Jetzt, wo sich die Vereinigten Staaten nach einer ruinösen zwanzigjährigen Besatzung aus Afghanistan zurückgezogen haben, sehen wir die Anschläge des 11. Septembers 2001 in einem anderen Licht. Islamistische Jihadisten haben das Empire in einen desaströsen „Krieg gegen den Terror“ gelockt, von dem sie wussten, dass er mehr Menschen auf ihre Seite polarisieren würde, obwohl er unvorstellbare Tragödien auf allen Seiten auslöste – vor allem für jene, gegen die sich die imperialistische Gewalt richtete. Von den ursprünglichen Angriffen bis zur Antwort der US-Regierung war die gesamte Affäre darauf ausgerichtet, Konflikte, die ihren Ursprung in kapitalistischem Kolonialismus hatten, zu einem Religionskrieg zu machen, der das Spektrum der Möglichkeiten auf die Wahl zwischen rivalisierenden Militarismen verengen würde.
Die Besatzung Afghanistans durch die USA hat die Macht der Taliban in den zwanzig Jahren keinesfalls reduziert, vermutlich hat sie sie eher gestärkt. Die Besetzung des Iraks bereitete dem ISIS die Bühne und sträkte ihn, dies wurde nur durch mehr oder weniger autonomen Widerstand in Rojava gestoppt.
Die Wahl zwischen kolonialem Militarismus und fundamentalistischen Militarismus endet darin, die Terroristen gewinnen zu lassen. Nicht nur diejenigen, welche die Anschläge des 11. Septembers geplant hatten, sondern diejenigen, die von ihnen einen Vorteil hatten, indem sie ihre profitorientierte kapitalistische Ressourcenausbeutung im mittleren Osten weiter vorangetrieben haben. Es gibt andere Visionen, andere mögliche Zukunftsentwürfe, und wir sollten uns darum kümmern, dass diese nicht begraben werden.
Eine Art dies zu tun, ist sich die sozialen Bewegungen, die den Anschlägen des 11. Septembers und der darauf folgenden Invasion und Besatzung vorangegangen waren, noch einmal anzusehen. Am 11. September 2001 waren Anarchist*innen und andere in eine einflussreiche Bewegung gegen die kapitalistische Globalisierung involviert. In den Vereinigten Staaten bereiteten sich Tausende auf den zu erwartenden Showdown anlässlich des bevorstehenden Treffens des International Monetary Funds in Washington DC vor. Basierend auf einflussreichen Mobilisierungen in London, Seattle, Québec und Genua, hatten sie die Hoffnung, sie würden eine weltumspannende Bewegung unterstützen, die den Kapitalismus abschaffen, und durch horizontale soziale Strukturen ersetzen würde. Strukturen die auf Solidarität und gegenseitiger Hilfe basieren. Die Anschläge und der daraus resultierende Krieg haben dazu beigetragen, diese Bewegung zu schwächen, aber es gibt sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch immer – und sie bleibt wahrscheinlich unsere einzige Hoffnung den ökologischen Zusammenbruch zu überleben.
Obwohl die IMF-Proteste nie richtig stattfanden, versammelten sich am 30. September 2001 dennoch Tausende zu den ersten wirklichen Anti-Kriegsprotesten des 21. Jahrhunderts. Sie protestierten gegen die Invasion in Afghanistan durch die USA, zu einem Zeitpunkt, zu dem sich niemand sonst traute, den militaristischen Bilateralismus der amerikanischen Regierung zu kritisieren. Nicht zu vergessen, dass Anarchist *innen diese Demonstration anführten, und Zusammenstöße mit der Polizei hatten, mit dem Ziel, alle vor einem desaströsen Krieg zu schützen.
Im folgenden Bericht beschreiben zwei junge Anarchist*innen, die nach DC gekommen waren, um gegen den IMF zu mobilisieren, wie sie die Anschläge am 11. September erlebt haben, während derer sie vor dem brennenden Pentagon standen, und in die brennende Zukunft blickten, in der wir nun leben. Dieser Text ist ein Artefakt einer unschuldigeren Zeit – und eine Dokumentation des Moments, in dem diese Unschuld verloren ging. Er ist außerdem streckenweise zum Schreien komisch.
Der folgende Text ist eine bearbeitete Version des Textes, der 2006 in Rolling Thunder erschienen ist. Für eine anarchistische Analyse der Bedeutung der Anschläge vom 11. September könnte mensch mit diesem Text beginnen.
Der wahnsinnigste Spaziergang aller Zeiten
„Hast du die Nachrichten gehört? Die Motherfucker haben gerade jemanden in Italien umgebracht!“1
„Wir werden die Nächsten sein, in DC. Und Genua ist nichts im Vergleich zum Zentrum des Geschehens. Es ist ein fucking Krieg, und es wird Tote geben.“
Die Zeit gibt einem immer ein seltsames Gefühl für die Perspektive der Ereignisse. Nichts hat sich grundlegend verändert. Der Feind ist noch immer derselbe, und auch was ich will ist noch immer dasselbe, das ist selbstverständlich Anarchie.
Am Morgen des Tages, an dem sich diese Geschichte ereignete, waren wir bereit zu sterben. Wir waren nicht so ganz sicher, was das bedeutet, aber ich bin ziemlich sicher, dass es zumindest entfernt damit verwandt war, was verbitterte junge Männer und Frauen in Palästina fühlen. Ich weiß es nicht, und die, welche für die Sache gestorben sind, kommen nicht zurück und erzählen wie es war.
Es war der 11. September 2001 und ich war hungrig, dreckig, erschöpft und ganz und gar glücklich. Ich erwachte in meinem staubigen Schlafsack auf dem Boden eines eigenartigen kleinen Kellers, neben meinen zwei Freund*innen, die noch schliefen. Ich war nicht nur hungrig, ich musste auch pinkeln, im Idealfall an einem einigermaßen hygienischen Ort. Nebenan gab es keine Tür – nur eine Art methaphysischer Tür, wo eine echte Tür hätte sein sollen – und ich konnte die stürmischen Geräusche von zwei Menschen, die sich lautstark dem Akt des revolutionären Liebemachens hingaben, hören… und sie blockierten meinen Weg ins Bad und in die Küche.
Die Details sind mir entfallen, ich bin eigentlich sogar recht sicher, dass ich sie gar nicht kannte, ich war irgendwie in dieser Wohnung gelandet, bereit gegen Kapital und Staat Krieg zu führen. Es war eine ziemlich große Wohnung, groß genug, dass ungefähr ein Dutzend Späher*innen für die anstehenden Proteste gegen den Gipfel des Internationalen Währungsfonds hineinpassten. Unsere Aufgabe war simpel – wir machten Propaganda für alle, die auftauchen: Poster, Flyer, Kleister und der unvermeidliche, schlecht kopierte und verwirrende Stadtplan der Stadtmitte von DC. Wir hatten die Hoffnung, letzteren zu verbessern.
Ich war einfach fucking happy. Manchmal ist das Leben hart, voll von komplizierten Entscheidungen, persönlichen Tragödien und trostlosem Überdruss in bedeutungslosen Jobs. In den besseren Zeiten gab es keinen Job und die Herausforderung war herauszufinden, wo der nächste Container mit Gemüse war, und einen nicht zu nassen Platz für meinen Schlafsack zu finden. Aber hier war ich nun, und diese beiden Probleme waren gelöst. Die Wohnung im Untergeschoss, die uns auf zwielichtigem Wege vom Freund, einer Freundin, eines Freundes angeboten worden war, war das perfekte Versteck. Man konnte von da aus aufs Weiße Haus und den größten Teil der Innenstadt spucken und – wie alle gute Verstecke – hatte es einen deutlichen Mangel an Fenstern. Es war versteckt durch die Anonymität eines entmenschlichenden Mietblocks. Das Nahrungsproblem war beseitigt, durch das Füllhorn von Containern der nahen Vorstädte, wo eine bestimmte Bio-Kette geradezu überfloss an Brot und Gemüse, bei denen der Zersetzungsprozess kaum begonnen hatten – und einer Menge absolut vegan-unfreundlicher zuckriger Süßigkeiten. Wir nannten es Container-Crack.
Und ich war süchtig danach.
Ich begann, mich allerlei anzüglichen Phantasien, in Hinblick auf mein anstehendes Frühstück hinzugeben. Orangensaft und Bagels – mit diesen kleinen Zwiebelstückchen, die ich normalerweise verabscheue – das wäre perfekt. Süßer Blätterteig wäre perfekt, ich konnte mir vorstellen in O-Saft zu baden und Burgen aus Bagels zu bauen.
Die Geräusche von nebenan erreichten schließlich ihren dramatischen Abschluss. Trotz ihrer gewaltlosen Blockade meiner Route in die Küche, war ich so erfüllt von gutem Willen bezüglich meiner Mitgeschöpfe (von Cops und Politiker*innen abgesehen, scheiß auf die Arschlöcher!), dass ich auch den beiden Turteltauben nebenan keine Vorwürfe wegen meines verspäteten Frühstücks machen konnte.
Die Frau beeindruckte mich besonders. Anfangs hatte ich sie als wohlmeinende, aber ahnungslose Reformistin abgeschrieben. Nur wenige Monate vorher hatte sie Workshops zur Gewaltlosigkeit gegeben, aber quasi über Nacht hatte sie sich in eine blutrünstige Revolutionärin verwandelt, mit einem Überschwang an kreativen, und eindeutig nicht gewaltfreien Ideen, wie wir uns gegen die unvermeidlichen Zusammenstöße mit der Polizei von DC schützen könnten. Liebe und Revolution lagen in der Luft und ich schlich auf Zehenspitzen in die Küche.
Normalerweise bin ich kein Morgenmensch, aber an jenem Tag floss ich so über mit Glück, dass ich mich positiv erstarkt fühlte. Wann im Leben ist die Mission schon so simpel? Menschen kamen, um das Zentrum neoliberaler Verdorbenheit, das der IMF ist, zu blockieren, und wir mussten sicherstellen, dass sie alle einen Stadtplan haben würden, um dahin zu kommen, wo sie sein mussten. Dank meiner magischen, kostenfreien Kinko´s Kopierkarte, die ein Freund gebaut hatte, indem er ein kleines Loch hineingebohrt hatte und der wohlwollenden Nachlässigkeit (oder war es Kumpanei von Kiko´s Angestellten?) war meine Aufgabe ziemlich einfach. Mein kleines Leben floss absolut über mit Bedeutung – aber ich brauchte Hilfe. Schließlich würden vielleicht fünfzigtausend Leute zum Protest erscheinen und das bedeutete mehr Kopien, als ich allein würde erstellen können.
In der Küche entwickelte ich eine Fantasie, in einem Anfall anarchistischer Missionierung: ich würde zum Starbucks, den Block runter gehen, mich neben den erstbesten käsigen, müden, mittelalten Bürokraten der globalen Kapitalismus-Todesmaschinerie setzen und sagen: „Sieh mal, Kumpel, ich weiß, du hasst deinen Job: aufwachen, von neun bis fünf arbeiten und ein unbedeutender Komplize in allerlei fiesen Dingen sein. Im Geheimen wird dir klar, dein Leben ist unbedeutend. Lass diesen Cappuccino jetzt sofort fallen, weil ich Bedeutendes für Dich habe. Vergiss diesen kapitalistischen Todesfallen-Job und komm mit zu Kinkos´s.“
Mein Tagtraum wurde durch das dumpfe Dröhnen eines Müllwagens unterbrochen. Fuck, keiner hatte den Müll raus gebracht! Ich griff mir den schwarzen Müllsack und stolperte zur Tür hinaus in den hellen, sonnigen Morgen. Ich wartete beim Mülleimer und innerhalb weniger Minuten nahm mir eine lächelnde Müllentsorgerin im orangen Pullover den Müll ab. Sie lehnte sich zu mir herüber und sagte, als wolle sie mir ein Geheimnis erzählen:
„Hast du´s schon gehört? Die haben gerade ein Flugzeug ins World Trade Center geflogen!“
„Kein Scheiß!? Na ja, weiß du, es ist verrückt heutzutage.“
Ich lächelte nur und winkte zum Abschied, als er zum nächsten Gebäude ging. Man, die Dinge, die Leute morgens von sich geben. Es war schon irgendwie interessant, wie die rechtmäßige Morgen-Müllwerkerin, ihren Gegenpart in mir hatte, dem illegalen Mitternachts-Müllwerker. Unsere Jobs hatten denselben Slogan: hol Dir den Müll. Ich konnte nur hoffen, dass ich es ihr etwas erleichtert hatte, indem ich genügend Müll aus dem Müllkreislauf entfernt hatte, zum Ausgleich für den Müll, den ich ihr gab.
Wie auch immer, ich war noch nie jemand, der sich von einem guten Frühstück oder einer bedeutsamen anti-kapitalistischen Aktivität davon abhalten lässt, morgens noch einmal einzuschlafen. Auf Zehenspitzen schlich ich an der postcoitalen Umarmung meiner Freund*innen vorbei und schlüpfte zurück in meinen Schlafsack.
„Steh auf Alter! Du musst nach oben rennen!“
Als ich gerade zurück ins Bett wollte, guckte der verrückte, zahnlose Vermieter herein und weckte mich, machte mir entschieden schlechte Laune. Ich täuschte Erschöpfung vor, und er zog mich fast aus meinem Schlafsack.
„Die haben gerade das World Trade Center in die Luft gejagt! Da gehen Bomben hoch!“
Der Gedanke, dass ich an der Müllwerkerin gezweifelt hatte! Da ging er hin, mein friedlicher Morgen. Die Gesamtsituation in ihrer Bedeutung noch nicht völlig erkennend, griff ich mir einen weiteren krustigen Bagel und schlurfte mit meinen Freund*innen hoch in die persönliche Enklave unseres Vermieters, wo, umgeben von Zigarettenstummeln und Pornoheften, ein kleiner Fernseher strategisch auf dem Aktenschrank gegenüber seines Schreibtisches platziert war. Ja, die Müllwerkerin hatte recht gehabt. Auf dem Bildschirm schien eine Art James Bond Film zu laufen. Oder vielleicht Kampf der Welten. Bis auf die Tatsache, dass der Nachrichtensprecher tatsächlich den Eindruck erweckte, panisch zu sein, unsicher wie er die Situation verstehen soll, geschweige denn wie es ihm gelingen soll, werbekompatibel in leichtem Plauderton darüber zu sprechen, dass da ungefähr eintausend Leute verbrennen.
Das Gebäude stand in Flammen, und das war zweifellos irgendein klaffendes Loch im World Trade Center. Dann hörte ich den Reporter aufschreien. Der Turm war gerade eingestürzt, wie bei einem Abbruch. Aber er war voller Menschen, viele von ihnen hatten den finanziellen Apparat des globalen Kapitalismus am laufen gehalten, die Knöpfe gedrückt und die Zahlen berechnet, geschrieben mit dem Blut der Armen.
Mit Betonung auf der Vergangenheitsform.
Ich saß da, wie gelähmt, durch das Spektakel im Fernsehen. Es waren zweifellos viele Hausmeister*innen, Köch*innen und Fensterputzer*innen da drinnen, auch wenn sie in der Minderheit waren. Nein, das war nicht gut. Ich war nicht entsetzt, wirklich, nicht traurig oder überrascht; das war einfach etwas, mit dem ich an diesem Morgen nicht gerechnet hätte, dass es passiert. Meine Gedanken rasten, aber irgendwie war mir eine nützliche Analyse der Zerstörung eines greifbar großen Stückes der New Yorker City nicht greifbar. Der Vermieter, noch in Boxershorts, stand nur mit offenem Mund da. Die zwei Turteltauben hinter mir fingen an zu jubeln, auch die Person, die ich vor wenigen Monaten kennengelernt hatte, als sie noch Gewaltlosigkeitstrainings gab. Wie sich die Dinge ändern!
„Nun, ich bin sicher, das das nicht wir waren. Ich meine, niemand hat mir etwas davon gesagt. Das war jemand, der wirklich fucking wütend war.“
Mein logisches Denken ist morgens nicht wirklich scharf. Mein guter Freund Colin hatte einen ernsten und bedeutungsvollen Ausdruck im Gesicht. „Die Kids denken nicht klar“, sagte er mit augenrollendem Blick in Richtung der Turteltauben. „Wir müssen rauskriegen, was wir tun sollen und zwar schnell. Das hier ändert definitiv unsere Pläne.“
Bevor Colin ein weiteres Wort sagen konnte, zeigte der Bildschirm die Nachricht, dass das Pentagon von einem Flugzeug getroffen worden war. Ein schneller Schnitt zeigte das Pentagon mit einem brennenden Loch in der Seite.
„Jesus, das ist gar nicht weit weg. Ich meine, ich kann nicht sagen, dass die es nicht verdient hätten. Das Pentagon ist voll mit fucking Mörder*innen. Aber jetzt ist es etwas zu nah für meinen Geschmack.“
Plötzlich kombinierten meine messerscharfen deduktiven Kräfte, dass da sogar noch mehr Flugzeuge am Himmel sein könnten, die in andere Teile der US Machtstrukturen crashen könnten. Es erschien recht logisch, dass ein weiteres Flugzeug ins Weiße Haus stürzen würde, von dem aus so viel Schrecken in die Welt ging. Wir waren wortwörtlich nur ein paar Blocks vom Weißen Haus entfernt. Das Flugzeug könnte sein Ziel verpassen und uns treffen! Was war mit den Trümmern? Ich wusste nicht genau, was passiert, wenn ein Flugzeug in eine Innenstadt stürzt, aber es würde höchstwahrscheinlich Auswirkungen auf alle in der Nähe haben. Das gesamte Stadtzentrum von DC hätte es in den Augen vieler Leute verdient, zerstört zu werden, und wir hatten das Pech in der Mitte der Innenstadt zu sein. Ich wünschte, ich hätte eine schwarze Flagge auf dem Dach anbringen können, so dass wer auch immer dahinter stecke, gewusst hätte, dass wir Anarchist*innen waren; die, die versuchen den Kapitalismus und den Staat zu bekämpfen, und keine besondere Zuneigung für die US Regierung hegen – also bitte bringt uns nicht um, vielen Dank!
Der Fernseher schien in einer Endlosschleife steckengeblieben zu sein, Flugzeuge rammten das World Trade Center wieder und wieder und wieder. Nur für den Fall, dass wir es nicht mitbekommen hätten. Die Reporter *innen plapperten und stammelten. Sie sagten, die Todeszahlen könnten fünftausend, zehntausend oder auch fünfzigtausend betragen. Ein anders Flugzeug war offenbar in der Nähe von Pittsburgh abgeschossen worden.
Wir hatten Freunde in Pittsburgh. Und sie sagten, dass ungefähr 30 weitere Flugzeuge irgendwo vermisst würden.
„Wir müssen hier raus!“
„Meine Familie hat etwas Land, außerhalb des Bundesstaates. Da können wir hin und den Ball eine Weile flach halten.“ schlug die ehemalige Gewaltlosigkeitstrainerin vor.
„Ich habe ein kleines Auto, in das wir alle passen“ meldete jemand anderes. Der Vermieter klebte an der Mattscheibe gebannt von den Bildern der sich endlos wiederholenden Explosionen. Er schien unsere Unterhaltung nicht wahr zu nehmen.
„Aber wir müssten am Weißen Haus vorbeifahren – gibt es einen anderen Weg aus der Stadt, von hier, ohne in die Nähe des weißen Hauses oder des Pentagons zu müssen?“
„Wer hat einen fucking Stadtplan von DC?“
Davon hatten wir mehrere Tausend, auch wenn es Kopien mit Standorten von Unterbringungsmöglichkeiten für Aktivist*innen von außerhalb waren. Ach ja, und diese Stadtpläne listeten auch bedeutende Wirtschafts- und Verwaltungseinrichtungen auf, mit kurzen Infos zu deren abscheulichen Taten und Verbindungen zur wirtschaftlichen Globalisierung.
Es würde sicher ein hartes Durchgreifen geben.
„Wir müssen die Stadtpläne verbrennen“ sagte Colin, meine Gedanken lesend.
Die Nachrichten zeigten nun Bilder, wie der Einsturz des World Trade Centers von den Straßen New Yorks aussah. Menschen waren mit grauem Staub bedeckt, schrien, rannten die Straße herunter, weg von den Trümmerwolken, die dem Einsturz folgten. Menschen starben irgendwo in diesen Wolken, und im Fernsehen waren viele Schreie zu hören. Und dann zeigte die blaue Bildlaufleiste, dass Bomben im State Department [Außenministerium der Vereinigten Staaten] detonierten.
„Warte mal eine Sekunde, was, wenn wir hier raus fahren und eine Bombe geht in der Nähe unseres Autos hoch?“
„Es werden Tausende und Abertausende versuchen, aus DC raus zu kommen – es wird ein Chaos geben, was wenn sie das angreifen?“
„Jetzt wissen wir, wie sich die Palästinenser*innen jeden Tag fühlen.“ sagte Colin. Das war wahrscheinlich der vernünftigste Moment der gesamten Unterhaltung.
Nachdem das Durcheinander sich beruhigt hatte, entschlossen wir, das es das Beste wäre, erst einmal die nächste Zeit an Ort und Stelle zu bleiben. Einer von uns ging runter, um alles zu verbrennen, das Polizeibeamte*innen oder Bundesagent*innen gegen uns verwenden könnten. Es war nicht klar, was die Zukunft bringen würde, aber das Kriegsrecht war eine nicht zu weit hergeholte Möglichkeit.
Da wir nichts Besseres zu tun hatte, saßen wir herum und sahen fern. Die Reporter und Kommentatorinnen hatten sich bis zu diesem Zeitpunkt gefangen und begonnen mit dem Finger zu zeigen.
„Die Regierung hat den Terroristen Osama Bin Laden aus dem Mittleren Osten in Verdacht, dessen terroristische Vereinigung schon früher versucht hatte, das World Trade Center zur Explosion zu bringen.“
Es wunderte mich irgendwie, dass kein Kommentar von unserem hochverehrten Führer George W. Busch kam, oder auch irgendjemand anderen in einer Machtposition. Es schien, als hätten sich alle hinter ihren Schreibtischen versteckt. Im Fernsehen lief weiterhin in Endlosschleife das zusammenstürzende World Trade Center.
Wir zappten durch die Sender. Dieselben Bilder auf fast jedem anderen Sender. Die Todeszahlen variierten stark, aber es schienen mindestens Tausende zu sein. Es gab weitere Berichte über die Autobomben, die vor dem State Department und an andrer Stelle in DC explodiert waren. Ab und an wurde die Luftaufnahme vom Pentagon mit dem brennenden Loch gezeigt. Offenbar hatte die Medienbranche kapiert, dass sogar die amerikanische Öffentlichkeit weniger Sympathien für das Pentagon als das World Trade Center hegte.
„Wir müssen etwas anderes unternehmen, als nur hier herum zu sitzen.“ knurrte Colin.
„Wie oft hast Du im Leben die Chance, das Pentagon brennen zu sehen?“ fragte ich.
„Lass uns zum Pentagon gehen.“ sagte Colin, der generell gerne spazieren ging.
Keine schlechte Idee. Wie oft hat mensch die Gelegenheit, das Pentagon in Flammen zu sehen? Ich hatte mir immer vorgestellt, wie triumphierende Anarchist*innen das Pentagon stürmen und die mörderischen Sesselpupser*innen raus jagen. Wahrscheinlich hätten Sachen gebrannt – ich meine, wie kann mensch sich sonst eines Ortes entledigen, der so viele Angriffe auf die Würde der Menschen verursacht hat?
Hier waren wir also und jemand anderes hatte das Pentagon in Brand gesteckt. Ich wünschte, dass wer immer auch hinter den Anschlägen steckte, wenigstens beachtete, dass wir Mitte Oktober einen recht wichtigen Protest planten. Hätten sie doch nur fünf Wochen warten können! Leider war die amerikanische Anti-Globalisierungs Bewegung wohl nicht auf dem Radar von den Verantwortlichen, wer-auch-immer sie waren.
„Ja, ich komme mit Dir.“
Warum auch nicht? Es gab nichts, was wir hätten tun können, das Einfluss auf die Situation gehabt hätte – und angesichts der Anzahl fragwürdiger Gestalten, die dort abhingen, hätte es mich nicht sonderlich überrascht, hätte die Polizei gewusst, dass es uns gibt. Dies wäre eine großartiger Anlass, um hart gegen uns Anarchist*innen vorzugehen. Wenn die gewusst hätten, dass eine Anzahl von uns wenige Blocks vom Weißen Haus zu finden sind, hätten wir in der Scheiße gesteckt – unser kleines Versteck war nicht halb so sicher, wie meine Begleiter*innen zu glauben schienen. Vielleicht wurde ich aber auch nur paranoid. Wie auch immer, ein Spaziergang würde nur hilfreich sein. Also packten Colin und ich unsere Sachen und machten uns auf ins Tageslicht.
Es war noch immer ziemlich früh und die Sonne schien. Die Straßen um unseren Block herum waren gespenstig ruhig.
Ich nahm an, dass alle drinnen an den Mattscheiben klebten, so gelähmt, wir wir es kurze Zeit vorher auch gewesen waren. Wir gingen um die Ecke und innerhalb weniger Minuten näherten wir uns der Innenstadt von DC. Es herrschte Totale Panik . Weiße Männer in Anzügen, die nicht länger ihre Lattes tranken, wie sie es normalerweise taten, während sie ruhig die umfassende Vernichtung des Planeten befahlen, versuchten verzweifelt aus den Gebäuden zu kommen. Es war bizarr, die Sorte von Kapitalisten, die normalerweise in Limousinen unterwegs sind, dabei zu beobachten, wie sie die Straße herunter trampelten, stolperten, schnauften und außer Atem waren.
Wir liefen am Weißen Haus vorbei und ich rechnete fast damit, dass es vor unseren Augen in Flammen aufgeht. Stattdessen hatte ich die Gelegenheit die Evakuierung des Küchenpersonals des Weißen Hauses mitzuerleben. Ich sah einen Koch mit riesigem Kochhut auf dem Kopf in Galopp fallen, den kleinen Prinzen der ganzen Welt zurücklassend, der sich die Steaks und Foie Gras nun würde selbst kochen müssen. Das Ganze sah nicht wie eine Tragödie aus, sondern wirkte wie eine absurde Farce. Ich rechnete fast damit, dass Bush in Unterwäsche, Hundert Dollar Banknoten zusammenklaubend, aus dem Haus gerannt kommen würde. Die anwesenden Sicherheitskräfte waren ganz offensichtlich ebenfalls damit beschäftigt dort abzuhauen und hatten keinerlei Interesse daran, Gesetz und Ordnung aufrechtzuerhalten. Mir kam der Gedanke, dass jetzt auch der optimale Zeitpunkt wäre eine Bank auszurauben.
Wir durchquerten die Innenstadt und liefen weiter. Immer wieder kamen uns Menschen in Panik entgegen, aber in anderen Teilen von DC lief das Leben ganz normal. In Stadtteilen mit Regierungsgebäuden war es wie kurz vor dem Weltuntergang, Angestellte rannten verzweifelt die Straßen hinunter. In ärmeren Gegenden allerdings lief das Leben mehr oder weniger wie immer, obwohl fast alle Geschäfte geschlossen waren, weil jeder zuhause an den Bildschirmen die Ereignisse verfolgte. Alles in allem war es ein schöner Herbsttag, die Eigenartigkeit der Situation schien ein Stück weit die unmenschliche Düsterkeit über Washington zu vertreiben.
Wir liefen so lange in südliche Richtung, bis wir das Ende der Straße erreichten. Auf der anderen Seite der Straße lag Crystal City, der Komplex aus glasverkleideten Apartmenthochhäusern und schicken Hotels die der Militärbürokratie des Pentagons dienten. Gegenüber konnte ich Rauchsäulen aus dem Pentagon aufsteigen sehen. Ich griff in meine Tasche, und nahm eine alte Sofortbildkamera heraus, und knipste ein Bild vom brennenden Pentagon. Ich dachte mir, verdammt, das ist wirklich ein Event, das mensch nur einmal im Leben erlebt. Na ja, hoffentlich zweimal im Leben. Ich fragte Colin ob es ihm etwas ausmachen würde, ein Bild von uns beiden vor dem brennenden Pentagon zu machen. Wir machten ein schnelles Foto. Ich habe die Kamera verloren, bevor ich den Film entwickeln konnte, was vielleicht das Beste ist.
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Als wir uns dem furchteinflößenden Koloss des Pentagons näherten, zeigte sich der umfassende Wahnsinn. Hier gab es absolut keine Ordnung. Aus einer Tür, die scheinbar einer der Haupteingänge des Gebäudes waren, strömten Pentagon Mitarbeiter *innen in irrer Hast, ihre Aktenkoffer in der Hand, mit einem Ausdruck von Schock und Angst auf ihren Gesichtern. In der Schaltzentrale, die das furchteinflößendste Militär der Welt steuerte, hatte niemand irgendeine Kontrolle. Rauch quoll weiterhin unheilvoll aus der Ruine. Das Gebäude brannte offensichtlich aus. Es war irgendwie ironisch, Schrecken in den Augen der Funktionär*innen einer Institution zu sehen, die selber so viel Schrecken über so viele Menschen und so lange Zeit verursacht hatte. Waren die wirklich überrascht davon, dass ihre Missetaten sie nun verfolgten? Oh, wie die Mächtigen gefallen waren.
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Zuerst hatten wir den Wahnsinn aus der Distanz betrachtet und waren dann näher ran geschlichen. Vor dem Eingang zum Pentagon standen keine Cops, es gab keine Barriere zwischen uns und dem brennenden Gebäude. Nach kurzer Zeit standen wir, zwei bekennende Anarchisten, nur wenige Meter vom Pentagon entfernt, einer Institution, deren Zerstörung wir unsere Leben gewidmet hatten. Diese Institution brannte, und alle Menschen die dort gearbeitet hatten, rannten von ihr weg. Uns kam ein Gedanke. Dies war eine Chance, die es im Leben nur einmal gibt. Wir konnten ins Pentagon rennen. Wer weiß, was wir finden würden? Theoretisch könnten wir Computer zerstören, Akten stehlen, und jede Menge Dinge kaputt machen. Ohne Polizeipräsenz könnten wir sogar damit durchkommen. Ein kurzer Blick rüber zu Colin, und es war klar, dass er dasselbe dachte. Ich lehnte mich rüber zu seinem Ohr und flüsterte:
„Sollen wir es tun?“
„Ich bin nicht sicher, es könnte die einzige Chance sein, die wir jemals kriegen.“
Da standen wir und dachten über das Vorhaben nach. Wir atmeten ein paar mal tief durch und blickten auf die Zerstörung um uns herum. Ins Pentagon zu laufen und etwas zu tun, irgendetwas, war verlockend, besonders als eine Angestellte mit einer handvoll Papieren und einem Laptop raus gerannt kam. Diese Mörder*innen waren offenbar überrascht davon, dass sie nun einen Schluck ihrer eigenen Medizin bekamen.
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Inzwischen war die Polizei erschienen und hatte begonnen, das Pentagon abzusperren. Unsere Chance war vertan. Es schien mir, als wären wir in einer prekären Position, da wir scheinbar die einzig Anwesenden waren, die nicht wegrannten.
„Wir haben nicht die geringste Entschuldigung dafür, dass wir hier sind. Ich meine wir haben nicht mal eine Entschuldigung dafür, dass wir in DC sind.“
Hatten wir wirklich nicht. Was würde die Polizei tun, wenn sie uns kontrolliert? Beide waren wir bekannte Agitatoren von außerhalb, mit Polizeiakten voller Festnahmen bei verschiedensten Anti-Regierungs-Events.
War es nicht ein bisschen mysteriös, dass wir zufällig in dem Moment am Pentagon rumhingen, in dem es in Flammen aufging? Wenn sie uns in ein Auto packen würden, würde mensch uns je wieder zu Gesicht bekommen? Dieser Moment wäre eine passende Gelegenheit, zwei komisch aussehende Typen mit Charles Manson-Bärten aufzugreifen, die um das Pentagon herumkrochen, während es brannte.
„Wir sollten hier verschwinden. Die werden die gesamte fucking Gegend absperren.“
Das war hellsichtig: die Polizei, die auffällig abwesend während des Wahnsinns um das Pentagon gewesen war, war endlich erschienen. Sie wirkten verwirrt, aber ich rechnete damit, das sie jede Minute anfangen würden, Fragen zu stellen, und ich wollte meinen Namen sicher nicht mit dieser Sache in Verbindung gebracht wissen, erst recht nicht meine Kamera mit dem Bild von mir vor dem brennenden Gebäude!
Wir gingen lässig weg, bis wir außer Sichtweite waren.
Wenn wir vielleicht etwas weiter die Straße runter gehen würden? Wir sahen uns um, um sicherzustellen, dass uns niemand sieht, und begannen einen wahnwitzigen Sprint, um so fucking weit wie möglich vom Pentagon wegzukommen.
Der Rückweg war bei Weitem nicht so leicht, wie der Hinweg.
Wie ein Biest, das sich langsam erhebt, nachdem ihm ein fast tödlicher Schlag während des Schlafes versetzt wurde, begann die Maschinerie des Staates sich verwirrt und wütend in Gang zu setzen. Aus der Ferne konnte mensch das Heulen der Polizeisirenen hören. Die Straße, über die wir gekommen waren, konnte mensch auch aus der Entfernung sehen – sie war voller Polizist*innen.
In der Nähe war eine Autobahnauffahrt, die wir so schnell hoch rannten, wie wir konnten. Was dann geschah, war wie direkt aus einem postapokalyptischen Zombie-Film: nicht eine Menschenseele war auf dem Highway, wir liefen eine gefühlte Ewigkeit in der Mitte der I-95 ohne ein einziges Auto zu sehen. In der Entfernung stieg Rauch auf, Körper verbrannten, Polizeisirenen heulten, aber wir hatten den kürzesten Weg aus der Sache raus gefunden. Die Autobahnen verliefen über kreuz, wie sich windende Schlangen, und wieder heulten Sirenen hinter uns. Hatten sie uns gesehen? Waren sie da, um uns zu holen? Waren sie mit anderen Dingen beschäftigt? Vielleicht sperrten Sie den Highway ab! Wir stolperten von der Straße in die Büsche, das traditionelle Versteck von Räuber*innen, Gesetzlosen und Anarchist*innen. Wir warteten, bis die Luft rein war, und hörten in unserer Fantasie „Godspeed, You Black Emperor!“… als die Sirenen an uns vorbei waren, rannten wir aus den Gebüsch und direkt die Böschung hoch. An der höchsten Stelle der grasbewachsenen Böschung war ein Zaun, über den wir in unserer Verzweiflung sprangen, nur um auf dem Friedhof von Arlington zu landen! Jesus fucking Priest!
Wir rannten und kamen an zahllosen Reihen weißer Kreuze vorbei, die stumm in der Herbstsonne standen. Wir rannten durch die Beete und Felder, während die Klagen von Legionen ruheloser Geister im Wind um unsere Füße wehten. Wir rannten bis wir zu einem Hügel kamen, und kletterten ihn hoch. Und dort, oben auf dem Hügel saßen zwei Männer. Ihre Kleidung war noch abgerissener als unsere eigene. Ihre Körper sogar noch dreckiger als unsere. Ihre Bärte noch mason-artiger als unsere. Sie tranken Starkbier aus einer 1,2 Liter Flasche, die in einer braunen Papiertüte steckte. Es waren Obdachlose und sie sahen zu, wie das Pentagon brannte.
„Setz Dich, Bruder“ schlug einer von ihnen vor. Der andere steckte seinen Arm aus, seine fleischige Faust umklammerte die Bierflasche, und er bot mir einen Schluck an.
Ich schüttelte meinen Kopf: „Danke, Alter, aber wir haben uns verirrt. Wie zum Teufel kommen wir hier raus?“
Der erste Obdachlose gab uns eine überraschend klare Wegbeschreibung vom Friedhof runter, und wir drehten uns um um zu gehen. Im letzten Moment sah er mir direkt in die Augen, und stimmte an: „Aber seid vorsichtig. Es gibt Waffen, Waffen, WAFFEN AUF DEM FRIEDHOF!“
Mit diesem letzten Stück beunruhigender Information im Ohr flohen wir den Hügel hinunter. Der Obdachlose, der an meinem Nachmittag die Rolle des einäugigen Orakels übernommen hatte, hatte mehr oder weniger die örtliche Geografie korrekt eingeschätzt. Wir krochen durch mehrere Gebüsche und sprangen über einige Zäune und irgendwie landeten wir in dem idyllischen Garten eines Vorstadt-Hauses.
Aber nun schienen wir wenigstens wie zwei Verrückte, die sich darauf vorbereiteten, in ein Haus einzubrechen, im Gegensatz zu zwei Verrückten am Schauplatz einer nationalen Katastrophe umgeben von der Polizei. Wir krochen durch den Garten zur Straße und sahen eine große Gruppe auf einer Böschung stehen, von der aus mensch einen Blick auf den Highway hatte. Keine Seele guckte zu uns herüber oder nahm auch nur Notiz von uns. Stattdessen starrten alle – vom kleinen Kind bis zur Großmutter, als wäre es ein makabres Nachbarschafts-Grillen – auf das brennende Pentagon. Es schien fast festlich, die Leute schienen nicht bestürzt – wenn überhaupt überrascht, und die meisten wirkten fröhlicher als der/die Durchschnitts-Angestellte bei der Arbeit. Es war schließlich ein angenehmer Herbsttag. Es schien ein Geist von Harmonie unter den Leuten zu herrschen, der in scharfem Kontrast zum üblichen Rassismus stand, welcher Washington in Schrecken hielt. Schwarze, Latin@s, Angelsachsen, es war nicht wichtig, alle standen in ihren Vorgärten und sahen zu, wie das Pentagon brannte. Fast totenstill, nur mit etwas Smalltalk hier und da. Nach einem Augenblick verabschiedeten wir uns von den versammelten Nachbar*innen und setzten den Weg die Straße hinunter fort.
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Zu diesem Zeitpunkt waren wir völlig ohne Orientierung und hatten wenig Ahnung, wie wir nach Hause kommen sollten. Es wurde spät und ich fühlte mich noch immer leicht paranoid.
Es schien, als wäre Ärger vorprogrammiert, wenn wir noch länger durch die Straßen von Arlington, Virginia laufen würden, während ein totales Chaos herrschte. Normalerweise war ich einer Rauferei mit den Cops nicht abgeneigt, aber heute war dafür kein guter Tag. Was sollten wir also tun?
Der billige chinesische Imbiss! Es gibt kaum etwas Besseres, das mensch essen kann, nachdem mensch das Pentagon hat brennen sehen, als billiges, chinesisches Essen. Wir nahmen außerdem an, dass Restaurants, die diese Speisen anboten, ein guter Ort sein könnten, um unterzutauchen. Um die Ecke war ein typisches Chinarestaurant in einer dieser runtergekommenen Einkaufszentren, die Amerika zumüllen, und der Laden hatte – Wunder, oh Wunder- noch geöffnet, an diesem 11. September. Ich leerte meine Taschen, zählte Vierteldollar und Fünfcentmünzen und es gelang mir, genügend Geld zusammenzukratzen um etwas Reis und Gemüse zu kaufen. Der einsame Angestellte schien froh über Kundschaft zu sein, und uns noch nicht mal eigenartig zu finden. Ich bin ein unbändiger Fan des scharfen chinesischen Senfs, bedeckte meine Portion mit dem gelben, scharfen Zeug und drehte mich um, um auf den Fernseher zu schauen.
Es schien, als hätte sich seit dem Morgen nichts verändert. Unser lieber Präsident George W. Bush war nirgends zu sehen. Stattdessen wurden wieder und wieder Bilder der zusammenstürzenden Türme gezeigt (gemischt mit Aufnahmen des Pentagons, diese aber sehr viel seltener) als sollte eine Hypnose ausgelöst werden. Die Sprecher*innen der Medien schienen sich irgendwie etwas besser unter Kontrolle zu haben als vorher, und wiederholten nun „Terroristen aus dem Mittleren Osten“ und „Bin Laden“ wieder und wieder, obwohl es offenbar noch keine konkreten Beweise gab.
Zu meiner Erleichterung fiel das Wort „Anarchist*innen“ nicht, das verschaffte uns etwas Zeit. Auf der anderen Seite war es uns über Nudeln und Glückskeksen klar, dass dies die perfekte Entschuldigung für eine Hexenjagd auf uns und alle anderen, die die Regierung als Bedrohung empfinden könnte, war. Colin und ich saßen die meiste Zeit in eisiger Stille, und versuchten uns über die Folgen dieses Tages für die Bewegung klarzuwerden – und wie zur Hölle wir nach Hause kommen sollten.
„Wir sollten langsam essen. Sieh mal, wir sind hier ziemlich sicher. Niemand weiß, dass wir hier sind. Wir können hier einfach sitzen und essen, bis es dunkel wird und wir nach Hause können.“
„Bis dahin wird es eine Weile dauern.“
„Na, lieber auf Nummer sicher gehen.“
Als der Abend endlich gekommen war, verabschiedeten wir uns in Zuneigung von unserem Gasteber im Restaurant und gingen weiter die Straße hinunter.
Wir fragten einige Fußgänger*innen, denen wir begegneten, nach dem Weg und fanden den Weg nach Hause letztendlich, durch endlose Gassen und Brücken und Hinterhöfe. Als wir vor unserem kleinen Versteck angekommen waren, sahen wir uns um, dass wir auch nicht verfolgt würden, wandten eine Reihe komischer anti-Observationsstrategien an, welche hauptsächlich darin bestanden, im Kreis zu laufen, bevor wir endlich hinein gingen. Offenbar hatte der Vermieter sich in seinen Porno- und Zigarrenkokon zurückgezogen, und unsere Freund*innen waren ungeduldig während sie ihre Flucht planten.
Colin und ich argumentierten, dass wir irgendeine anarchistische Antwort verfassen müssten, und zwar schnell. Es gab nur ein kleines Fenster der Gelegenheit zwischen dem 11. September und dem unvermeidlichen harten Durchgreifen der Regierung. Wenn es uns gelänge, eine schnelle Antwort zusammenzustellen, könnten wir wenigstens unsere Ansichten äußern. Die Menschen waren verwirrt und verängstigt und leicht manipulierbar durch die herzlosen Arschlöcher, die sicher in der nicht zu fernen Zukunft einen Krieg beginnen würden. Just in diesem Momentwar die US-Machtstruktur allerdings vollkommen gelähmt. Wenn wir die Sache im Griff hätten, könnten wir etwas tun, das gleichermaßen inspirierend wie historisch ist, jetzt und sofort, bevor die Regierung überhaupt Zeit hat, darauf mit ihren Hexenjagden und Kriegen zu antworten.
Es gab eine Fülle praktischer Fragen zu erörtern: sollten wir die IMF-Proteste fortsetzen, sollten wir in den Untergrund fliehen, bevor die Razzien beginnen, sollten wir an die Öffentlichkeit gehen, mit unseren eigenen Antworten auf die Frage, warum einige Leute die US-Regierung und -Wirtschaft ausreichend stark hassen, um ihnen ein Flugzeug ins Hauptquartier zu rammen? Es gab so viel zu tun, und so wenig Zeit.
„Wenn diese Bastarde den Krieg erklären, müssen wir auf Washinton´s Straßen demonstrieren, IMF oder nicht, nur um den Leuten zu zeigen, dass wir auch gegen die fucking US-Regierung sind.“
„Danach müssen wir uns aber wirklich auf kürzestem Weg verpissen.“
„Alter, das war der verrückteste fucking Spaziergang, den ich je gemacht habe.“
Vor zwanzig Jahren waren wir bereit, zu sterben. Oder, um präziser zu sein, kaltblütig vom Staat ermordet zu werden, wie Carlo Guiliani in Genua. Das war es uns Wert – für unsere Sehnsucht nach einer mitfühlenderen Welt. Wir rechneten (nicht ganz ohne Grund) damit, dass sie auf uns schießen würden, und wir waren trotzdem unterwegs an die Frontlinie, um unser Leben zu geben, wenn es dazu käme. Und dann hat uns die Geschichte überholt - nicht, fürchte ich, zum letzten mal – und unser Effekt wurde uns von Leuten gestohlen, die sich drastisch weniger Sorgen um Menschenleben machen.
Ist die Welt ein besserer Ort? Sind wir dem revolutionären Ziel, von dem wir träumten, aufgrund unserer Entscheidungen, oder auch verpasster Entscheidungen, näher gekommen? Und wen können wir verantwortlich machen, für den beklagenswerten Stand der Dinge, und für das ganze Blutvergießen und die Sorgen, die an jenem Tag und den Tagen davor und danach verursacht wurden? Ist es unsere Verantwortung? Die der Wirtschaft? Die der Regierung? Vor zwanzig Jahren waren wir bereit zu sterben. Im Guten wie im Schlechten, zweifellos werden uns die kommenden Jahre viele weitere Gelegenheiten geben uns zu fragen, ob das noch der Fall ist.
Verehrte Leser*innen, der Rest ist euch überlassen.
Weitere Lektüre
Kurz nach dem 11. September 2001 verfasste eine Zelle des CrimethInc. Ex-Workers’ Collective einen Text mit dem Titel “After the Fall”, in dem versucht wurde, die Ursachen und Auswirkungen der Ereignisse dieses Morgens zu analysieren. Jene Tage – und auch die heutigen – verlangten viel mehr als Worte in einer Zeitung oder auf einem Computerbildschirm, aber wir stehen immer noch zu dieser Schrift als die vielleicht klarsichtigste und vorausschauendste Aussage, die zu dieser Zeit aus dem anarchistischen Milieu kam. Die Zukunft ist noch ungeschrieben.
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Für Hintergrundinformationen zu diesem Thema könntet ihr mit diesem Artikel über die Mobilisierung gegen den G8-Gipfel 2001 in Genua, Italien, beginnen. ↩