Es gibt Dinge, für die es sich lohnt, den Tod zu riskieren. Die Aufrechterhaltung des Kapitalismus gehört nicht dazu. Zurück an die Arbeit zu gehen – mit dem Risiko, COVID-19 zu verbreiten oder daran zu sterben –, damit die Reichen weiterhin Gewinne erzielen können, gehört ebenfalls nicht dazu.
Wenn das Problem darin besteht, dass die Menschen darunter leiden, dass die Wirtschaft stillgelegt wird, ist die Lösung klar. Die Menschen haben bereits unter der Wirtschaft gelitten als diese noch regulär lief. Die Ungleichheiten, die sie geschaffen hat, sind einer der Gründe, warum einige Menschen so verzweifelt wieder arbeiten wollen – aber in einer gewinnorientierten Ökonomie werden die Ungleichheiten umso größer, je besser die Wirtschaft läuft.
Praktisch alle Ressourcen, die die Menschen benötigen, sind bereits vorhanden oder könnten durch freiwillige Arbeit auf viel sichererer Grundlage hergestellt werden – es besteht keinerlei Anlass die Ärmsten und Gefährdetsten wieder zur Lohnarbeit zu zwingen oder Spargel ernten zu lassen (und das unter dem Risiko das Virus zu verbreiten oder daran zu sterben). Statt zur Tagesordnung überzugehen, müssen wir den Kapitalismus ein für alle Mal abschaffen.
Warum wollen manche Menschen, dass sich COVID-19 ausbreitet?
Die Anhänger von Donald Trump (und in Deutschland von Gauland bis Lindner) fordern die sofortige Wiederaufnahme der Wirtschaft um jeden Preis: Sie setzen darauf, dass sie, wie Rand Paul und Boris Johnson, nicht diejenigen sein werden, die sterben.
Logisch, dass die Nutznießer*innen des Kapitalismus eine Pandemie begrüßen, die einen Teil der widerspenstigen Bevölkerung auslöschen könnte. Die Unterscheidung zwischen »unentbehrlichen« und »entbehrlichen« Arbeiter*innen hat dies für alle sichtbar gemacht: Ein großer Teil der Bevölkerung ist für die industrielle Produktion und die internationale Logistik nicht mehr unentbehrlich. In einer unbeständigen Welt hat die immer erschwinglichere Automatisierung die Zornigen und Prekären zur bloßen Belastung für die Machthaber*innen reduziert.
Wir sind noch nicht desensibilisiert genug um uns vorzustellen, dass diejenigen, die uns regieren, offen darüber sprechen, dass der Tod von Millionen ein lohnender Preis für ein Weiterfunktionieren der Wirtschaft sein könnte. Auf Fox News gab es Versuche, den Diskurs dahingehend zu verschieben und in der Neuen Zürcher Zeitung wird ganz unverfänglich über »Senizid« diskutiert. Sind wir nicht bereits desensibilisiert gegenüber Arbeitsunfällen, Luftverschmutzung, globalem Klimawandel und ähnlichem?
»Wenn sie lieber sterben würden«, sagte Scrooge, »so wäre es gut, wenn sie es thäten, und die überflüssige Bevölkerung verminderten.«
-Der Weihnachtsabend, Charles Dickens
Aber warum sollten Arbeiter*innen die Wiedereröffnung der Wirtschaft fordern?
Wenn das Höchste, was mensch sich vorstellen kann, ist, endlich wieder ausgebeutet zu werden.
Wenn die logische Folge davon, dass ein großer Teil der Bevölkerung für den Kapitalismus überflüssig ist, eine größere Bereitschaft der herrschenden Klasse ist, unser Leben zu opfern, – dann ist es nicht überraschend, dass Arbeiter*innen, die sich nichts anderes als den Kapitalismus vorstellen können, auch eher bereit wären, andere Arbeiter*innen sterben zu sehen.
Über die wirtschaftlichen Auswirkungen der Beulenpest schreibt Silvia Federici in Caliban und die Hexe, »dass die von der Epidemie hervorgerufene Arbeitskräfteknappheit die Machtverhältnisse zugunsten der Unterklassen veränderte«. Federici wollte damit die Aufmerksamkeit auf die mächtigen Arbeiterbewegungen Ende des Mittelalters lenken, heute jedoch können wir aus dieser Analyse düstere Schlussfolgerungen ziehen. Auf ähnlich falsche Weise, auf die Fanatiker*innen sich vorstellen, dass die Abschottung vor Einwanderung hochbezahlte Arbeitsplätze für weiße Bürger sichern würde, könnten sie zu dem Schluss kommen, dass die Überlebenden umso besser verdienen, je kleiner die Arbeiterklasse ist.
Dies ist derselbe Teil der Arbeiterklasse, der Kriege immer begrüßt und für gedankenlosen Gehorsam gegenüber der Autorität eingetreten ist – diejenigen, die ihre Privilegien als Bestechung akzeptierten, um sich nicht mit anderen Arbeiter*innen solidarisch zu zeigen. In Ermangelung kämpferischer Traditionen, war schon immer ein großer Teil der deutschen Arbeiterklasse auf das eigene Glücksversprechen hinter dem fein säuberlich gepflegten Gartenzaun fokussiert. Viele Konservative scheinen den Traum ökonomischer Sicherheit, den ihre Eltern noch hatten, aufgegeben zu haben und konzentrieren sich nur noch darauf, dass es anderen ja noch schlechter geht und gehen sollte. Die AfD und andere rechte Kräfte versprechen ihnen nicht die Umverteilung des Wohlstandes, sondern die Umverteilung der Gewalt.
Diese Bereitschaft, den Tod zu riskieren, in der Hoffnung, andere (wahrscheinlich weniger privilegierte) Arbeiter*innen sterben zu sehen, kann als Verschwörungstheorie über das Virus oder sogar als völlige Leugnung seiner Existenz verschleiert werden – aber im Grunde genommen ist es eine Schadenfreude der schlimmsten Art.
twitter.com/speculawyer/status/1251264430731456512
Freiheit verteidigen?
Doch auch hier ist noch etwas anderes im Gange. Einige jener, die in den letzten Wochen protestierten, verstanden sich als Verteidiger*innen der Grundrechte und des Grundgesetzes – sie sehen sich dabei einer großen Verschwörung seitens der Regierung gegenüber, die vollkommen überzogen auf COVID–19 reagiere (oder es gleich erfunden habe und wenn nicht, dann war es halt Bill Gates). Dabei übersehen sie, dass es genau die gleiche Regierung ist, die momentan erfolgreiche Maßnahmen lockert und wieder Kinder zur Schule schickt. Dass diese Demonstrationen ein Hot-Spot von Verschwörungstheoretiker*innen aller Couleur bis hin zu waschechten Nazis ist, wird bei der »Dringlichkeit« des Anliegens geflissentlich ignoriert. Ihre Slogans könnten auch ehrlicherweise lauten: »Töten Sie alle Einwanderer und Gefangenen – wir brauchen eine neue Diktatur der Freiheit – gegen Chemtrails und die NWO – lasst mich einfach an meinem gemütlichen Arbeitsplatz an COVID-19 sterben!«
Trump Fan bei der »Hygiene-Demo« in Berlin, 18.04.2020. Foto vom Recherche-Netzwerk Berlin
In dieser Sichtweise sind die Proteste gegen die Maßnahmen auf verwirrte Weise Teil eines weltweiten Rückschlages gegen den autoritären Staat und seine Lockdown-Maßnahmen.
In Russland haben Demonstrationen als Reaktion auf die Quarantänebedingungen und die Existenz des Virus zu offenen Auseinandersetzungen geführt, was in der Tat selten ist in Putins totalitärem Regime. In Frankreich kam es in mehreren Städten und Vorstädten, wie in Villeneuve-la-Garenne, zu Unruhen, nachdem die Polizei im Schatten der Quarantäne fünf Menschen ermordete und viele weitere verletzte; während der andauernden Repression erschossen Beamt*innen ein fünfjähriges Mädchen mit einem Gummigeschoss LBD40 und brachen ihr den Schädel. In Peru hat die Polizei Massen verarmter Flüchtlinge angegriffen, die versuchten, aus der Hauptstadt in ihre Heimatdörfer zu fliehen, da ihnen während der Abriegelung die Ressourcen ausgegangen waren.
All diese Beispiele zeigen, wie schlecht kapitalistische Regierungen, die auf ihrem Gewaltmonopol basieren, ausgerüstet sind, um die Art von Quarantänen aufrechtzuerhalten, die die Ausbreitung einer Pandemie verhindern können. In einer Gesellschaft, in der fast der gesamte Reichtum in wenigen Händen konzentriert ist, in der staatliche Erlasse mit Gewalt durchgesetzt werden, fehlt es einem großen Teil der Bevölkerung an Mitteln, um eine solche Katastrophe isoliert durchzustehen. Die meisten Menschen, die die soziale Distanzierung aufrechterhalten haben, haben dies aus Sorge um die gesamte Menschheit getan, unter großen Kosten für sich selbst, nicht wegen der Gewalt, die der Staat ihnen androhte. Die staatliche Durchsetzung der Quarantäne war, gelinde gesagt, ungleichmäßig, zum Beispiel hat der Gouverneur von Florida professionelle Wrestling als essentiell deklariert – und weltweit bleibt die Polizei, der es nach wie vor erlaubt ist sich zu versammeln, ein blinder Fleck.
Da es keine starke Bewegung gegen den zunehmenden Autoritarismus gibt, kann es passieren, dass sich Menschen, die über die Machtübernahme des Staates besorgt sind, an »Protesten« beteiligen, wie jenen, die in den USA Trump auffordern den Lockdown aufzuheben oder jenen, die in Berlin in punkto Verschwörungsglauben einen auf Xavier Naidoo machen. Dies ist eines der Markenzeichen einer autoritären Gesellschaft: dass die Menschen keine andere Wahl haben, als eine der Fraktionen zu unterstützen, die alle totalitäre Visionen verfolgen.1
So verständlich das Interesse an kritischer Bildung und Forschung zu Corona sein mag, so absurd und falsch ist es auch mit jenen auf die Straße zu gehen, die die Existenz des Virus einfach komplett leugnen – die Basis dieses Leugnens ist im besten Fall der Wunsch des »zurück-zur-Normalität«, eine Normalität, die bereits vor dem Virus eine Katastrophe für viele war, im schlimmsten Fall ist sie einfach nur eines: Antisemitismus! Verschwörungstheorien geben zumindest unbewusst jenen Schützenhilfe, die uns und alle anderen koste es was es wolle wieder auf den Arbeitsplatz, in die Schule, in den Regelvollzug und zurück in die Verwertungslogik drängen wollen.
Shoa Relativierung bei der »Hygiene-Demo« in Berlin, 18.04.2020. Foto vom Recherche-Netzwerk Berlin
Statt zwischen der Unterwerfung unter einen fürsorglichen, technokratischen Staat und seinen Corona-Überwachungsmaßnahmen und dem Risiko bei der Aufrechterhaltung des Marktes eventuell an COVID-19 zu sterben, müssen wir eine andere Option einbringen: ein Kampf gegen Kapitalismus und Autoritarismus jeglicher Couleur von unten.
In gewissem Maß sind die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen eine von Baisinitiativen von unten gestartete Lobbystrategie, die dabei hilft (gewollt oder nicht) das Overton-Fenster so zu verschieben, dass gewisse Politiker*innen sich eine reguläre Wiedereröffnung der Wirtschaft vorstellen können und dies auch äußern können. Das gilt für die Proteste in den USA ebenso wie für die in Deutschland.
Um unser Leben und das Leben unserer Nachbar*innen zu schützen, Zugang zu Ressourcen zu erhalten, Freiheit zu erlangen – gibt es nur einen Weg: Wir müssen rebellieren. Dagegen für die Interessen des Marktes tödlicher Gefahr ausgesetzt zu werden und gegen jene, die die Schuld an der Misere einzelnen Menschengruppen zuschreiben wollen.
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Kapitalismus ist ein Todeskult.
Für den Markt zählt nichts anderes als der Profit. Wälder sind nur als Holz oder Toilettenpapier von Wert; Tiere haben nur einen Wert als Hot Dog oder Hamburger. Die kostbaren, unwiederbringlichen Momente deines Lebens bekommen nur einen Wert als Arbeitsstunden, die von den Imperativen des Handels bestimmt werden. Der Markt belohnt Vermieter*innen für die Vertreibung von Familien, Chefs für die Ausbeutung von Angestellten, Ingenieurinnen für die Erfindung von Todesmaschinen. Er trennt Mütter von ihren Kindern, treibt Arten in die Ausrottung, schließt Krankenhäuser, um privatisierte Gefängnisse zu öffnen. Er dezimiert ganze Ökosysteme zu Asche, spuckt Smog und Aktienoptionen aus. Wenn die Welt sich auf ihn verlässt, wird sie in einen Friedhof verwandelt.
Es gibt Dinge, für die es sich lohnt, unser Leben zu riskieren. Die Aufrechterhaltung des Kapitalismus gehört nicht dazu. Wenn wir unser Leben riskieren müssen, dann sollten wir es für etwas Sinnvolles riskieren – wie zum Beispiel eine Welt zu schaffen, in der niemand für ein Gehalt den Tod riskieren muss. Das Leben des Marktes bedeutet den Tod für uns.
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Weiterlesen:
- Cholera revolts: A Class Struggle We May Not Like
- From the Cholera Riots to the Coronavirus Revolts—The more punitive the approach to public health, the fiercer the backlash.
-
Befürworter des rivalisierenden Autoritarismus versuchen, uns bei solchen binären Entscheidungen in die Falle zu locken: Wenn wir zum Beispiel die Augen davor verschließen, dass Facebook die »Pro-Trump-Proteste« zensiert, können wir sicher sein, dass eine solche Zensur in Zukunft gegen unsere eigenen Demonstrationen eingesetzt wird. Ähnliches gilt für Repression gegen Coronaleugner-Demos. ↩