sicherheitskräfte an meiner bescheidenen Person interessiert waren, bin ich gegangen.

Er wählte die Ukraine als Zielort, da er die dortige Regierung für die am wenigsten erfolgreiche autoritäre der postsowjetischen Länder hielt. Im Doxa-Interview beschrieb er seine Aktivitäten nach seiner Ankunft dort:

In der Ukraine gab es Initiativen unter anarchistischen Emigrant*innen aus Russland und Weißrussland, eine Art Diaspora. Und so gab es viele verschiedene Dinge: vom Kino-Club über Diskussionen bis hin zu Straßenaktionen. Aber die Hauptsache war, dass man Kontakte knüpfte und versuchte, systematisch funktionierende Strukturen zu bilden.

Wie wir an anderer Stelle festgestellt haben, wird es immer wichtiger, Wege zu finden, um die Handlungsfähigkeit von Flüchtlingen in den Mittelpunkt zu stellen, da Kriege, staatliche Unterdrückung, ökologische Katastrophen und Wirtschaftskrisen Millionen Menschen ins Exil zwingen. Doch zur gleichen Zeit, als er sich in der Ukraine einrichtete, schien sich Dmitri aus der Ferne weiter mit Anarchist*innen in Russland zu organisieren. Der Telegram-Kanal Anarchist Combatant erschien im selben Jahr, 2018.

Laut der Anarcho-Communist Combat Organization,

Dima [Dmitri] war an allen Prozessen des Aufbaus der BOAC [Anarcho-Kommunistische Kampforganisation] beteiligt – an der theoretischen Arbeit, der praktischen Ausbildung und der Organisation von Schulungen und Kampfaktionen. Aber sein Hauptverdienst – und wir denken, das wird niemanden überraschen, der ihn kannte – war seine Fähigkeit, Verbindungen zu anderen Menschen, zu Genossen im In- und Ausland, herzustellen… Er war immer offen für neue Menschen. Er hat immer an das Beste in ihnen geglaubt – er hat sich mehr als einmal geirrt, aber er hat weiter geglaubt und gesucht.

2019 verkündeten die Redakteur*innen von Black Blog das Ende des Projekts. Vier Jahre waren vergangen, seit der letzte Beitrag erschienen war. Sie betonten, dass sie nach wie vor vom Wert der Strategie überzeugt seien, die sie 2009 eingeschlagen hatten:

Wir haben unsere Saat gesät, und wir sehen bereits Sprossen. Unsere Feinde – die Unterdrücker und ihre Handlanger in den „Machtstrukturen“ – können uns nicht aufhalten, so sehr sie es auch versuchen.

Wir tun diese Dinge nicht, um unser Ego zu befriedigen. Alles, was wir tun, tun wir nicht aus persönlichem Ehrgeiz, sondern um den Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit voranzutreiben. Wir sind überzeugt, dass wir erfolgreich waren. Und jetzt, zehn Jahre später, erklären wir dir, dass wir nach wie vor davon überzeugt sind, dass unsere antiautoritären Ideen richtig sind und der radikale Weg, den wir eingeschlagen haben, richtig ist. Der Kampf geht weiter.

Am 10. Juni 2020, auf dem Höhepunkt des George-Floyd-Aufstands in den Vereinigten Staaten und als Reaktion auf die Polizeigewalt in der Ukraine, setzten Anarchisten die Ermittlungsabteilung des Innenministeriums in Kiew in Brand und übermittelten ein Kommuniqué, das auf der Website Anarchist Combatant erschien. Damit dürften alle Zweifel ausgeräumt sein, ob Dmitri Frieden mit den ukrainischen Behörden schließen wollte.

In jenem Sommer, als in Weißrussland ein Aufstand ausbrach, überquerte Dmitri illegal die Grenze, um daran teilzunehmen. Laut weißrussischen Anarchisten,

Während seines Aufenthalts in Minsk nahm er an Dutzenden von Aufmärschen teil, half bei der Organisation eines anarchistischen Blocks auf Demonstrationen und schaffte es sogar, Polizist*innen mit ihren eigenen Blendgranaten zu bewerfen. Nachts, wenn viele Weißruss*innen ruhten, gingen Leshy [Dmitri] und andere Genoss*innen auf die Straßen von Minsk und zerstörten die Überwachungskameras, die eine wichtige Rolle in der Infrastruktur der Repression spielten… Im Herbst 2020 bereitete er mehrere Materialien für unsere Website vor. Wenn Sie jemals an der Seite einer anarchistischen Kolonne durch Minsk marschiert sind, stehen die Chancen gut, dass Sie Schulter an Schulter mit diesem unglaublichen Mann gegangen sind.

Der Aufstand in Weißrussland wurde schließlich niedergeschlagen; viele der beteiligten Anarchist*innen sitzen noch heute im Gefängnis, was die erheblichen Risiken aufständischer Aktivitäten im postsowjetischen Raum unterstreicht. Im September 2020 erschien ein Blogeintrag der Anarcho-Communist Combat Organization: ein Kommuniqué einer klandestinen Partisanenaktion in Belarus.

Wenn man sich den Entwicklungsverlauf ansieht, kann man Dmitris Weg vom Black Blog über die Aufstände von 2012, 2014 und 2020 bis hin zur Anarcho-Communist Combat Organization als die kontinuierliche Entwicklung einer einzigen Strategie interpretieren. Mit einer Mischung aus öffentlicher Aktivität und klandestiner Organisation versuchte er, ein Modell zu schaffen, das an die unbeständigen und gefährlichen Bedingungen der postsowjetischen Länder angepasst war, ein Modell, das sowohl dazu dienen konnte, Momente der Möglichkeit zu nutzen als auch Zeiten intensiver Repression zu überstehen. In dem Maße, wie staatliche Gewalt und Überwachung zunehmen, könnten Aktivist*innen in anderen Teilen der Welt feststellen, dass sie etwas Ähnliches brauchen.

Bereits vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar 2022 versuchte Dmitri gemeinsam mit ukrainischen und weißrussischen Anarchist*innen, eine explizit anarchistische und antiautoritäre Militäreinheit aufzustellen. Eine Funktion einer solchen Einheit war es, sicherzustellen, dass die Teilnehmenden nicht Seite an Seite mit Faschist*innen kämpfen mussten, die es in der ukrainischen Armee tatsächlich gibt. Darüber hinaus sah Dmitri in der Teilnahme an der Verteidigung der Ukraine eine Möglichkeit, anarchistischen Ideen in der ukrainischen Öffentlichkeit Glaubwürdigkeit zu verschaffen und seinen eigenen langjährigen Kampf gegen Putins Regime fortzusetzen.

Während der ersten Phase der russischen Invasion beteiligten sich Dmitri und seine Genoss*innen an der territorialen Verteidigung der Region um Kiew und wurden als unabhängige Einheit in die Territorialen Verteidigungskräfte integriert. Danach geriet ihr „antiautoritärer Zug“ in die Fänge der Militärbürokratie, die den Status der nicht-ukrainischen Mitglieder in die Schwebe brachte und die gesamte Einheit von den Kämpfen fernhielt.

Im Juli 2022 schrieb Dmitri eine Analyse der ersten vier Monate des „antiautoritären Zugs“, in der er seine interne Struktur erörterte und seine Erfolge und Misserfolge bewertete. Dies ist ein wichtiges historisches Dokument für alle, die sich dafür interessieren, inwieweit das in Rojava entwickelte Militärmodell unter anderen Umständen reproduziert werden kann. Es wird für jeden lehrreich sein, der über anarchistisches Engagement in militärischen Angelegenheiten diskutieren möchte, sei es, um es zu verbessern oder zu kritisieren.

Dmitri und die anderen Beteiligten des Zuges wollten unbedingt an die Front. Schließlich löste sich der Zug auf, und es gelang ihnen, in einer anderen Formation an die Front zu gehen. Als wir das letzte Mal von ihm hörten, erzählte er uns, dass er im Begriff war, diese Einheit zu verlassen, in der Hoffnung, noch einmal zu versuchen, eine explizit antiautoritäre Einheit aufzubauen.

Wir überlassen es anderen, darüber zu debattieren, ob Dmitris hartnäckige Versuche, eine anarchistische Militäreinheit zu gründen, die ehrenhafte Fortsetzung seines lebenslangen anarchistischen Projekts darstellen, eine fehlgeleitete Abkehr davon aufgrund eines Fehlers, der aus einem bereits vorhandenen Mangel darin entstand, oder einen mutigen Versuch, eine fast unmögliche Situation zu bewältigen. Wer seine eigenen Gedanken zu diesem Thema hören möchte, kann aus einer Reihe von Interviews wählen. Es darf nicht vergessen werden, dass er nicht nur in der Ukraine kämpfte, sondern auch weiterhin Sabotage und andere Formen subversiver Aktivitäten in Russland durch die Anarcho-Communist Combat Organization unterstützte, und er betonte weiterhin die Bedeutung von Autonomie, Horizontalität und direkter Aktion für den anarchistischen Kampf.

Die Aufrichtigkeit seiner Bemühungen steht auf jeden Fall außer Frage.


Meine lieben Freund*innen, Genosse*innen und Verwandten, ich entschuldige mich bei allen, die ich mit meinem Weggang verletzt habe. Ich schätze eure Herzlichkeit sehr. Ich bin jedoch der festen Überzeugung, dass der Kampf für Gerechtigkeit, gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit eine der würdigsten Bedeutungen ist, mit denen der Mensch sein Leben ausfüllen kann. Und dieser Kampf erfordert Opfer, bis hin zur völligen Selbstaufopferung.

Die beste Erinnerung ist für mich, persönliche Ambitionen und unnötige, schädliche Streitpunkte zu überwinden, wenn man aktiv weiter Kämpft. Wenn du weiterhin aktiv für eine freie Gesellschaft kämpfst, die auf Gleichheit und Solidarität beruht. Für dich und für mich und für alle unsere Genoss*innen. Risiko, Entbehrung und Opfer auf diesem Weg sind unsere ständigen Begleiter. Aber sei dir sicher – sie sind nicht vergebens.

-Dmitri Petrov letztes Statement

Dmitri Petrow (links), in Moskau bei der Präsentation des Buches Leben ohne Staat: Revolution in Kurdistan, dem zweiten Buch zum Thema, das er mitveröffentlicht hat.


In einem Interview, das im Dezember 2017 veröffentlicht wurde, sagte Dmitri: „Im Allgemeinen ist fast alles, was von Menschenhand geschaffen wird, die Frucht der Arbeit unzähliger Menschen.“ In diesem Sinne wollen wir Dmitri nicht als beispielhafte Figur hochhalten. Vielmehr gewährt uns sein Leben einen Einblick in das Leben vieler russischer Anarchist*innen, beleuchtet ihren Mut und die Herausforderungen, denen sie sich stellen mussten.

Vor allem aber ist Dmitris Leben ein Zeugnis dafür, dass auch unter schwierigsten Bedingungen viel möglich ist. Unter einer brutalen Diktatur und angesichts zunehmender Widrigkeiten fand er immer wieder Wege, sich zu organisieren und für die Zukunft zu kämpfen, die er sich wünschte.

Dies alles soll nicht den Tod im Kampf verherrlichen. Mit dem vorranschreiten des 21. Jahrhunderts verliert das Leben immer mehr an Wert – allein wenn man sich anschaut wie die Wagner-Gruppe Gefangene absichtlich als Kanonenfutter benutzt. Anarchist*innen sollten es nicht sonderlich eilig haben, ihr Leben zu riskieren – schon bald wird es viele Gelegenheiten geben, im Dienste einer Vielzahl von Ursachen zu sterben, oder für gar keine Ursache. Anstatt zu versuchen, unser Engagement durch unseren Tod zu beweisen, sollten wir unsere Leidenschaft für die Freiheit in der Art und Weise ausdrücken, wie wir jeden Moment unseres Lebens leben.

Doch in dem Maße, in dem der Autoritarismus auf der ganzen Welt zunimmt und sich der Krieg von Syrien bis zur Ukraine, von der Ukraine bis zum Sudan ausbreitet, werden auch wir möglicherweise die Fragen beantworten müssen, mit denen Dmitri konfrontiert war, als Russland in das Land einmarschierte, in das er geflohen war. Wenn wir auf diese Situation vorbereitet sein wollen – vor allem, wenn wir andere Antworten auf diese Fragen vorschlagen wollen -, müssen wir studieren, was sich in Russland abgespielt hat. Es mag sein, dass noch Zeit bleibt, damit sich die Dinge in anderen Teilen der Welt anders entwickeln, wenn wir mutig genug handeln – aber die Zeit wird knapp.

Wenn ein Anarchist stirbt, liegt es an uns, die wir überleben, die Erfahrungen dieses Genossen den künftigen Generationen zur Verfügung zu stellen. Wir können nicht mit Sicherheit wissen, welche Perspektiven diejenigen, die nach uns kommen, am meisten brauchen werden. In dem Bestreben, unseren Teil dazu beizutragen, haben wir den folgenden Artikel übersetzt, den Dmitri am 17. Juni 2020 über den Telegrammkanal ‚Anarchist Combatant‘ veröffentlichte und in dem er darlegt, was er als „Die Mission des Anarchismus in der modernen Welt“ ansieht.


Dmitri Petrov – oder jemand, der ihm nahesteht – hat diesen Artikel ursprünglich mit dieser klassischen Zeichnung von einer Platte der dänischen anarchistischen Punkband Paragraf 119 illustriert, die wir im Jahr 2021 koloriert haben.

Die Mission des Anarchismus in der modernen Welt

Es ist keine neue Idee, dass die großen Projekte zum Wiederaufbau der Welt heutzutage verfallen. Im zwanzigsten Jahrhundert mobilisierten mächtige Bewegungen Millionen von Menschen, um politisch gesehen den Himmel zu stürmen und „große Konstruktionen“ [im Sinne der Projekte der Sowjet-Ära, die auf die Neuerfindung der Gesellschaft abzielten] durchzuführen. Doch im Laufe des letzten Jahrhunderts gingen diese, eines nach dem anderen, sowohl ethisch als auch praktisch bankrott und verloren bald an Bedeutung. Hier sind in erster Linie der Faschismus und der Kommunismus der leninistischen Variante zu nennen. Selbst das scheinbar triumphale liberale Projekt hat sich in Wirklichkeit einfach in das globale kapitalistische System und das geopolitische Spiel aufgelöst, dessen Mechanismen kaum liberal sind.

Von den ehrgeizigen Ideokraten, die es wagen, die Welt im Einklang mit ihren Überzeugungen umzugestalten, ist vielleicht die Stimme der Dschihadisten die einzige, die heute laut ertönt. Doch der islamische Fundamentalismus ist offensichtlich nicht die Art von Projekt, für das sich ein Mensch mit einer anarchistischen Weltanschauung begeistern kann.

Die gescheiterten globalen Pläne am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts haben zu einem tiefen Pessimismus und einer Lähmung gegenüber der Idee der Transformation geführt. Die ersten Jahrzehnte des neuen Jahrhunderts haben jedoch deutlich gezeigt, dass das „Ende der Geschichte“ aufgehoben ist. Wachsende Instabilität, Aufmüpfigkeit und Unregierbarkeit haben sich manifestiert. Die Zahl der regierungsfeindlichen Demonstrationen unter einer Vielzahl von Slogans und Flaggen hat im Vergleich zur vorherigen Ära um mehrere Größenordnungen zugenommen.

Gleichzeitig besteht ein akuter Bedarf an grundlegenden Veränderungen in einem möglichst großen räumlichen Rahmen. Wir brauchen immer noch eine neue Welt, genau wie früher. Fast alles, was in der Gesellschaft existiert, ist inakzeptabel und kann weder als Rahmen für die Gegenwart noch für die Zukunft dienen.

Doch wie wird die veränderte Realität aussehen? Es gibt wenig verheißungsvolle Prophezeiungen von einer „schönen neuen Welt“, die ausschließlich von posthumanen Eliten regiert wird, oder umgekehrt von einem neuen Feudalismus und einer großen Spaltung, begleitet von einer Welle brutaler Grausamkeit. Begleitet werden diese Bilder von der Aussicht auf eine globale Umweltkatastrophe. Doch parallel zu diesen Varianten der Düsternis wird eine andere Tendenz immer deutlicher: der Wunsch nach direkter Demokratie, nach egalitärer Kollektivität, nach der Beseitigung von Ungleichheit und Unterdrückung, nach einem harmonischen Zusammenleben mit der Natur. Dieser Trend ist in viele verschiedene gesellschaftliche Strömungen „verstreut“, die sich noch nicht zu einem einheitlichen Strom formiert haben. Dennoch lassen sie die Relevanz des Anarchismus wieder aufleben.

In einer Zeit, in der sich alle anderen Missionäre als Betrüger oder Wahnsinnige erwiesen haben, ist die Zeit für die Anarchist*innen gekommen, sich auf ihre Mission zu besinnen und ihr globales Projekt wieder zu bekräftigen. Was könnten die gemeinsamen Merkmale sein?

Die Megamaschine auflösen

Die moderne Massengesellschaft ist in gigantischen städtischen Agglomerationen zusammengepfercht. Der größte Teil des menschlichen Lebens wird von den Gesetzen der Staaten sowie von den kapitalistischen Produktions-, Tausch- und Konsumtionsverhältnissen kontrolliert und gesteuert. Infolgedessen befindet sich der moderne Mensch in der Position eines Objekts, das von gigantischen maschinenartigen Kräften manipuliert wird. Gleichzeitig befinden wir uns in einem ständigen Aufruhr. Die moderne Welt ist gekennzeichnet durch den Schlaf der Vernunft und die Unterdrückung tiefer Gefühle, die durch momentane, von außen gesteuerte Wünsche ersetzt werden. Dieser Zustand ist der menschlichen Natur zuwider; er verursacht Unzufriedenheit, gefolgt von einer Sehnsucht nach etwas anderem.

Doch das monströse Ausmaß des Staates erfüllt uns mit Angst und Zweifeln: Könnten wir uns jemals aus seinem eisernen Griff befreien? Das endlose Kaufen und Verkaufen, das unser tägliches Leben entlang einer Million verschiedener Faktoren füllt, verschlimmert unsere Abhängigkeit und, was noch schlimmer ist, korrumpiert und verdreht uns wie von innen heraus.

Doch schon der Lauf des Lebens drängt den Menschen zur Rebellion – und eine Fülle historischer Belege zeigt, dass selbst die scheinbar allmächtigsten sozialen Systeme schließlich wie ein Kartenhaus zusammenbrechen, manchmal ganz unerwartet. Dies sind die Ausgangspunkte für unseren Kampf gegen die herrschende Ordnung. Die Megamaschine zu zerschlagen und zu demontieren ist die ehrgeizige Aufgabe, vor der die anarchistische Bewegung steht.

Neue Gemeinschaft

Wir erleben heute eine fortschreitende vereinzelung und Schwächung der kollektiven Bindungen. Die Nachbar*innen wissen immer weniger voneinander, und manchmal gehen sie sich sogar ganz aus dem Weg. Laute Familientreffen werden immer seltener und erzwungener.

Die Ursachen hierfür sind vielschichtig, und es ist nicht leicht, die wichtigsten herauszufiltern. Es gibt die wachsende Sphäre der individuellen Unterhaltung, die allgemeine Tendenz zur individuellen Bequemlichkeit, die immer durch „übermäßige“ Intimität bedroht ist, und den berüchtigten Egoismus, welcher der kapitalistischen Marktgesellschaft innewohnt und jede Beziehung in eine vorübergehende Interaktion zwischen zwei Konsumierenden zum gegenseitigen Nutzen verwandelt. Das Wort „Partner“ wird immer konventioneller; im Russischen suggeriert es Entfremdung und fungiert als eine Art Gegensatz zu Begriffen wie Geliebter, Freund, Genosse…

Wir betrachten die Krise der Kollektivität, der gemeinsamen Existenz der Menschen, als eine der katastrophalsten Folgen des Kapitalismus und der Staatsmacht. Neben der Moralisierung rein ethischer Natur verfügt die anarchistische Revolution auch über konkrete institutionelle Instrumente zur Schaffung dessen, was wir eine „neue Gemeinschaftlichkeit“ nennen könnten. Dazu gehören Versammlungen, Zusammenkünfte, kollektive Selbstverwaltungsorgane und wirtschaftliche Einheiten. Wenn der Parasit des Systems, der tief in das soziale Gefüge eingedrungen ist und uns voneinander getrennt hat, aus dem Körper der Gesellschaft herausgerissen wird, werden wir mit der Notwendigkeit konfrontiert sein, warme horizontale Bindungen wiederherzustellen und uns in solidarischen Banden zusammenzuschließen.

Die kollektive Gestaltung des sozialen Lebens wird in einem drastischem Gegensatz zu den heutigen sozialen Praktiken stehen. Die derzeitige Initiative der russischen Behörden, Briefwahlen zu organisieren, ist ein gutes Beispiel dafür – selbst bei einer Scheinwahl könnten nicht mehr so viele Fremde an die Wahlurne kommen.

Ja, wir wollen zusammenkommen, um Entscheidungen zu treffen, um in überfüllten und lauten Küchen Essen zuzubereiten, anstatt es in sterilen Tüten zu erhalten, um unsere Kinder auf der Straße mit Gleichaltrigen bekannt zu machen, anstatt sie allein vor einen Zeichentrickfilm zu setzen… Die Degradierung der Menschheit, die sich vor unseren Augen abspielt, kann gestoppt werden. Sie muss gestoppt werden.

Die Wirtschaft

Die Verwaltung von Menschen zum Zwecke der persönlichen Bereicherung, die Auffassung, dass alles in der Welt – sowohl das Lebendige als auch das Unbelebte – ein Rohstoff ist, mit dem man Profit machen kann, der krankhafte Luxus einer winzigen Minderheit durch die Beraubung der großen Mehrheit: Dies sind nur einige der auffälligsten Beispiele, die das moderne Wirtschaftsmodell charakterisieren. Sein Wesen steht im diametralen Gegensatz zu dem, was wir für gerecht und richtig halten. Alle Gründe, den Kapitalismus abzulehnen, lassen sich auf zwei Hauptthesen zusammenfassen: 1) Dieses Wirtschaftssystem ist unethisch, ungerecht und entwürdigend. 2) Es ist nicht in der Lage, einen angemessenen Lebensstandard für alle zu gewährleisten.

Geld- und Warenbeziehungen, Lohnarbeit, Investitionen, Bankkredite und Zinssätze sind so tief in unserem Alltag verwurzelt, dass es manchmal so scheint, als ob es unmöglich wäre, sie loszuwerden – als ob es ohne sie sofort Hunger und Niedergang gäbe.

Aber wir haben ihnen etwas entgegenzusetzen: Es ist die menschliche Arbeitskraft (viele Tausende von Menschen vergeuden heute ihre Arbeitskraft mit nutzloser Arbeit, mit sogenannten „Scheißjobs“); es ist die Arbeitserfahrung der Arbeiter, die es ihnen ermöglichen wird, eine herrschaftsfreie Wirtschaft aufrechtzuerhalten; es ist die Technologie, die es der Gesellschaft ermöglichen wird, ihr Produktions- und Verteilungssystem entsprechend ihren Bedürfnissen und Werten zu regulieren… Dies sollte ausreichen, um die Wirtschaft aus den Händen der Elite in die Kontrolle der Gesellschaft als Ganzes zu überführen, um die gerechte Verwaltung der Produktion durch die arbeitenden Menschen zu gewährleisten und den Grundsatz „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ zu verwirklichen.

Die Aufgabe der anarchistischen Bewegung besteht darin, in der Gesellschaft durch Wort, Tat und Beispiel ein Verständnis für die Prinzipien der wirtschaftlichen Gerechtigkeit zu verankern und nach dem Sturz des Staates und der Kapitalisten „einen Raum freizumachen“ – die sozialen und politischen Bedingungen für ihre Verwirklichung zu schaffen.

Die Beseitigung von Diskriminierung

Die moderne Gesellschaft ist von Diskriminierung aus den verschiedensten Gründen geprägt. Menschen werden aufgrund einer breiten Palette von Eigenschaften und Merkmalen diskriminiert. Die Gründe dafür sind unter anderem jahrhundertealte oder neue Vorurteile, das Prinzip der kollektiven Verantwortung und die Entfremdung der Menschen voneinander in einer von kapitalistischen Verhältnissen durchdrungenen Welt.

Vorurteile und kollektive Verantwortung werden von skrupellosen Politikern gekonnt manipuliert.

Die Unterdrückung der Geschlechter ist eine der ältesten und schädlichsten Formen der Diskriminierung. Obwohl sich die Situation in Osteuropa wie auch in der „westlichen Welt“ im Vergleich zur offen patriarchalischen Vergangenheit deutlich verändert hat, werden Frauen weiterhin unterdrückt. Dies wird durch Daten über häusliche, sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt sowie durch die Unterschiede bei den Durchschnittseinkommen bestätigt. Praktiken und Verhaltensmuster, die Frauen denunzieren, behalten ihre Kraft. Ein Beispiel dafür ist die Einstellung, dass „Politik keine Frauensache“ ist. Es gibt viele solcher unsichtbaren kulturellen Hindernisse in unserer gesellschaftlichen Realität, die Frauen daran hindern, ihr volles Potenzial auszuschöpfen.

Und es gibt noch ein weiteres Detail, das oft unbemerkt bleibt, obwohl es eines der wichtigsten ist. Die Beziehungen zwischen allen Menschen sind im Allgemeinen durch Geschlechterstereotypen und die darin verankerte gegenseitige Konsumhaltung und den Egoismus vergiftet. Aus diesem Grund verursachen selbst die scheinbar intimsten Beziehungen Schmerz und Unglück. Die kapitalistische und autoritäre Weltanschauung verhindert das Entstehen wahrer Intimität.

Die Mission des Anarchismus ist es, echte Schwesternschaft/Brüderlichkeit zwischen Menschen zu erreichen, die über jede Gruppenidentität hinausgeht. Um dies zu erreichen, stehen uns verschiedene Instrumente zur Verfügung:

1) die kollaborative Praxis des Aufbaus und der Verwaltung der Gesellschaft, die eine gleichberechtigte Zusammenarbeit und gegenseitige Wärme zwischen allen Teilnehmern des Prozesses erfordert;

2) eine revolutionäre politische Kultur, die die bewusste aktive Beteiligung von Vertreter*innen aller unterdrückten Gruppen an den gemeinsamen sozialen Anstrengungen erfordert;

3) schließlich ein Programm der Bildung und der Entwicklung von Lese- und Schreibfähigkeiten, das den Menschen hilft, Vorurteile hinter sich zu lassen.

Der Ehrgeiz des anarchistischen Projekts besteht also darin, durch die Beseitigung der Diskriminierung die zwischenmenschlichen Beziehungen zu verbessern und, so naiv dies auch klingen mag, die Nächstenliebe wieder in unser Leben zu bringen. Kapitalismus und Autoritarismus stehen dem im Wege, aber sie sind keine unüberwindbaren Hindernisse.

Nationale Konflikte lösen

Seit Menschengedenken wird die menschliche Gesellschaft durch gewalttätige Auseinandersetzungen erschüttert und terrorisiert, die durch ethnische oder nationale kulturelle Unterschiede motiviert sind. Daneben wurden weitere Kriterien erfunden und hinzugefügt, darunter religiöse und rassische Unterschiede. Internationale und interethnische Konflikte erreichten eine neue Intensität im Zeitalter der Nationalstaaten, die bis heute die wichtigste Form der politischen Organisation sind. Mit ihrem Entstehen wurde die Frage, welche Nation das legitime Recht hat, einen bestimmten Staat zu regieren, mit äußerster Dringlichkeit gestellt. Welches Land „gehört“ rechtmäßig zu welcher nationalen Gruppe? Das Ergebnis war das unermessliche Leid von Millionen unschuldiger Menschen: Zwangsassimilation, Massendeportationen und schließlich brutale Massenmorde. Und trotzdem, nach all dem, flammen überall auf der Welt immer wieder nationale Konflikte auf.

Kaum ein anderer imaginärer Widerspruch in der Geschichte der Menschheit hat so schreckliche Folgen gehabt wie der ethnische Konflikt. Nationale Konflikte beruhen oft auf den Interessen nationaler politischer und wirtschaftlicher Eliten und staatlicher Bürokratien sowie auf den unwissendsten Vorurteilen und verzerrten Vorstellungen über die eigenen Nachbarn – die Anderen, die Vertreter anderer nationaler Gruppen.

Der Idee des nationalen Konflikts liegt die Frage zugrunde: „Wir oder die?“ Der Anarchismus bietet eine Alternative: „Sowohl wir als auch sie, gemeinsam und gleichberechtigt“. Indem sie den Nationalstaat ablehnen, der nichts anderes als ein Instrument der Unterdrückung und der Ungerechtigkeit ist, öffnen Anarchist*innen den Weg zur Konföderation: die gleichberechtigte Zusammenarbeit der Völker in allen Territorien. Ein und dasselbe Land kann sowohl serbisch als auch albanisch, armenisch und aserbaidschanisch sein… die Liste ist endlos. Gleichheit und Selbstverwaltung, die sozialen Säulen des Anarchismus, sind die unabdingbaren Voraussetzungen für einen fruchtbaren und für beide Seiten vorteilhaften Dialog zwischen den Kulturen. Die Notwendigkeit dieses Dialogs ist nicht geringer geworden – im Gegenteil, sie hat sich im einundzwanzigsten Jahrhundert noch verstärkt.

Reharmonisierung mit der Natur

Es ist seit langem bekannt, dass der Kapitalismus im Besonderen und die sich ständig ausweitende Wirtschaft und der Konsum im Allgemeinen eine äußerst zerstörerische Wirkung auf die Natur haben. Ebenso die Erkenntnis, dass dieser Entwicklungsfaktor die Menschheit und den Planeten, den wir Heimat nennen, zu zerstören droht.

Wir möchten das Problem näher beleuchten. Das heute vorherrschende anthropozentrische Weltbild und die damit verbundene Lebensweise ist ein besonderer Fall einer hierarchischen Einstellung zur Welt und zum Sein als Ganzem. Die Natur ist „die Werkstatt des Menschen“… Diese Sichtweise ist weder natürlich noch ethisch oder akzeptabel. Die wahre Emanzipation der Menschheit kann erst dann stattfinden, wenn wir unsere Entfremdung von der Natur überwinden und in den Einklang mit ihr kommen.

Welche ökologischen Maßnahmen kann der Anarchismus anbieten? Die moderne Technologie sollte von der Profitmaximierung auf den Erhalt und die Wiederherstellung der Natur umgestellt werden, ebenso wie auf die Schaffung angemessener materieller Lebensbedingungen für alle. Idealerweise sollten wir der extensiven Ausweitung des zerstörerischen Einflusses des Menschen auf die Natur ein Ende setzen. Das Wissen und die Fähigkeiten, die die Menschheit angesammelt hat, sollten es ermöglichen, diese Aufgabe zu erfüllen oder zumindest auf ihre Erfüllung hinzuarbeiten.

Es ist von größter Wichtigkeit, den Lebensraum neu zu organisieren und die monströse Megalopolis als menschliche Wohnform abzuschaffen. Die Siedlung muss im Verhältnis zum Menschen stehen, so subjektiv das auch klingen mag. Die leblose anthropogene Landschaft, die den Menschen von den natürlichen Prozessen abschneidet, muss der harmonischen Einbindung von Siedlungen in die natürliche Landschaft, der Verflechtung von Natur und Mensch weichen.

Hier und Jetzt

Der unerträgliche Zustand unserer gegenwärtigen Situation… und die Umrisse einer erneuerten Welt, wie prophetische Träume, bewegen unseren Verstand und unsere Herzen. Dies sind die Mobilisierungspunkte, die uns davon abhalten, aufzugeben und zu akzeptieren. Deshalb sind wir bereit, Anstrengungen zu unternehmen, Risiken einzugehen und Opfer zu bringen, um eine neue Gesellschaft zu schaffen. Ein organisierter revolutionärer Kampf ist der Weg, auf dem wir das in diesem Text skizzierte Ziel erreichen werden. Der Sieg ist möglich – und deshalb müssen wir siegen.

Phil Kuznetsov [Dmitri Petrov]
Anarchistischer Kämpfer


We are indebted to the Anarchistisches Netzwerk Dresden for this translation.

  1. One of Dmitry’s virtues, at least in our communication with him, was that he retained a humble, open-minded approach to strategy while nonetheless acting decisively. This stands in stark contrast to the strident voices on every side of the debate about the Russia-Ukraine war who lecture each other from a position of absolute certitude without ever having set foot in either country. In the interview we published at the beginning of 2022, asked how he might answer those who charged that participating in the military defense of Ukraine would make anarchists into accomplices of the Ukrainian government, Dmitry responded, “First of all, I would answer them—thanks, this is a valuable critique. We really need to evaluate how to intervene so as not to just become a tool in some state’s hands.” In the last message we received from him, in March 2023, he concluded, “If you have any questions, if you have any advice, any thoughts, any analysis to share, I would be super happy to hear it, and super interested.” This is a remarkable thing for a person who is risking his life daily to say to people far away in conditions of relative safety.