Ukraine: Zwischen zwei Fronten

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Anarchist*innen in der Region über die Kriegsgefahr

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In der Hoffnung, wichtige Hintergrundinformationen zu den aktuellen Spannungen zwischen Russland, der Ukraine, den Vereinigten Staaten und anderen Mitgliedern der NATO zu liefern, präsentieren wir die Abschrift eines ausgezeichneten Interviews mit einem Anarchisten in der Ukraine, gefolgt von einem weiteren Beitrag einer ukrainischen Anarchistin aus Lugansk, die sich jetzt in Kiew befindet. Wir erwarten zudem einen weiteren Text von einer Gruppe ukrainischer Anarchist*innen, den wir hoffentlich in Kürze veröffentlichen können.

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Wie können wir den Konflikt verstehen, der sich derzeit über die Stationierung russischer Truppen an der ukrainischen Grenze zuspitzt? Handelt es sich nur um eine Inszenierung auf beiden Seiten, die darauf abzielt, die Herrschaft zu sichern und die Opposition zu destabilisieren?

In der heutigen unbeständigen Weltlage könnten selbst die erfahrensten geopolitischen Akteur*innen – mit der Intention nur ein wenig mit dem Säbel zu rasseln – in einem Showdown landen, der ihnen über den Kopf wächst. Vielleicht ist das, was hier geschieht, nur Strategie, aber es könnte trotzdem zu einem Krieg führen. Im vergangenen Monat wurden russische Truppen in Kasachstan und Belarus stationiert, was Putins Rolle als Garant für Diktaturen untermauert und das Ausmaß seiner Ambitionen verdeutlicht. Abgesehen von den eh schon instabilen Machtverhältnissen in der gesamten Region. Die Vereinigten Staaten entsenden nun auch Truppen nach Osteuropa und verschärfen damit die Spannungen, während sie ihre rivalisierenden, imperialen Spannungen fortführen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Zelenskij, der Anfang 2021 gegen Putins Verbündete in der Ukraine in die Offensive gegangen ist, hat die Biden-Regierung kürzlich aufgefordert, ihre Drohungen zurückzuschrauben; dies bedeutet nicht, dass die Kriegsgefahr nicht real ist, sondern vielmehr, dass Zelenskij immer noch auf die ukrainische Wirtschaft aufpassen muss – unabhängig davon, ob der Krieg noch Wochen, Monate oder Jahre droht.

Die Aussicht auf eine russische Invasion wirft für Anarchist*innen heikle Fragen auf: Wie können wir uns der russischen militärischen Aggression widersetzen, ohne uns einfach in die Agenda der Vereinigten Staaten und anderer Regierungen einzufügen? Wie können wir uns weiterhin den ukrainischen Kapitalist*innen und Faschist*innen widersetzen, ohne der russischen Regierung dabei zu helfen, ein Narrativ zur Rechtfertigung einer direkten oder indirekten Intervention zu entwerfen? Wie können wir dem Leben und der Freiheit der einfachen Menschen in der Ukraine und den Nachbarländern Vorrang einräumen?

Und was, wenn der Krieg nicht die einzige Gefahr ist? Wie vermeiden wir es, unsere Bewegungen auf Steigbügelhalter staatlicher Kräfte zu reduzieren, ohne in einer Zeit eskalierender Konflikte irrelevant zu werden? Wie können wir uns auch mitten im Krieg weiterhin gegen alle Formen der Unterdrückung organisieren, ohne die gleiche Logik wie staatliche Militärs zu übernehmen?


Es ist nicht das erste Mal, dass die Ereignisse in der Ukraine schwierige Fragen aufwerfen. Im Jahr 2014, während der Besetzung des Maidan1 , die schließlich zum Sturz der Regierung von Viktor Janukowitsch führte, gewannen Nationalist*innen und Faschist*innen innerhalb der Bewegung an Macht. Wie ein Zeuge schrieb:

»Die ukrainische linke und anarchistische Bewegung als Ganzes befand sich zwischen zwei Fronten. Wenn der Maidan-Protest gewinnt […] kann man schon jetzt das Erstarken und Entstehen neuer rechtsextremer Organisationen vorhersagen, die sich auf die Anwendung von Gewalt und Terror gegen politische Gegner*innen konzentrieren. Wenn Janukowitsch gewinnt, wird eine Welle schwerster Repressionen wahllos alle treffen, die nicht loyal gegenüber den Behörden sind.«

-Lviv, 19. bis 21. Februar 2014

Dieses Interview aus jenen Tagen verdeutlicht die Situation. Es ist wichtig zu betonen, dass nichts davon unvermeidlich war: Eine lebendigere anarchistische Bewegung hätte in Kiew andere Ergebnisse hervorbringen können – wie es in Charkiw der Fall war.

Damals bezeichneten wir den Aufstieg der Faschist*innen bei den Maidan-Protesten als »einen reaktionären Gegenangriff im Raum der sozialen Bewegungen«

»Dies könnte ein Vorzeichen für Schlimmeres sein – wir können uns eine Zukunft mit rivalisierenden Faschismen vorstellen, in der die Möglichkeit eines Kampfes für echte Befreiung völlig unsichtbar wird.«

Heute sind wir acht Jahre weiter in dieser Zukunft angekommen. Die Tragödien in der Ukraine – von 2014 über den von Russland unterstützten Aufstand in den Regionen Donezk und Lugansk bis heute – zeigen die katastrophalen Folgen der Schwäche der antiautoritären Bewegungen in Russland, der Ukraine und den Vereinigten Staaten.

In diesem Zusammenhang sehen wir, wie staatliche Akteur*innen auf beiden Seiten des Konflikts die Diskurse des Antifaschismus und Antiimperialismus mobilisieren, um Freiwillige zu rekrutieren und ihre Gegner*innen zu delegitimieren. Faschist*innen und selbsternannte Antifaschist*innen kämpfen bereits seit Jahren auf beiden Seiten des Russland/Ukraine-Konflikts, ebenso wie Anhänger*innen beider Seiten jeweils die andere Seite als imperialistisch bezeichnet haben. Im 21. Jahrhundert wird es wahrscheinlich immer mehr bewaffnete Kämpfe geben, für die Anarchist*innen und andere Antifaschist*innen und Antiimperialist*innen rekrutiert werden. Wir sollten uns weder irrelevant machen lassen, indem wir uns aus allen Konfrontationen heraushalten, noch sollten wir uns aus einem Gefühl der Dringlichkeit heraus zu schwerwiegenden Fehlentscheidungen hinreißen lassen. Wenn wir uns mit der Begründung, dass die Situation unübersichtlich ist und es auf beiden Seiten Arschlöcher gibt, von einer Stellungnahme fernhalten, werden wir für die daraus resultierenden Massaker mitverantwortlich sein.

Bevor wir die Perspektiven aus der Ukraine vorstellen, werden wir einige der anderen Vorschläge durchgehen, wie sich Anarchist*innen engagieren könnten.

Eine einfachere Zeit: Anarchist*innen in Kiew am 1. Mai 2013.


In seinem Text Warum ist es notwendig, die Ukraine zu unterstützen? argumentiert Antti Rautiainen, ein finnischer Anarchist, der Jahre in Russland verbracht hat, dass die wichtigste Priorität darin besteht, sich einem russischen Eroberungskrieg entgegenzustellen:

»Die Ergebnisse der ersten 30 Jahre der ›Demokratie‹ in der Ukraine sind, gelinde gesagt, nicht überzeugend. Die Wirtschaft und die Medien sind in den Händen rivalisierender Oligarchen, die Korruption hat ein schwindelerregendes Ausmaß erreicht, die wirtschaftliche Entwicklung bleibt hinter der vieler afrikanischer Länder zurück, und darüber hinaus ist das Land zum Zentrum der weltweiten Neonazi-Bewegung geworden. Und diese Probleme sind im Wesentlichen hausgemacht und nicht das Ergebnis von Intrigen des Kremls.«

Aber die Alternative ist noch schlimmer.

Putins Regierung ist der KGB ohne Sozialismus. Wie wir dokumentiert haben, setzen Putins Untergebene neben altmodischer Polizeigewalt routinemäßig Folter und erfundene Verschwörungen ein, um abweichende Meinungen zu unterdrücken. Laut Antti ist »Putin nicht der Gendarm Europas, sondern der Gendarm der ganzen Welt« – von Syrien bis Myanmar, wann immer ein Diktator Tausende seiner eigenen Leute foltert und tötet, ist Putin da, um ihn zu unterstützen.

Im Gegensatz zu dem unten interviewten Anarchisten vertritt Antti die Ansicht, dass Anarchist*innen im Falle einer russischen Invasion das ukrainische Militär unterstützen sollten und im Falle einer russischen Besetzung bereit sein sollten, direkt mit einer staatsnahen Widerstandsorganisation zusammenzuarbeiten, sollte eine solche existieren.

Dies wirft eine Reihe von schwierigen Fragen auf. Sind Anarchist*innen in der Lage, einem staatlichen Militär nützliche Hilfe zu leisten? Wenn sie es könnten, sollten sie es tun? Wie könnten sie das ukrainische Militär unterstützen, ohne es dadurch in die Lage zu versetzen, für soziale Bewegungen und Minderheiten innerhalb der Ukraine noch gefährlicher zu werden, ganz zu schweigen von der Legitimierung des faschistischen Asow-Regiments? Einer der Grundsätze der dreiseitigen Kriegsführung ist, dass man nicht eine*n Gegner*in stärken darf, um einen anderen zu besiegen. Dies wird durch das Unglück der Anarchist*innen in der Ukraine vor einem Jahrhundert veranschaulicht, die dem Sieg über die reaktionäre Weiße Armee Priorität einräumten, nur um dann von Trotzkis Roter Armee verraten und ermordet zu werden.

twitter.com/wrkclasshistory/status/1464136850503786505

Wenn Anarchist*innen mit staatstragenden Gruppen zusammenarbeiten, wie es bereits in Rojava und anderswo geschehen ist, ist es umso wichtiger, eine Kritik an der Staatsmacht zu formulieren und einen differenzierten Rahmen zu entwickeln, um die Ergebnisse solcher Experimente zu bewerten.

Die beste Alternative zum Militarismus wäre der Aufbau einer internationalen Bewegung, die die militärischen Kräfte aller Nationen außer Gefecht setzen könnte. Die ukrainischen Radikalen haben verständlicherweise ihren Zynismus darüber zum Ausdruck gebracht, dass normale Russ*innen nichts tun werden, um Putins Kriegsanstrengungen zu verhindern. Dies erinnert an die Revolte in Hongkong im Jahr 2019, die von einigen Teilnehmer*innen ebenfalls mit ethnischen Begriffen eingegrenzt wurde. In der Tat könnten nur starke revolutionäre Bewegungen in China selbst Hongkong vor der Vorherrschaft der chinesischen Regierung bewahren.

In Anbetracht der Tatsache, dass Russland in der ukrainischen Donbass-Region unter anderem aufgrund der Spannungen zwischen ukrainischer und russischer Identität Fuß fassen konnte, wird die antirussische Stimmung Putin nur in die Hände spielen. Alles, was gegen die russische Bevölkerung, die Sprache oder die Kultur polarisiert, wird die Bemühungen des russischen Staates um die Schaffung einer kleinen abtrünnigen Republik erleichtern. Ebenso zeigt ein Blick auf die Geschichte des Nationalismus, dass jeder Widerstand gegen die russische Militäraggression, der die Macht des ukrainischen Nationalismus stärkt, nur den Weg für künftiges Blutvergießen ebnen wird.

Ein kleiner Protest in Kiew im Jahr 2018 gegen die türkische Invasion in Afrin. Anarchist*innen können sich militärischen Invasionen widersetzen, ohne andere staatliche Agenden zu unterstützen.

Was die Aussicht auf einen Krieg angeht, haben Anarchist*innen aus Belarus einige der vielen Nachteile artikuliert:

»Anarchist*innen haben Kriege nie begrüßt, weil sie die Bevölkerung von den wirklichen Problemen ablenken, die uns ständig umgeben. Anstatt nach Freiheit zu streben, fängt die Bevölkerung an, über die Erfolge des Fortschritts an der Front zu diskutieren. An die Stelle der internationalen Solidarität tritt der Nationalismus, der aus Verbundene und Gefährt*innen Todfeinde gemacht hat. Der Krieg hat nichts Fortschrittliches an sich. Der Krieg ist der Triumph einer menschenfeindlichen Ideologie der Macht. Heute wie damals ist der Krieg die Angelegenheit der Herrschenden, nur dass die einfachen Menschen dabei sterben. Im patriotischen Taumel oder einfach nur des Geldes wegen.”

Wenn es nur keinen Krieg gäbe«

Doch die globale anarchistische Bewegung ist nicht in der Lage, den Menschen in der Ukraine eine todsichere Alternative zum Krieg zu bieten. So wie der Aufstand in Kasachstan letztlich mit brutaler Gewalt niedergeschlagen wurde, sind fast alle Aufstände auf der Welt seit 2019 daran gescheitert, die Regierungen zu stürzen, die sie herausgefordert haben. Wir befinden uns in einer Zeit vernetzter weltweiter Repression, und die grundlegenden Probleme, die sich daraus ergeben, sind noch nicht gelöst. Der blutige Bürgerkrieg in Syrien, der zum Teil auf Putins Unterstützung für Assad zurückzuführen ist, ist ein Beispiel dafür, wie es in vielen Teilen der Welt aussehen kann, wenn Revolutionen weiterhin scheitern und stattdessen Bürgerkriege entstehen. Wir können die kommenden Kriege vielleicht nicht verhindern, aber es liegt immer noch an uns, herauszufinden, wie wir inmitten dieser Kriege weiterhin revolutionäre Veränderungen anstreben können.

Es ist erwähnenswert, dass zumindest ein ukrainischer Anarchist, ein Redakteur der Zeitschrift Assembly in Kharkov, nicht besonders besorgt über eine russische Invasion in der Ukraine zu sein scheint, da er dies für eine übertriebene Erfindung westlicher Medien hält. Wir hoffen, dass diese Person Recht hat – auch wenn wir feststellen, dass russische und belarussische Medien gleichfalls dramatische Geschichten über einen drohenden Konflikt um die Ukraine veröffentlichen.

Abschließend möchten wir auf dieses Kommuniqué einer Aktion in Schweden aufmerksam machen, die sich mit den Aufständigen in Kasachstan solidarisierte, indem sie einen Trailor des Shell-Konzerns ins Visier nahm, um auf die Mitschuld westlicher Ölkonzerne am Blutvergießen in Kasachstan und anderen von Russland bedrohten Orten aufmerksam zu machen. Obwohl klandestine Aktionen kein Ersatz für eine starke Bewegung sind, gelang es der Aktion auf bewundernswerte Weise, die Verflechtung der russischen Autokratie mit westlichen Kapitalist*innen aufzuzeigen:

»Russische Bajonette verteidigten den Thron von Putins Vasallen Tokajew. Aber nicht nur seinen. Man schaue sich nur die Ölförderung an, einen der Hauptzweige der kasachischen Wirtschaft. Westliche Konzerne haben einen großen Anteil am Ölsektor des Landes. Im Falle eines Sieges der Aufständigen könnte die Bevölkerung das Eigentum dieser Konzerne enteignen. Die russische Intervention und die Niederschlagung des Aufstands verschaffte nicht nur dem Oligarchenregime blutige ›Stabilität‹, sondern auch den westlichen Kapitalist*innen, die von den natürlichen Ressourcen Kasachstans schmarotzen.

[…] Einer der westlichen Konzerne, die in Kasachstan aktiv sind, ist die britisch-niederländische Shell. So beträgt ihr Anteil am Karachaganak-Feld, einem der drei größten des Landes, etwa 30 %. Und dies sind nicht die einzigen Anlagen des Konzerns in Kasachstan. Es ist nicht verwunderlich, dass das russische Regime Truppen schickte, um den Reichtum der Anteilseigner*innen von Shell zu schützen. Shell hat in den Bau der Gaspipeline Nord Stream 2 investiert und setzt sich in der europäischen Politik konsequent für die Interessen des russischen Regimes ein. […]

Die Theorie und Praxis, die den Widerstand gegen Diktaturen, Kapitalismus, imperialistische Kriege und die Zerstörung der Natur in einem einzigen großen Kampf vereint, ist der Anarchismus. Die Erreichung der wahren Freiheit von allen Formen der Unterdrückung wird unter dem schwarzen Banner der Anarchie stattfinden.

Nun könnte der russische Staat einen weiteren imperialistischen Krieg entfesseln. Wir möchten an die russischen Soldat*innen appellieren: Ihr werdet geschickt, um für die Interessen der gierigen und grausamen Herrscher und Reichen zu töten und zu sterben. Wenn ein Krieg ausbricht, desertiert mit euren Waffen, entwaffnet die Offiziere, schließt euch der revolutionären Bewegung an.«

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Interview: »Anarchist*innen und Krieg in der Ukraine«

Dieses Interview wurde von einem belarussischen Anarchisten, der derzeit im Ausland lebt, mit einem anarchistischen Aktivisten geführt, der an verschiedenen Kämpfen in der Ukraine beteiligt ist. Die Audioversion ist bei Elephant in the Room zu finden.

Schon seit einigen Wochen sammeln sich russische Truppen an der ukrainischen Grenze, und es besteht die Möglichkeit einer Invasion. Wir haben uns mit einem Genossen in Verbindung gesetzt, der uns ein wenig mehr darüber erklären kann, was dort passiert und was zu erwarten ist.

Heute haben wir einen Genossen und Freund, Ilya, einen anarchistischen Aktivisten, der sich derzeit in der Ukraine aufhält interviewt. Hallo, Ilja.

twitter.com/bad_immigrant/status/1487864014302502922

Hallo, hallo.

Vielen Dank, dass du dich zu diesem Interview bereit erklärt hast. Heute werden wir über eine Menge verschiedener Dinge sprechen. Ich glaube, für viele Menschen ist das, was in der Ukraine passiert, sehr verwirrend, und ich glaube es gibt viele Missverständnisse und viel Propaganda von beiden Seiten. Doch bevor wir uns mit der aktuellen Möglichkeit einer Invasion befassen, möchte ich über die Lage der Ukraine in der postsowjetischen Zeit sprechen. Wo stand sie politisch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, und warum war es für die russischen Eliten so wichtig, ihren Einfluss zu behalten und die Kontrolle über die politischen Prozesse in der Ukraine auszuüben?

Zunächst einmal vielen Dank, dass ich hier sein darf. Zur Lage der Ukraine nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion würde ich sagen, dass sie recht turbulent war. Sie durchlief mehrere verschiedene Phasen. Unter Präsident [Leonid] Kutschma und während des größten Teils der 1990er Jahre war sie ein taumelnder Staat mit verschiedenen oligarchischen Gruppen, die um verschiedene Machtsphären konkurrierten. (Bis zu einem gewissen Grad ist das auch heute noch so.) Wichtig ist aber auch, dass die Politik des russischen Staates in dieser Zeit, in den 1990er Jahren, ganz anders war als heute. Unter der Präsidentschaft Jelzins wurde keine besonders imperialistische Politik betrieben, zumindest soweit ich das beurteilen kann. Natürlich gab es eine sehr enge Interaktion zwischen den beiden Regierungen, sowohl wirtschaftlich, als auch zwischen den jeweiligen staatlichen Behörden. Aber es war nicht so, dass man von der Ukraine erwartete, dass sie sich Russland unterordnet, auch wenn es schon während der Sowjetunion viele wirtschaftliche Verbindungen und Abhängigkeiten zwischen Russland und der Ukraine gegeben hatte, die auch nach deren Zusammenbruch weiter bestanden.

Die Situation änderte sich, als Kutschma aus dem Präsidentenamt ausschied und ein Wettbewerb zwischen den [ukrainischen] Präsidenten [Viktor] Janukowitsch und [Viktor] Juschtschenko entstand. Viktor Juschtschenko vertrat eher eine westlich und national orientierte Perspektive. Dieser Konflikt erreichte seinen Höhepunkt während der ersten Maidan-Proteste2 im Jahr 2004, würde ich sagen. Juschtschenko gewann, und deshalb war dieser westlichere Politikkurs und die Distanzierung von Russland eine Zeit lang die vorherrschende politische Strömung in der Ukraine. Als 2008 der Krieg in Georgien (um Südossetien) ausbrach, ergriff die Ukraine eindeutig Partei – nur politisch, nicht militärisch – und stellte sich auf die georgische Seite des Konflikts.

Aber es ist wichtig zu verstehen, dass es in der Ukraine viele verschiedene kulturelle Gruppen, Gruppen mit wirtschaftlichen und politischen Interessen und Gruppen mit unterschiedlichen ideologischen Tendenzen, gibt. Sie sind nicht alle gleichberechtigt nebeneinander. Es handelt sich um ein wirklich komplexes und vielschichtiges Mosaik, das viel Verwirrung stiftet und eine Vielzahl unterschiedlicher politischer Strömungen und Entwicklungen hervorbringt. Diese sind selbst innerhalb der Ukraine manchmal nicht einfach zu verfolgen und zu verstehen.

Obwohl Juschtschenko eine Zeit lang die Oberhand hatte, gab es einen Konflikt zwischen – zum Beispiel – eher westlich und eher anti-russisch orientierten Bevölkerungsgruppen auf der einen Seite und eher pro-russischen oder – ich würde sagen – Gruppen mit einer postsowjetischen oder sowjetischen Mentalität auf der anderen Seite. Und dieser Konflikt fand auch zwischen politischen Gruppen statt. Denjenigen, die einen westlicheren Kurs vertraten, und solchen, wie einigen Oligarchen- und Mafia-Clans, die einer Zusammenarbeit mit Russland und den russischen Behörden offener gegenüberstanden. Es ist wichtig zu verstehen, dass es in der Ukraine viel Korruption gibt; eine Menge zwielichtiger Politik findet ständig hinter verschlossenen Türen statt. Viel mehr als zum Beispiel in Europa – obwohl wir alle wissen, dass es auch in Europa so etwas gibt – stimmen die offiziellen Erklärungen der lokalen Behörden nicht unbedingt mit ihren tatsächlichen Aktivitäten überein.

Nach der Präsidentschaft von Juschtschenko kandidierte Janukowitsch erneut für das Präsidentenamt und gewann schließlich [2010] die Wahlen. Danach wurde die Situation sehr unklar, denn er verfolgte einen sehr verschlagenen Ansatz, jedenfalls würde ich das so sagen. Er versuchte ständig, so zu tun, als ob er sowohl mit dem Westen, als auch mit den russischen Behörden zu tun hätte. Dadurch hat er in der Bevölkerung viel Verwirrung gestiftet. Nachdem er zunächst einige Vereinbarungen mit der Europäischen Union getroffen hatte, versuchte er unerwartet, diese zu annullieren und sich offiziell in den russischen Einflussbereich zu begeben. Dies führte zu Unstimmigkeiten und Unruhen, die zu den [zweiten] Maidan-Protesten führten, die im Spätherbst 2013 begannen.

Russische Militärübungen.

Apropos Maidan-Proteste: Kannst du ein wenig zusammenfassen, was dort geschah – aber in einer wirklich kurzen Version, denn die Geschichte ist wirklich lang – mit den wichtigsten Punkten, die interessant sein könnten, wer daran beteiligt war, warum es provoziert wurde und was die Ergebnisse des Maidan waren?

Ja, sicher. Es ist natürlich sehr schwer, ihn kurz zu beschreiben, aber ich werde mein Bestes versuchen. Am Anfang waren es vor allem Studierendenproteste. Diese entstanden nach den [bereits erwähnten] politischen Schritten Janukowitschs, die in der Bevölkerung und vor allem bei der Jugend sehr unpopulär waren. Viele Menschen befürworteten die Annäherung an die Europäische Union: die Möglichkeit, ohne Visum oder ähnlichem in die EU zu reisen. Als Janukowitsch von dieser zuvor erklärten Linie ab rückte, war dies der Auslöser für die großen Proteste von Jugendlichen, vor allem Studierende, im November 2013.

Aber nicht nur die Jugend war mit der Politik von Janukowitsch unzufrieden. Nachdem die Jugendlichen von der Bereitschaftspolizei schwer verprügelt worden waren, löste dies heftige Vergeltungsmaßnahmen aus breiteren Teilen der ukrainischen Gesellschaft aus. Von diesem Zeitpunkt an wurden die Proteste zu vielschichtigen, klassenübergreifenden Protesten, an denen sich verschiedene Gesellschaftsschichten beteiligten. Viele Menschen aus verschiedenen Regionen der Ukraine gingen in Kiew und auch in vielen anderen Städten im Osten und Westen des Landes auf die Straße. Die Menschen gingen auf die Straße und begannen nach einiger Zeit auch, Verwaltungsgebäude zu besetzen. Die heftigsten Proteste fanden in Kiew und auch in mehreren westlichen Städten statt, die weiter von Russland entfernt liegen, ukrainischsprachig sind und als eher pro-westlich gelten.

Der Konflikt durchlief mehrere Phasen, in denen sich die Konfrontationen verschärften und dann eine vorübergehende Beruhigung eintrat. Doch im Februar [2014] erreichte er seinen Höhepunkt. Der endgültige Konflikt begann, als Demonstrant*innen versuchten, das Parlamentsgebäude in Kiew zu besetzen und auch zum Präsidialamt zu kommen, um den sofortigen Rücktritt von Präsident Janukowitsch wegen seiner Unterdrückung, Korruption und pro-russischen Politik zu fordern. Die Vergeltungsmaßnahmen der Bereitschaftspolizei und der Spezialeinheiten waren äußerst hart; etwa einhundert Menschen wurden getötet. Dann kam es zu einer offenen Konfrontation, man könnte sogar sagen, zu einer bewaffneten Konfrontation zwischen der Seite der Demonstrierenden und der Seite der Regierung. Das war der Moment, in dem sich einige fragwürdige Dinge zu entwickeln begannen. Janukowitsch verschwand Mitte Februar nach einigen Tagen einfach und tauchte dann in Russland auf.

Als er floh, war das der Moment des Zusammenbruchs des eher pro-russischen Regimes in der Ukraine. Das war der Wendepunkt, von dem aus sich die gegenwärtige Situation zu entwickeln begann.

Das stimmt. Und er vergaß sein goldenes Baguette3 als er ging, richtig?

Ja, ja, genau – und eine Menge anderer Dinge! (lacht)

Viele Menschen im Westen haben unter dem Einfluss der russischen Propaganda und der Desinformationskampagne angefangen, die Geschichte zu glauben, dass das, was 2014 in der Ukraine passiert ist, ein faschistischer Putsch war, der von der NATO unterstützt wurde. Einige Journalisten – auch Liberale, aber neben Liberalen gab es auch Anarchist*innen und Linke, die dieses Narrativ reproduzierten – behaupteten, dass es sich um einen NATO-Putsch handelte und dass danach eine faschistische Regierung eingesetzt wurde.

Kannst du dieses Narrativ bewerten? War es so, oder gab es zu diesem Zeitpunkt noch etwas anderes?

Ja, ich denke, ich kann mit gutem Gewissen darüber sprechen, weil ich selbst an den Ereignissen teilgenommen habe. Ich war in der heißen Phase des Konflikts im Februar für neun Tage in Kiew. Ich war also persönlich Zeuge einer echten Bewegung von unten, an der Hunderttausende von Menschen teilnahmen. Als ich später mit einigen westlichen Genoss*innen darüber sprach, hörte ich diese Spekulationen über das, was die NATO hinter den Kulissen tat, über einen Nazi-Putsch und solche Dinge. Andere meinten, OK, wenn Hunderttausende von Menschen auf der Straße waren, kann es sich nicht nur um einen inszenierten Putsch oder so etwas handeln.

Die extreme Rechte hat sich natürlich daran beteiligt. Sie haben sich aktiv beteiligt, haben wirksame politische Entwicklungen eingeleitet und waren sehr aggressiv, sehr dominant und bis zu einem gewissen Punkt erfolgreich. Aber sie waren natürlich immer noch eine Minderheit bei diesen Protesten. Und obwohl ihr ideologischer Einfluss durchaus vorhanden war, so waren sie doch nicht diejenigen, die die Proteste lenkten oder die Forderungen und das ideologische Gesicht dieser Veranstaltungen wirklich gestalteten.

Ich sah eine Menge sehr spontaner Selbstorganisation seitens der Bevölkerung. Ich sah eine Menge aufrichtiger Massenunruhe und großer Wut gegen das staatliche Establishment, das dieses Land wirklich arm und gedemütigt hat. Es war also im Großen und Ganzen ein echter Massenaufstand. Auch wenn natürlich alle politischen Mächte, die davon profitieren konnten, versuchten, ihn so stark wie möglich zu beeinflussen. Und sie waren teilweise erfolgreich.

Aber ich verstehe das vor allem als Frage an uns – an die Libertären, die Anarchist*innen, die radikale Linke, wenn du so willst –, warum waren wir nicht organisiert genug, um mit den Faschist*innen effektiv zu konkurrieren? Das ist keine Frage an die Maidan-Bewegung oder an die Menschen in der Ukraine, sondern an uns. Und noch einmal, um es zusammenzufassen: Der Maidan war in erster Linie ein Massenaufstand.

Das Asow-Regiment.

Nach dem Maidan war Putin enttäuscht, es gab eine Menge politischer Spekulationen und politischer Kämpfe, und schließlich die [russische] Besetzung oder Übernahme der Krim und dann die Entwicklung [hin zum von Russland unterstützten Separatistenkrieg] im Donbass. Kannst du kurz zusammenfassen, was zwischen 2014 und 2015 tatsächlich passiert ist? Wie groß war der Konflikt, der sich dort zusammenbraute, oder sind die Dinge, die dort geschehen, einfach aus dem Nichts aufgetaucht?

Als das ukrainische Regime von Janukowitsch zu stürzen begann, war das der Moment der Wahrheit, der Punkt, an dem alle Stabilität und alle klaren Verhältnisse irgendwie zerbrochen waren. Dann begannen die russischen Behörden, sehr hart – und auch impulsiv – zu reagieren. Sie wollten Gegenmaßnahmen gegen die Maidan-Bewegung ergreifen, die die Tendenz hatte, die Ukraine dem russischen Staatseinfluss zu entziehen. Daraufhin besetzten sie die Halbinsel Krim. Sie haben sich auch weitgehend in der dortigen Bevölkerung verankert, denn die dortige Bevölkerung ist nicht so sehr – natürlich kann man das nicht verallgemeinern – aber viele Menschen dort identifizieren sich nicht mit der Ukraine. Das war die Grundlage dafür, dass Russland die Möglichkeit hatte, der Ukraine das Gebiet erfolgreich zu entreißen.

Sie [die russischen Behörden] haben auch die Ereignisse im Donbass stark beeinflusst, weil die neuen ukrainischen Behörden, die provisorische Regierung, einige sehr dumme Schritte gegen die russische Sprache unternommen haben. Dies gab den russischen Propagandist*innen die Möglichkeit, die Ereignisse auf dem Maidan als ›anti-russisch‹ im nationalen Sinne darzustellen. Das stimmte zwar nicht im Großen und Ganzen, aber für die Menschen im Donbass – die mehrheitlich russischsprachig ist und psychologisch sehr nah an Russland liegt, soweit ich das einschätzen kann, auch wenn dort viele verschiedene Menschen leben – bot sich den russischen Behörden die Gelegenheit, ihren Einfluss dort auszuweiten und Kräfte dorthin zu schicken.4 Sie sollten lokale abtrünnige Gruppen unterstützen, damit diese effektiv gegen die ukrainische Armee kämpfen oder zumindest überleben konnten. Die ukrainische Armee versuchte, die Integrität des ukrainischen Staates zu gewährleisten. Zu diesem Zeitpunkt ereigneten sich im Donbass einige dramatische militärische Ereignisse, bei denen ein Teil der Bevölkerung erklärte, dass sie nicht mehr Teil der Ukraine sein wolle. Aber ohne die Unterstützung des russischen Staates wäre es nicht möglich gewesen, dass diese Bewegung in einem solchen Ausmaß wächst. Und wir müssen uns daran erinnern, dass Millionen von Flüchtlingen aus dem Donbass damals sowohl nach Russland, als auch in die Ukraine kamen.

Viele Menschen aus dem Donbass fühlen sich immer noch mit der Ukraine verbunden. Aber das ist keine Frage, die innerhalb dieser Staatslogik von zwei Nationalstaaten, oder besser gesagt, dem russischen imperialistischen Staat und dem ukrainischen Nationalstaat, wirklich gelöst werden kann. Es ist eine Frage, die wirklich eine konföderale Lösung braucht. Aber wie üblich haben beide Seiten diesen Konflikt zu ihrem eigenen Vorteil ausgenutzt, und das war der Punkt, an dem die nationalistische Meinung zu wachsen begann – sowohl in Russland als auch in der Ukraine – würde ich sagen.

Gemeinsame Ausbildung von Streitkräften der Vereinigten Staaten und Lettlands.

Richtig. Es gab diese Minsker Vereinbarungen [im Jahr 2015], die so etwas wie eine Einigung zwischen Putin, Merkel und dem Westen/Osten darstellten. Aber nur um einen Eindruck vom Donbass zu vermitteln: Hat sich dort in den letzten Jahren etwas getan, oder stimmt es, dass es keine militärischen Aktionen und keine Gewalt gab?

Natürlich ist es wichtig zu wissen, dass diese Minsker Vereinbarungen bis heute nicht wirklich umgesetzt wurden. Und obwohl die aktive Phase des Konflikts – in der die Frontlinie auf und ab ging und bedeutende Bewegungen der Armeen stattfanden – wirklich beendet ist, ist dies immer noch eine Zone ständiger Konflikte, ständiger kleinerer Zusammenstöße, mit Todesfällen jede Woche und manchmal sogar jeden Tag. Granatenbeschuss von beiden Seiten ist immer noch an der Tagesordnung. Dies ist eine Wunde, die nie verheilt ist. Das ist immer noch etwas, das ständig stattfindet, selbst bei geringer Intensität.

twitter.com/crimethinc/status/1485713815681572870

Wie reagierte eigentlich die lokale anarchistische oder antifaschistische Bewegung auf diese Ereignisse? Soweit ich mich erinnere, schloss sich der ›antifaschistische‹ Teil der antifaschistischen Bewegung dem Kampf gegen die Russen an und zog in den Krieg im Donbass … aber was ist mit den Anarchist*innen und dem Rest der Antifaschist*innen, die nicht am Krieg beteiligt waren?

An dieser Stelle muss ich zunächst einmal sagen, dass ich in den Zeiträumen, über die wir hier sprechen, noch nicht in der Ukraine gelebt habe, also 2015, 2016, 2017 und so weiter. Aber auch heute noch kann ich das irgendwie einschätzen und natürlich hatte ich schon vorher meine Finger am Puls dieser Bewegung.

Ja, ein Teil der anarchistischen Bewegung hatte wirklich dieses ›patriotische‹ Gefühl, oder, wenn du so willst, dieses ›antiimperialistische‹ Gefühl, und sie nahmen diese defensive Seite ein – das heißt, einige Leute traten den freiwilligen Einheiten und auch der Armee, der regulären Armee, bei. Motiviert durch die Notwendigkeit, dem größeren Übel des imperialistischen Putin-Staates entgegenzutreten. Einige nahmen vielleicht eine gemäßigtere und internationalistischere Position ein und versuchten zu betonen, dass beide Seiten in keiner Weise gut sind, dass beide Seiten eine unterdrückerische und schlechte Politik vertreten – sowohl die russische als auch die ukrainische Seite.

Aber im Moment denke ich, dass die absolute Mehrheit der lokalen anarchistischen Gemeinschaft jede russische Invasion ablehnt und all den Spekulationen der Putin-Seite keinen Glauben schenkt, dass es sich hier um eine ›antifaschistische‹ Aktion handelt, die sich gegen die ukrainische rechtsextreme Politik richtet und so weiter. Auf keinen Fall. Es ist einfach ein imperialistischer Schachzug. Das ist allen Genoss*innen vor Ort klar.

Dieses Jahr begann mit einem riesigen Shitstorm. Die Russ*innen sind mit ihren Partner*innen in Kasachstan eingefallen und haben geholfen, das Tokajew-Regime zu stabilisieren. Jetzt besteht die Möglichkeit eines Krieges in der Ukraine. Kannst du uns sagen, warum Putin diese wirklich aggressiven Schritte so schnell unternommen hat? Ich glaube, es sind schon einige Monate vergangen, seit die Armee an die ukrainische Grenze verlegt wurde, und die Kasachstan-Krise und so weiter. Was denkst du über die Gründe, warum dies geschieht?

Ganz allgemein und insgesamt gesehen befindet sich das Putin-Regime in einer verzweifelten Lage. Einerseits ist es immer noch sehr mächtig, da es über viele Ressourcen verfügt und sein eigenes Territorium weitgehend kontrolliert. Aber gleichzeitig gleitet ihm die Macht wie Sand zwischen den Fingern weg. An verschiedenen Stellen gibt es deutliche Risse in diesem von Putin entworfenen System von Grenzstaaten, die Satelliten seines Regimes sein sollen, wie Kasachstan, Belarus, Kirgisistan und Armenien. In allen genannten Ländern gibt es sehr starke soziale Strömungen, große soziale Unruhen und Proteste. Geopolitisch gesehen besteht die ernste Gefahr, dass die Kontrolle über diese benachbarten Gebiete schwinden wird.

Auch intern hat sich die wirtschaftliche Lage in Russland seit 2014 verschlechtert, genauer gesagt seit den Ereignissen auf dem Maidan, der Übernahme der Krim und den umfangreichen Sanktionen der westlichen Mächte gegen Russland. Dies führte zu einem stetigen wirtschaftlichen Rückgang, und nun ist ein Großteil der Popularität, die Putin nach der Übernahme der Krim gewonnen hatte, bereits verloren. Hinzu kam die COVID-19-Pandemie, die nicht gerade zu seiner Popularität in der Bevölkerung beigetragen hat. Jetzt ist er sogar innerhalb Russlands nicht mehr sehr beliebt.

Das ist also die Situation, wenn du Putin bist: Du bist immer noch sehr mächtig, aber gleichzeitig siehst du, wie sich Situationen abspielen, die nicht zu deinem Gunsten sind. Ich denke, dass all diese Aggressionen verzweifelte Versuche sind, seine Macht nicht schwinden zu lassen, seine autoritäre Herrschaft irgendwie aufrechtzuerhalten.

Ich denke, dass der ganze Mist, den Putin in der Vergangenheit in all diesen anderen Ländern gemacht hat, normalerweise ein Versuch war, von den internen Problemen abzulenken, wie du bereits erwähnt hast. Wie populär ist der aktuelle Konflikt mit der Ukraine eigentlich in der russischen Gesellschaft? Ist es eine patriotische Euphorie, so nach dem Motto »Ja, auf, auf zum Kampf«? Oder gibt es einen Widerstand, unterstützt das niemand? Was braut sich innerhalb der großen russischen Gemeinschaft zusammen?

Für mich ist das etwas schwer einzuschätzen, weil ich seit fast drei Jahren nicht mehr in Russland war. Aber gleichzeitig kann ich sagen, dass die Menschen, mit denen ich in Kontakt gekommen bin, diese Kriegsperspektive sehr pessimistisch sehen. Natürlich repräsentieren die Menschen, mit denen ich in Kontakt bin, einen bestimmten ideologischen Rahmen. Normale Menschen, soweit ich das vermuten kann und soweit ich das an den Beispielen der normalen Menschen, die ich kenne, sehen kann … Ich würde sagen, dass sie immer noch nicht sehr optimistisch sind, was die Aussichten auf einen großen Krieg mit irgendjemandem angeht, weil sie verstehen, dass dies zu Toten und zu einem weiteren wirtschaftlichen Abschwung führen wird. Selbst die Fernsehpropaganda, die in Russland von Jahr zu Jahr immer schrecklicher wird – es ist eine Art ständige Flut von Scheiße, die direkt in die Gehirne der Menschen eindringt – ist nicht in der Lage, die Menschen wirklich für einen Krieg zu begeistern.

Soweit ich sehe, gibt es in Russland keine patriotische Euphorie. Nach all den Pandemiewellen, nach all den Kämpfen um QR-Codes und Impfungen und auch nach einigen anderen unpopulären Schritten der Behörden, wie dem offensichtlichen Wahlbetrug, den wir in diesem Herbst in Russland erlebt haben, ist dies eine sehr schlechte Grundlage für die Menschen, um wirklich nationalistische patriotische Aufregung zu entwickeln.

Natürlich könnte ein Krieg anfangs zu einem gewissen Anstieg des Patriotismus führen, wie es fast immer der Fall ist. Aber ich glaube nicht, dass er stabil oder wirklich signifikant sein wird. Und wenn Russland auf entschlossenen Widerstand stößt, auf große Probleme in der Ukraine, dann wird dieser ganze Pro-Staatspatriotismus sehr bald abklingen und sich in sein Gegenteil verkehren.

Auf der anderen Seite versucht die ukrainische Regierung, die Situation für sich zu nutzen, indem sie zum Beispiel sehr schnell mit den westlichen Verbündeten zusammenarbeitet, Waffen beschafft und so weiter. Aber kannst du die Reaktion innerhalb der ukrainischen Gesellschaft auf die Maßnahmen der ukrainischen Regierung zusammenfassen? Was versuchen sie neben all diesen Mobilisierungsbemühungen zu tun?

Eigentlich ist die Situation für mich jetzt nicht sehr klar. Seit 2004, also vor dem Konflikt in der Ostukraine, kam [der Konflikt] sowohl dem Putin-Regime als auch den lokalen Behörden zugute, denn wenn man diese defensive nationalistisch-patriotische Stimmung hat, ist es wirklich einfacher, sich vor allen Fragen von unten, von der Basis, zu schützen. Fragen wie: Was ist in unserem Land los? Warum ist es so arm? Warum steckt es so tief in der Scheiße? Auf diese Fragen gab es eine klare, schnelle Antwort: Der äußere Feind ist an allem schuld.

Das war das Mittel, das von den lokalen Behörden häufig eingesetzt wurde, diese Haltung: »Wir werden Maßnahmen für alle internen Probleme ergreifen, wenn die externe Bedrohung verschwunden ist.« Diese Haltung ist in der Ukraine nicht sehr populär, aber es gibt sie, und sie wird in einigen Teilen der Gesellschaft lautstark vertreten.

Es ist klar, dass die Zelenskij-Regierung auf vielfältige Weise mit ihren politischen Gegner*innen kämpft – sowohl mit dem ehemaligen Präsidenten Poroschenko, der nun strafrechtlich verfolgt wird, als auch mit eher pro-russischen Kräften wie Medwedtschuk, der nun ebenfalls strafrechtlich verfolgt wird und dessen Partei Repressionen ausgesetzt ist. Irgendwie ist auch die extreme Rechte unter Druck geraten, seit ihr geliebter Schirmherr, Innenminister Awakow, vor einigen Monaten zurückgetreten ist. Daraufhin wurden einige Mitglieder der Asow-Bewegung – des Nationalen Korps, der derzeit größten rechtsextremen Partei in der Ukraine – ebenfalls verhaftet.

Der ukrainische Staat hat sich also irgendwie konsolidiert. So viel ist sichtbar. Wie sich das auf die Innenpolitik im Zusammenhang mit dieser Bedrohung auswirkt, ist mir im Moment noch nicht ganz klar. Aber wir können einige wirklich alarmierende Tendenzen erkennen, die darauf abzielen, die Exekutivgewalt in den Händen des Präsidenten und seiner Mannschaft zu konzentrieren.

Wie würdest du die Politik der derzeitigen Regierung beschreiben? Ich erinnere mich, dass Zelenskij ein Populist war, der sagte: Ja, wir werden die Korruption bekämpfen, wir werden alle glücklich machen und so weiter. Wie sieht seine Politik im Moment aus? Ich höre in der westlichen Hemisphäre auch, dass der Krieg nicht so wichtig ist, weil er im Grunde nur ein faschistisches Regime durch ein anderes faschistisches Regime ersetzt. Wie sehr unterscheiden sich die Politik und die ›liberalen Freiheiten‹ in der Ukraine von denen in Russland?

Zunächst einmal ist das Zelenskij-Regime definitiv nicht faschistisch, zumindest nicht im Moment – und sei es nur, weil es noch nicht so viel Kontrolle hat. Das liegt daran, dass die Staatsmacht in der Ukraine nicht so gefestigt ist wie in Russland oder in Belarus. Aber dieses Regime ist natürlich immer noch keineswegs ›gut‹. Es sind immer noch korrupte Lügner*innen, die im Grunde genommen neoliberalen Schwachsinn machen. Ich würde sagen, das ist das Design des größten Teils ihrer Politik. Aber dennoch ist dieses Land zumindest in seiner sozialen Struktur viel weniger autoritär, auch wenn es in seiner wirtschaftlichen Struktur super beschissen ist. Das ist der Grund, warum so viele politische Dissident*innen aus Belarus, Russland und auch Kasachstan hier Unterschlupf finden. Weil es hier keine einheitliche Staatslinie gibt, gibt es nicht so viele Möglichkeiten für den Staat, die gesamte soziale Landschaft zu kontrollieren und zu gestalten – auch wenn der Staat, wie ich schon sagte, das jetzt verstärkt versucht.

Eine Übernahme der Ukraine durch die russischen Behörden oder eine eindeutig pro-russische Regierung wäre also eine Katastrophe, weil ein etwas freieres Gebiet – oder ich würde sagen, eher eine ›Grauzone‹, wie die Ukraine jetzt ist – unter die Kontrolle der autoritären und harten Diktatur Putins geraten würde. Um es klar zu sagen: Der ukrainische Staat ist immer noch ein beschissenes populistisches Regime, das seit der Machtübernahme durch Zelenskij keine positiven politischen Schritte unternommen hat, soweit ich das beurteilen kann. Der einzige konkrete Schritt, an den ich mich im Moment erinnern kann, war dieses Gesetz über landwirtschaftliche Flächen, die nun frei auf dem Markt gekauft und verkauft werden können, während es vorher einige Hindernisse gab. Wir glauben, dass dieses Gesetz bald zu einer Konzentration der landwirtschaftlichen Flächen in den Händen einiger großer Agrarkonzerne führen wird. Die gesamte neoliberale Politik wird also in die Tat umgesetzt.

Dennoch sehen wir viel Armut, sowohl in der Ukraine als auch in Russland. Natürlich ist die Ukraine ein ärmeres Land, weil sie nicht so viel Öl und Gas hat. Aber wenn Russland die Ukraine besetzt, glauben wir dann wirklich, dass die lokale Arbeiter*innenklasse und die armen Menschen von dem neuen Besatzungsregime wirtschaftlich profitieren werden? Nein, natürlich nicht. Es fällt mir wirklich schwer, daran zu glauben. Denn die wirtschaftliche Lage Russlands wird immer schlechter, und sie haben einfach keine Ressourcen, die sie mit anderen Menschen teilen könnten. Um diese große Brücke vom russischen Festland zur Krim zu bauen, musste der Bau mehrerer Brücken in Sibirien und anderen Teilen Russlands eingestellt werden. Sie haben also keine Ressourcen, die sie mit den Menschen hier vor Ort teilen könnten, selbst wenn sie sie irgendwie freikaufen wollten. Und im Bereich Politik und Gesellschaft können wir vom Putin-Regime natürlich nichts Besseres erwarten. In Sachen Diktatur, in Sachen staatlicher Kontrolle und staatlicher Unterdrückung ist das Putin-Regime derzeit viel gefährlicher als das lokale Regime. Das lokale Regime ist nicht ›besser‹, es ist nur weniger mächtig.

twitter.com/bad_immigrant/status/1487069917186830340

Viele der Dinge, die mit Russland geschehen, die Dinge, die sich Putin in den letzten fünfzehn oder so Jahren erlaubt hat, geschahen mit einer Art stillschweigendem OK der internationalen Gemeinschaft. Oder sie führen nur zu einer leeren Erklärung, die besagt, dass »wir die Verletzung der Menschenrechte verurteilen«, blah blah blah. Die Situation in Kasachstan zum Beispiel – der jüngste Fall – hat keinerlei politische oder soziale Gegenreaktion seitens anderer politischer Akteur*innen ausgelöst. Für mich ist die Frage interessant, wie die internationale Gemeinschaft auf die Möglichkeit einer Invasion in der Ukraine reagieren würde. Heißt es: OK, wir ziehen in den Krieg und machen Russland fertig? Oder ist es eher so, dass wir ›besorgt‹ sein werden, wenn Russland die Ukraine übernimmt, blah blah blah?

Nun, ich bin mir nicht sicher, ob mein Bild von hier aus wirklich korrekt ist, aber natürlich hören und sehen wir jeden Tag in den Nachrichten, dass zum Beispiel der amerikanische [d.h. US-] Präsident und die amerikanische Regierung Russland im Falle einer militärischen Aggression mit massiven Wirtschaftssanktionen drohen. Außerdem haben wir vor kurzem erfahren, dass die Ukraine auch militärische Unterstützung erhalten hat – zwar nicht in Form von militärischem Personal, aber in Form von Waffen. Ich denke also, dass es eine gewisse Reaktion der so genannten internationalen Gemeinschaft gibt.

Aber von hier aus sieht es immer so aus, als würde der Westen ständig Versprechungen machen, aber nie wirklich die entscheidenden Schritte unternehmen, die Putins Aggression tatsächlich verhindern könnten. Die Menschen in der Ukraine, und ich glaube, auch diejenigen, die eine gewisse Sympathie für die westlichen Länder hatten, fühlen sich mehr und mehr von den Mächten, an die sie einst glaubten, im Stich gelassen.

Apropos Anarchist*innen in der Ukraine – ich weiß, dass die anarchistische Bewegung in der Ukraine nicht die stärkste in der Region ist und dass sie unter den jüngsten Konflikten im Donbass usw. gelitten hat. Wie ist die aktuelle Reaktion auf die Möglichkeit einer russischen Invasion? Worüber sprechen die Anarchist*innen? Worüber denken Anarchist*innen nach oder mobilisieren sie für den Fall, dass die russischen Streitkräfte einmarschieren?

Nun, ich würde sagen, dass es innerhalb der anarchistischen Gemeinschaft hier zwei verschiedene Arten gibt. Natürlich diskutieren wir viel darüber, fast jeden Tag und bei jedem Treffen, und einige Leute sind wirklich daran interessiert, sich am Widerstand zu beteiligen. Manche in militärischer Hinsicht, manche auch in Bezug auf zivile Freiwilligenarbeit, manche in Bezug auf Logistik und so weiter. Andere denken natürlich eher daran, zu fliehen und irgendwo unterzutauchen. Ich bin eher mit der ersten Idee einverstanden (und das ist meine persönliche, aber auch politische Position). Wenn man flieht, ist man aus jedem politischen und sozialen Protest heraus. Wir als Revolutionär*innen müssen einen aktiven Standpunkt einnehmen, nicht nur passiv zuschauen oder fliehen. Wir müssen in diese Ereignisse eingreifen. Das ist ganz sicher.

Die größte Herausforderung und die wichtigste Frage ist: Auf welche Weise sollten wir eingreifen? Denn wenn wir, wie in den Jahren 2014-15 geschehen, nur einzeln hingehen und uns einigen ukrainischen Truppen anschließen, um der Aggression entgegenzutreten, ist das eigentlich keine politische Aktivität. Es ist lediglich ein Akt der Selbstanpassung an die staatliche Politik, an die Politik des Nationalstaates.

Zum Glück ist das nicht nur meine Meinung. Viele Leute denken hier darüber nach, eine organisierte Struktur zu schaffen … die in gewisser Weise mit den staatlichen Strukturen der Selbstverteidigung zusammenarbeiten kann, aber dennoch autonom und unter unserem Einfluss sein wird und sich aus Genoss*innen zusammensetzt. Es wird sich also um eine organisierte Beteiligung mit unserer eigenen Agenda und unserer eigenen politischen Botschaft handeln, zu unserem eigenen organisatorischen Nutzen. Wir ergreifen nicht einfach Partei für irgendeinen staatlichen Akteur in diesem Konflikt.

twitter.com/Jake_Hanrahan/status/1459541251276128259

Richtig, aber einige Leute würden mit Sicherheit sagen: »Hey, ihr seid Anarchist*innen gegen den Staat, und jetzt schützt ihr den Staat.« Ich bin mir ziemlich sicher, dass es Leute gibt, die meinen, Anarchist*innen sollten sich ganz aus diesen Konflikten heraushalten. Was würdest du ihnen antworten?

Zunächst einmal würde ich ihnen antworten – danke, das ist eine wertvolle Kritik. Wir müssen wirklich abwägen, wie wir intervenieren, um nicht nur ein Werkzeug in den Händen eines Staates zu werden. Aber wenn wir eine kluge Politik betreiben – wenn wir die Kunst der Politik anwenden, würde ich sagen –, dann haben wir eine Chance. Wenn wir uns von den staatlichen Konflikten fernhalten, dann halten wir uns auch von der eigentlichen Politik fern, wie ich bereits sagte. Das ist jetzt einer der wichtigsten gesellschaftlichen Konflikte, die in unserer Region ausgetragen werden. Wenn wir uns davon abkapseln, kapseln wir uns von dem eigentlichen gesellschaftlichen Prozess ab. Wir müssen uns also irgendwie beteiligen.

Natürlich steht es außer Frage, dass wir dem imperialen Putinismus entgegentreten müssen. Wenn wir in dieser Hinsicht irgendeine Art von Zusammenarbeit brauchen, dann brauchen wir sie. Natürlich müssen wir sehr sorgfältig, sehr vorsichtig abwägen, wie wir uns nicht von einigen sehr reaktionären und negativen Mächten abhängig machen. Das ist wirklich eine Frage und eine Herausforderung, aber das ist der schwierige Weg, den wir beschreiten können. Vor diesen Herausforderungen zu fliehen, kommt einer Kapitulation gleich, wenn es darum geht, die Anarchie zu fördern und die soziale Befreiung und Revolution in unserer Region zu unterstützen. Und das ist für mich und für viele andere Genoss*innen keine akzeptable Position.

Ich denke, dass es für mich auch wichtig ist, hier darauf hinzuweisen, dass die Ukraine alles in allem so etwas wie eine letzte Bastion unter den ehemaligen Sowjetländern ist. Gegenwärtig nimmt die Ausdehnung von Putins Imperium immer aggressivere Züge an – wieder die Kasachstan-Geschichte, die Belarus-Geschichte, die volle Unterstützung des Lukaschenko-Regimes unter bestimmten Bedingungen der Wiedereingliederung von Belarus in Russland – all diese Schritte zielen darauf ab, die gesamte Region wieder unter Putins Autoritarismus zu bringen. Für uns als Anarchist*innen ist es extrem wichtig, darauf eine Antwort zu geben und nicht nur auf unseren Thronen zu sitzen und zu sagen: »Oh, das ist so toll, wir sind Anarchist*innen; wir sind gegen den Staat, und all diese einfache, dumme Politik des Staates berührt uns nicht.«

Das ist natürlich richtig. Aber gleichzeitig möchte ich betonen, dass wir uns auch nicht auf die Seite der lokalen nationalistischen Kreise und lokalen Nationalstaaten stellen sollten. Denn das sind keineswegs progressive politische Einheiten oder progressive politische Stimmen. Sie produzieren auch wirklich eine Menge Unterdrückung und Ausbeutung, und dem müssen wir auch wirklich entgegentreten, sowohl lautstark, als auch durch unsere Aktivitäten.

Russische Boden-Luft-Raketensysteme, die in Belarus eintreffen.

Ganz genau. Dem kann ich nur zustimmen. Wie können [Leser*innen], die nicht in der Region sind, euch unterstützen? Oder wie kann man mehr Informationen über die Situation bekommen?

Nun, zunächst einmal könnte die Unterstützung in Form von Informationen erfolgen; wenn man aufmerksam verfolgt, was hier vor sich geht, und Informationen verbreitet, das Wort verbreitet, wäre das schon eine wirklich große Sache. Ich denke auch, wenn du die Möglichkeit hast, mit lokalen anarchistischen Genoss*innen in Kontakt zu kommen, ist es möglich, eine Art von Unterstützung anzufordern: vielleicht Solidaritätsaktionen, vielleicht die Vorbereitung einiger Bedingungen für Menschen, die fliehen müssen, um zum Beispiel aus der Region zu entkommen. Auch eine finanzielle Unterstützung könnte irgendwann erforderlich sein. Wenn wir in diesem Konflikt eine gewisse organisatorische Präsenz zeigen wollen, werden viele materielle Dinge und finanzielle Mittel benötigt.

Leider kann ich im Moment keine einheitliche Website oder einen Telegram-Kanal oder etwas Ähnliches empfehlen, dem man folgen könnte, um alles zu erfahren.5 Es gibt immer noch eine Vielzahl verschiedener kleinerer Medienprojekte und kleinerer Gruppen, keine wirklich große einheitliche Vereinigung oder einheitliche Organisation. Aber wenn man sich ein bisschen Mühe gibt, kommt man leicht in Kontakt mit dieser oder jener Fraktion der lokalen anarchistischen Bewegung, so dass man die Situation im Auge behalten kann und bereit ist, irgendwie zu reagieren. Das wird schon sehr geschätzt werden.

Super. Vielen Dank für das Gespräch. Pass auf dich auf, und hoffentlich kommt es nicht zum Krieg und die Russ*innen verpissen sich, und es gibt andere Dinge, um die man sich im Kampf kümmern kann, als den Widerstand gegen die russische Invasion zu organisieren.

Ja, hoffentlich.

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Ein Blick aus Kiew

Die Ukraine befindet sich nun schon seit acht Jahren im Krieg mit Russland und seinen Stellvertretern. Die Zahl der Todesopfer hat bereits 14.000 überschritten. Doch während sich russische Truppen entlang unserer nördlichen und östlichen Grenzen sammeln, ist es das erste Mal in der Geschichte dieses Krieges – oder sogar in der gesamten Geschichte der Ukraine, soweit ich sie bereits miterlebt habe –, dass ich regelmäßig Nachrichten von meinen ausländischen Freund*innen erhalte, von denen ich zum Teil seit Jahren nichts mehr gehört habe, die alle wissen wollen, ob ich in Sicherheit bin und ob die Bedrohung so groß ist, wie man ihnen gesagt hat. Diese Freund*innen haben unterschiedliche politische Ansichten, Alter, Berufe, Lebenserfahrungen und Hintergründe. Das Einzige, was sie gemeinsam haben, ist, dass sie alle aus den Vereinigten Staaten kommen.

Der Rest meiner Gefährt*innen auf der ganzen Welt scheint darüber weniger besorgt zu sein. Letzte Woche hatte ich einen Freund aus Griechenland und einen anderen aus Deutschland zu Gast, die beide überrascht zu sein schienen, als sie erfuhren, dass sie in einem Land gelandet waren, das jeden Moment zum Epizentrum des Dritten Weltkriegs werden soll (was wahrscheinlich der Grund dafür ist, dass ihre Flugtickets nur acht Euro kosteten). Ich wäre auch überrascht gewesen, wenn ich nicht zufällig selbst US-Fernsehen sehen würde. In den letzten Wochen ist mir aufgefallen, dass in allen möglichen Talkshows, die ich online sehe, immer wieder auf die Situation in der Ukraine hingewiesen wird. Es kommt mir fast so vor, als ob in den Vereinigten Staaten jetzt mehr über die Ukraine gesprochen wird als während des Korruptionsskandals von Joe Bidens Sohn.

Was man als Ukrainer*in von diesem plötzlichen Anstieg des Interesses an unserem endlosen Kampf gegen unseren missbräuchlichen imperialistischen Nachbarn hält, hängt von der eigenen politischen Einstellung ab. Als wir 1994 im Rahmen des Budapester Memorandums zustimmten, unsere Atomwaffen aufzugeben, versprachen Russland, das Vereinigte Königreich und die USA, die Unabhängigkeit, die Souveränität und die bestehenden Grenzen der Ukraine zu respektieren und zu schützen und von jeglicher Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit der Ukraine abzusehen. Als sich all diese Versprechen nur zwanzig Jahre später als völlig wertlos erwiesen, konnten viele Menschen hier nicht anders, als sich betrogen zu fühlen. Viele dieser Menschen haben nun das Gefühl, dass es für die USA an der Zeit ist, ihre Versprechen einzulösen. Ohne diesen Kontext wäre es äußerst schwierig zu verstehen, warum einige Menschen in der Ukraine applaudieren, wenn ein Offshore-Imperium, das die Ukraine als »Russlands Hinterhof« bezeichnet, Kriegsflugzeuge voller Soldaten über dieses souveräne Land fliegt.

Es gibt jedoch auch Menschen in der Ukraine, die wie ich ihr Misstrauen nicht auf das Imperium beschränken, mit dem wir unglücklicherweise eine gemeinsame Grenze haben, sondern dieses wohlverdiente Misstrauen auf den Rest des Landes ausdehnen. Selbst für diejenigen, die wirklich glauben, dass der Feind ihres Feindes ihr Freund ist, stellt sich die Frage, wie viele dieser Freund*innen, die die USA in der ganzen Welt gewonnen haben – Vietnames*innen, Afghan*innen, Kurd*innen und andere – es nicht bereut haben, einen solchen Verbündeten zu haben.

Diese recht niedrige Messlatte des kritischen Denkens ist in der Ukraine leider nicht annähernd so verbreitet wie kurzsichtiger Patriotismus, Nationalismus und Militarismus, die hier mit zunehmender Kriegshysterie an Fahrt gewinnen. In der Ukraine wird nicht viel darüber diskutiert, warum die USA und das Vereinigte Königreich jetzt endlich auf uns aufmerksam werden, nachdem wir acht schmerzhafte Jahre lang Menschenleben und Territorien verloren haben – einschließlich meiner Heimatstadt Lugansk. Und diese fehlende Neugier auf die Motive der Imperien wirkt in beide Richtungen: So wie es den meisten von uns egal sein könnte, was Bidens Regierung von diesem Machtspiel hat, beschränkt sich unser Verständnis dafür, warum Putin jetzt versuchen würde, weiter einzumarschieren, auf »Dieser blutrünstige Irre ist einfach verrückt«. Kaum jemand zieht die Möglichkeit in Betracht, dass mehr dahinter stecken könnte.

Noch weniger stellen die Behauptung in Frage, dass Russland seine Präsenz an der ukrainischen Grenze tatsächlich in einer Weise verstärkt hat, die unsere derzeitige Situation bedrohlicher macht als noch vor einem Jahr.

Ich sage nicht, dass die Bedrohung durch die Invasion der sehr realen russischen Truppen, die sich an unseren Grenzen sammeln, unbedeutend ist. Aber ich bezweifle, dass das Engagement der USA wirklich auf eine Deeskalation des Konflikts zum Wohle der ukrainischen Bevölkerung abzielt.

Da ich hier vor Ort bin, kann ich mich leider nicht auf besondere Fachkenntnisse stützen. Als ich Anfang 2014 alles sah, was im Land geschah, weigerte ich mich zu glauben, dass die Ukraine kurz vor einem Krieg stand, bis es dann doch geschah. Im Nachhinein scheint es unvermeidlich gewesen zu sein. Heute weiß niemand von uns wirklich, ob es zum Krieg kommen wird, und wenn ja, wann er eskalieren wird.

Einige Menschen sind bereits aus dem Land geflohen. Die meisten Menschen können sich nicht einmal eine kurze Reise ins Ausland leisten und sind daher gezwungen, ruhig zu bleiben und weiterzumachen. Abgesehen von Korruption und Krieg mag der Grund, warum die meisten Menschen in der Ukraine so verzweifelt arm sind, auch damit zusammenhängen, dass die Ukraine 2015 den Kommunismus verboten hat und derzeit das einzige Land in Europa ist, in dem das Parlament ausschließlich aus rechtsgerichteten Parteien unterschiedlicher Couleur besteht.

Wenn sich Ereignisse wie diese fast 6000 Meilen von einem entfernt abspielen, ist es nur natürlich, dass ein*e Anti-Autoritäre*r aus dem Ausland versucht, sicherzustellen, dass sie*er nicht für die Bösen Partei ergreift. Nicht jede*r, die*der für sich selbst eintritt, ist ein*e Zapatist*in, ein*e Kurd*in oder ein*e Katalan*in. Ein breites Spektrum verschiedener Gruppen auf der ganzen Welt widersetzt sich imperialistischer Aggression. Auf diesem Spektrum sind viele derjenigen, die behaupten, die Ukraine zu schützen, eher mit Gruppen wie der Hisbollah und der Hamas vergleichbar. Viele von ihnen sind rassistisch, konservativ, sexistisch, homophob, antisemitisch, rassistisch, pro-kapitalistisch oder sogar offen faschistisch? Ja. Aber kämpfen sie einen ungleichen Kampf gegen einen extrem mächtigen und gewalttätigen Nachbarstaat, in dem sie die einzige Hoffnung auf irgendeinen wirkungsvollen Widerstand zu sein scheinen? Ebenfalls ja.

Und das sind nicht die schwierigsten Fragen.

Wenn ein autokratisches Imperium versucht, einen anderen Staat zu zerstören, der zum Teil von Faschist*innen verteidigt wird, lehnen wir uns dann zurück und freuen uns, dass es nun ein paar Faschist*innen weniger auf der Welt gibt? Was ist, wenn unter den Toten auch Tausende von unschuldigen Menschen sind, die versuchen, sich zu verteidigen, oder einfach zur falschen Zeit am falschen Ort sind? Greifen wir ein, weil wir wissen, dass diese Spaltungen zwischen den Menschen nur denen zugute kommen, die bereits mächtig sind, niemals aber den Menschen, die gespalten werden?

Dies wirft eine weitere Frage auf: Was bedeutet ›Einschreiten‹? Gibt es eine Möglichkeit, hier ›einzugreifen‹, die sowohl substanziell als auch ohne negative Folgen ist? Keine der beiden Strategien, die die Vereinigten Staaten bisher angewandt haben, hat viel Erfolg gezeigt. Russland zu verärgern, macht die Dinge für alle nur noch schlimmer, während viele Menschen hier der Meinung sind, dass die Alternative – ›tiefe Besorgnis‹ zu äußern, ohne sich Putin in den Weg zu stellen – dazu geführt hat, dass der Krieg im Jahr 2014 überhaupt erst begonnen hat. Deshalb bezweifle ich, dass eine Lösung für das Problem des imperialen Appetits, die nicht die gleichzeitige Abschaffung beider Imperien beinhaltet, mehr als ein Pflaster für ein Problem dieser Größenordnung sein kann. Die Wahrheit ist, dass die Ukraine nicht das erste Opfer des Machthungers ist, und sie wird auch nicht das letzte sein. Solange wir diese Monster am Leben erhalten, wird es keine Rolle spielen, ob sie Freunde oder Feinde sind, gezähmt oder tollwütig, angekettet oder frei. Sie werden immer hungrig sein.

Ich hoffe jedoch, dass die Menschen in den USA und im Rest der Welt noch viel mehr tun können. Ich hoffe, dass wir uns alle organisieren und Gemeinschaften bilden können, die über die oberflächlichen Trennungen hinausgehen, die uns von den schädlichen Ideologien des Kapitalismus, des Konservatismus und des Individualismus auferlegt werden, und dass wir uns daran erinnern, dass wir nur dann wirklich schwach und hilflos sind, wenn wir voneinander getrennt, ausgegrenzt, unachtsam sind oder uns gegenseitig an die Gurgel gehen. Mit Bildung und Solidarität können wir versuchen, eine Welt zu schaffen, in der ein sinnloser Konflikt wie dieser noch weniger Sinn machen würde. Bis dahin können wir unser Bestes tun, um die Menschen auf der ganzen Welt zu unterstützen, die diesen grausamen Kriegen zum Opfer fallen.

Was bedeutet das konkret, jetzt, hier in der Ukraine? Und bedeutet die Tatsache, dass viele Menschen, die für die Ukraine kämpfen, tatsächlich Faschist*innen sind, dass all die Menschen, die sich hinter ihrem Rücken verstecken – mich eingeschlossen –, auch für ihre Politik verantwortlich sind? Hier kommen wir zu den schwierigeren Fragen.

Aber niemand geht hier auf diese Fragen ein. Die Menschen in der Ukraine sind alle damit beschäftigt, Erste-Hilfe-Kurse und Kurse im Umgang mit Waffen zu besuchen oder zu lernen, wo die städtischen Notunterkünfte sind – oder sie kämpfen einfach nur darum, über die Runden zu kommen. Hier herrscht keine totale Panik, nur dumpfe Müdigkeit. Die Bedrohung durch den großen Krieg ist nach wie vor sehr real; sollte es dazu kommen, ist es unwahrscheinlich, dass er zu etwas anderem führt als zu einer noch schwächeren, schlimmeren und kleineren Ukraine als der, die wir bereits haben. Und ich kann wirklich nicht einmal die aktuelle Version empfehlen.

Abgesehen davon muss ich auch zugeben, dass ich mein Leben nicht riskieren werde, um für dieses Land gegen die russische Armee zu kämpfen. Ich werde wahrscheinlich mein Bestes tun, um zu fliehen, wenn Kiew noch unbewohnbarer wird als es ohnehin schon ist. Dies ist zugegebenermaßen die Absicht eines Menschen mit einigen Privilegien. Die meisten Menschen hier können absolut nirgendwo hin.


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  1. Der Maidan Nezalezhnosti (»Platz der Unabhängigkeit«) ist der zentrale Platz von Kiew, der Hauptstadt der Ukraine. Er war 2004 Schauplatz massiver Proteste während der so genannten »Orangenen Revolution« und erneut 2013 bis 2014 während der Ereignisse, die zur ukrainischen Revolution von 2014 führten. 

  2. Siehe Fußnote 1 

  3. Berichten zufolge fanden Demonstrant*innen nach der Flucht Janukowitschs in seiner Residenz eine zwei Kilogramm schwere goldene Nachbildung eines Brotlaibs sowie vergoldete Toiletten. Der ukrainische Kapitalist Wladimir Lukjanenko hatte dem ehemaligen Präsidenten den Laib offenbar als Geburtstagsgeschenk überreicht. 

  4. Die russische Regierung dementierte die Entsendung von Truppen in die ukrainische Region Donbass. 

  5. Anm. d. ÜS: Stand 02.03.2022 – es gibt inzwischen eine Website, die wir an dieser Stelle empfehlen: operation-solidarity.org