Russland: Das Rad der Geschichte muss sich weiterdrehen

:

Gedanken zur ersten Phase der russischen Antikriegsbewegung

Categories:

cdn.crimethinc.com/assets/articles/2022/03/31/header2.jpg

Die erste Phase der russischen Antikriegsbewegung neigt sich dem Ende zu. Sie wurde mit brachialer Gewalt niedergehalten. In dieser Sammlung erklären wir, was bei den Protesten auf dem Spiel stand. Russische Anarchist*innen analysieren, warum die Demonstrant*innen an ihre Grenzen stießen. Zudem wurden vier Artikel russischer Anarchist*innen und Feminist*innen übersetzt, in denen sie darlegen, warum sie gegen den Krieg sind, vor welchen Herausforderungen sie stehen und wie sie vorhaben weiterzumachen.


Warum die russische Antikriegsbewegung unsere größte Hoffnung bleibt

Eine Invasion der Ukraine wäre unmöglich gewesen, hätte Putins Regime nicht die letzten 10 Jahre damit verbracht, jede soziale Bewegung in Russland systematisch zu zerstören. Unter Einsatz von Folter wurden von Verhafteten falsche Geständnisse erpresst. Rivalisierende Politiker*innen wurden vergiftet oder weggesperrt. Gleichermaßen half Putins militärisches Eingreifen in Belarus und Kasachstan – von Syrien ganz zu schweigen – den dortigen Autokraten an der Macht zu bleiben. Die Ukraine ist das einzige Land in dem was Putin als seine Einflusssphäre sieht, das sich in den letzten 10 Jahren Putins Kontrolle entzogen hat. Einige der Anarchist*innen in der Ukraine, die sich entschlossen haben, gegen die russische Invasion zu den Waffen zu greifen, sind aus Russland oder Belarus dorthin ausgewandert. Sie befürchten, dass es für sie keinen Zufluchtsort mehr geben wird, falls Putin die Ukraine erobert.

Wir sollten uns nicht dem westlichen Narrativ hingeben, das diesen Konflikt als „Kräftemessen zwischen der freien Welt und der östlichen Autokratie“ darstellt. Russlands militaristischer Imperialismus betrifft auch uns! Das russische Vorgehen ist nur eine Version der gleichen unterdrückerischen staatlichen Vorgehensweise, der wir vielerorts begegnen. Überall auf der Welt verlassen sich Regierungen auf immer repressivere Polizeieinätze und invasivere Überwachung, um kritische und aktive Teile der Bevölkerung zu kontrollieren. Der Krieg in der Ukraine ist nur das neuste Kapitel einer Geschichte, die sich bereits in Syrien, Jemen, Äthiopien, Myanmar und anderswo abgespielt hat. Die Invasion der Ukraine basiert auf den gleichen Strategien, die zahllose Regierungen innerhalb ihrer Hoheitsgebiete bereits genutzt haben, erweitert auf ein geopolitisches Ausmaß: Unter Rückgriff auf brutale Gewalt allen Widerstand unterdrücken, um die Kontrolle zu erhöhen.

Krieg verstärkt immer den Nationalismus. So wie der Bürgerkrieg in Syrien hat auch die russische Invasion der Ukraine ein günstiges Klima für Faschist*innen und andere Nationalist*innen geschaffen, in welchem sie neue Anhänger*innen rekrutieren könnten. Verfechter*innen des Militarismus nutzten es, um ihre Projekte zu legitimieren, von der NATO bis hin zu lokalen Milizen. Viele ukrainische Kämpfer*innen beschimpfen russische Soldat*innen als „Orks“ und entmenschlichen so ihre Feinde. Die Hauptverantwortung für diese Situation mag bei Putin liegen, aber sie wird in den kommenden Jahren unser aller Problem sein.

Der einzige Weg, wie dieser Krieg hätte abgewendet werden können – und wahrscheinlich auch der einzige Weg, wie er jetzt noch ohne furchtbare Verluste von Menschenleben auf beiden Seiten gestoppt werden kann – ist eine energische und internationalistische Antikriegsbewegung, die in Russland ausbricht, Putins Regierung destabilisiert und hoffentlich gefolgt von etwas ähnlichem in der Ukraine dann um die Welt geht. Wenn der Krieg sich einfach endlos weiter dahinschleppt, oder endet – egal wie er ausgeht – wird die brutale Gewalt des nationalistischen Militarismus die Menschen auf allen Seiten des Konflikts in nationalistische und militärische Lager spalten, und zwar für die nächsten Jahrzehnte.

Aber wenn der Krieg in der Ukraine als Ergebnis der Rebellion und Solidarität einfacher Leute enden würde, dann könnte er einen Präzedenzfall schaffen für weitere Rebellionen, Aufstände und mehr Solidarität. Diese würden sich ausbreiten von Russland in die Ukraine, ins westliche Europa und in die USA und vielleicht sogar in die Türkei, nach China, Indien und Lateinamerika – überallhin, wo Menschen gezwungen sind, miteinander zu konkurrieren für den Gewinn einiger weniger Kapitalist*innen.

Hätten wir gewusst, dass so viel von den sozialen Bewegungen in Russland abhängen würde, dann hätten wir hoffentlich den Anarchist*innen dort mehr Mittel zugeschleust – bereits vor 10 Jahren, als das verschärfte Durchgreifen gegen russische Aktivist*innen begann. Das unterstreicht die Lektion, die wir jetzt auf die harte Tour immer wieder lernen mussten, von der Bewegung gegen die Invasion in Afghanistan und im Irak 2001-2003 bis zur Tragödie auf dem Maidan 2014: Jede Schlacht, die wir im globalen Befreiungskampf verlieren, sind wir gezwungen erneut auszutragen – zu deutlich schlechteren Bedingungen und mit höherem Risiko.

Aktuell stehen die Chancen für einen Umbruch in Russland schlecht. Die große Mehrheit der Bevölkerung, die in Russland geblieben ist, wirkt patriotisch, selbstgefällig oder desillusioniert. Schlimmer noch: Wenn der Krieg in der Ukraine so weitergeht, werden alle Beteiligten so verbittert sein, dass sie nicht mehr in der Lage sind, sich etwas anderes vorzustellen als für ihre jeweilige Regierung zu töten und zu sterben. Aber falls dieser Krieg nicht in nuklearer Auslöschung endet, dann wird er nicht der letzte des 21. Jahrhunderts bleiben. Vielleicht haben wir noch Zeit aus unseren bisherigen Fehlern zu lernen: uns besser zu wappnen, Solidarität aufzubauen über Grenzen und andere Gräben hinweg. Vielleicht sind wir dann beim nächsten Mal fähig auf den Krieg zu reagieren mit der einzigen Kraft, die stark genug ist, Kriege zu beenden: Revolution.

Arina Vakhrushkina auf dem Manezhnaya Square am 18. März. Auf ihrem Schild steht: “Für dieses Poster werde ich 50.000 Rubel Strafe zahlen müssen. Ich stehe hier für deine Zukunft und die der Ukraine. Lasst euch nicht vormachen. Es sterben Kinder in der Ukraine und russische Mütter verlieren ihre Söhne. So sollte es nicht sein.” Sie wurde direkt fest genommen.

Die Grenzen der Proteste – und ihre Zukunft

Die Proteste gegen die Invasion der Ukraine erreichten Anfang März in Russland ihren Höhepunkt. Am Sonntag, dem 6. März um 20:00 Uhr Moskauer Zeit hatte die russische Polizei laut OVD-info über 4419 Demonstrant*innen in 56 Städten festgenommen: davon mindestens 1667 in Moskau, mindestens 1197 in St. Petersburg und mindestens 271 in Novosibirsk. Und das, obwohl dieser Aktionstag komplett über illegale und geheime Kanäle organisiert worden war. Legalistische Gruppen waren nicht in der Lage eine Erlaubnis für diesen Termin zu erwirken und beschränkten sich auf das Organisieren von Aktionen am folgenden Wochenende, wo die Ereignisse bereits ihren Lauf genommen hatten. In den folgenden Wochen gingen die Proteste stetig zurück, womit sich diese Option die Geschehnisse zu beeinflussen fürs Erste erledigt hatte.

Während der Vorbereitung dieses Textes nahmen wir Kontakt zu Anarchist*innen in verschiedenen Teilen Russlands auf, um herauszufinden, warum die Antikriegsbewegung in dieser ersten Phase ins Stocken geriet. Sie nannten die folgenden Hindernisse für eine weitreichendere Wirkung der Proteste:

  • Das sehr ungünstige Verhältnis zwischen inkaufzunehmenden Risiken und Erfolgsaussichten: Als „Erfolg“ der Proteste könnte alles gewertet werden, was die Situation beeinflusst oder auch „Erfolge“ bei den Zusammenstößen mit der Polizei, was beides nicht eingetreten ist.
  • Die Zentralisierung der Proteste: Die Menschen hatten sich daran gewöhnt, dass [Alexej] Nawalny [ein aktuell inhaftierter Politiker und Dissident] oder sein Team zu Demonstrationen aufrufen. Dies verringerte die Kreativität und Unabhängigkeit der Demonstrant*innen. Sie warten jetzt auf den nächsten Nawalny, der sie zu Kundgebungen einlädt.
  • Viele mussten erleben, dass sie sogar für kleinste Versuche zu protestieren festgenommen werden können. Danach müssen sie fürchten in anderen Kontexten extra-legal verfolgt zu werden, z.B. auf ihrer Arbeit, in ihrem Studium, ihrem Privatleben usw. Viele haben es satt, festgenommen zu werden und in der Polizeiwache herumzusitzen, der Gefahr von Folter ausgesetzt zu sein, eine Geldstrafe oder 15 Tage im Gefängnis hinzunehmen, ohne auch nur irgendeinen sichtbaren Erfolg.
  • Von den gewaltfreien Demonstrationstaktiken sind viele Leute enttäuscht. Einige lassen dann in Chats Dampf ab, schreiben dort, was sie alles stört und vergessen die Sache danach.
  • Wir wollen diese Personen auf keinen Fall für die Lage verantwortlich machen, aber es muss doch erwähnt werden, dass viele Russland in den Anfangstagen des Kriegs verlassen haben. Einige, weil sie verfolgt wurden, andere weil sie fanden, dass es ein günstiger Zeitpunkt war, zu fliehen. Unter ihnen waren sehr viele, die sich politisch engagiert hätten. Und jetzt ist es so, dass wenn sie geblieben wären, sie genügend Genoss*innen und Möglichkeiten sich zu organisieren gehabt hätten. Aber weil längerfristig angelegte Strukturen und Vertrauen fehlten, sind sie nun weg.
  • Schlichte Gleichgültigkeit und Akzeptanz dessen, was vor sich geht, begleitet von Angst in variierenden Ausprägungen.
  • Viele Demonstrierende ließen sich von der großen Anzahl russischer Unterstützer*innen des Einmarschs in die Ukraine entmutigen. Ein weiterer Faktor dabei war die visuell in der russischen Bevölkerung vorherrschende Kriegspropaganda. Auch jetzt ist es immer noch möglich sich einzureden, (wenn mensch nicht wirklich allen Nachrichten folgt und keine ernsthaften finanziellen Probleme hat) „alles wird gut, es ist nicht so schlimm.“ Die russische Propaganda hat ihr Ziel erreicht: Viele Leute glauben Russland rettet einfach den Donbas vor den Nazis.
  • Das Fehlen einer konkreten Strategie: Ohne konkrete Ziele ist die Forderung „Stoppt den Krieg“ planlos. Viele Leute haben das Gefühl, dass die Regierung sie niemals ernst nehmen wird, und die Proteste haben sich (noch) nicht radikalisiert.

Viele russische Anarchist*innen gehen davon aus, dass das Momentum für landesweite Massenproteste nur vorübergehend abgeflaut ist. Sie erwarten, dass sobald die wirtschaftliche Lage sich verschlechtert und weitere Berichte über Todesopfer die russischen Familien erreichen, sehr viele auf die Straßen zurückkehren werden – und dann nicht nur um gegen den Krieg, sondern auch um gegen die Regierung und die vorherrschende soziale Ordnung, zu protestieren. In der Zwischenzeit versuchen in Russland gebliebene Anarchist*innen geeignete Praktiken, um ihre Sicherheit zu erhöhen, zu etablieren. Sie arbeiten daran Supportstrukturen wiederherzustellen und zu stärken, um mit den Konsequenzen der Repressionen besser klar zukommen, im Untergrund mehr Leute zu erreichen und skill sharing zu ermöglichen – alles in der Hoffnung, dass wenn sich die nächste Woge der allgemeinen Empörung auftürmt, sie bereit sein werden.

Die Pipeline der Unterdrückung ist noch immer in Betrieb und es mag scheinen, dass sie ihre Dienste nie einstellt. Jedoch lässt sich die anbrechende Freiheit bereits erahnen. Der Krieg in der Ukraine, losgetreten vom faschistischen russischen Regime, verläuft eindeutig nicht nach Plan des Botoxdiktators. Der Widerstand gegen das Besatzungsregime in Belarus hält an. Unsere inhaftierten Genoss*innen werden befreit, wenn die Niederlage des russischen Imperialismus in der Ukraine von allgemeinem Widerstand gegen die Diktaturen Putins und Lukaschenkos begleitet wird. Möge das Rad der Geschichte sich schneller drehen und die Tyrannen ins Unglück stürzen.

-Anarchist Militant, „Unterdrückung in Belarus und Russland,“ 27. März, 2022


Unten präsentieren wir in chronologischer Reihenfolge vier Texte, die von Anarchist*innen und Feminist*innen in Russland im März 2022 herausgegeben wurden. Sie schildern die Gründe ihrer Autor*innen die Antikriegsbewegung zu unterstützen, gehen auf Herausforderungen ein und entwerfen Strategien für die nächste Phase des Kampfes:


cdn.crimethinc.com/assets/articles/2022/03/31/13.jpg

Für die Arbeiter*innenklasse auf Seiten der Ukraine

Dieser Text wurde am 1. März auf Antijob veröffentlicht, einer anarchistischen Webseite der Arbeiter*innenbewegung. Ein Interview mit Antijob findet ihr hier.

Jeder Abschnitt dieses Artikels wird mit den Worten „Jene, die in Wirklichkeit, und nicht den Worten nach“ beginnen, weil wir in einem Land der absoluten Lügen leben. Es ähnelt in vielerlei Hinsicht der Welt in George Orwells Roman 1984, wo Wahrheit Lüge ist und Frieden Krieg. Den Worten nach hatte „unser” Präsident nicht die Absicht, das Rentenalter nach oben zu setzen, aber in Wirklichkeit hat er genau das gerade getan. Den Worten nach unterstützt er medizinisches Personal mit Coronageld, aber in Wirklichkeit muss sich dieses Geld von den Vorgesetzten hart erkämpft werden. Weil er den Worten nach versprochen hatte, sich mit den immer noch ausstehenden Löhnen der Bauarbeiter*innen des östlichen Weltraumbahnhofs (Kosmodrom Wostotschny) zu befassen, lässt er in Wirklichkeit kurz vor der Fernsehsendung „Heißer Draht“ (wo Putin stundenlang vorbereitete Fragen eines loyalen Publikums beantwortet,) den Arbeiter, der diese Frage eingereicht hatte, von Polizist*innen vorläufig festnehmen und für ein paar Tage festhalten, damit er sich nicht weiter äußern kann. Putin kämpft den Worten nach für Frieden, hat aber in Wirklichkeit einen Krieg angefangen, den er uns verbietet, so zu nennen. Der*die Autor*in dieses Textes widmete sich in Wirklichkeit und nicht den Worten nach dem Kampf für die Interessen der Lohnarbeiter*innen und gegen den Faschismus. Im Gegensatz zu Putin kann ihm*ihr deshalb geglaubt werden.

Wer ist hier die Junta?

Jene, die in Wirklichkeit und nicht den Worten nach versuchen die Rechte und Interessen der Erwerbstätigen zu verteidigen, wissen sehr genau, dass dies unter Putins autoritärem Regime praktisch unmöglich ist. Warum? Ja, weil jedes beliebige Projekt von Seiten der Gesellschaft, in diesem Fall von Lohnarbeiter*innen, sofort Repressalien nach sich zieht. Der Staat verfolgt auf kriminelle Weise die aktiven Elemente unserer Gesellschaft. Er hält uns so davon ab, auf eigenen Beinen zu stehen und jemals die Kraft zu entwickeln auch nur irgendeinen Einfluss auf die Situation im Land zu haben. Das staatliche Handeln hat zwei Seiten: Auf der einen Seite herrscht absolute Gesetzlosigkeit: Arbeitskampf wird verfolgt, auf der anderen Seite werden Gesetze erlassen, die dies ermöglichen.

Wie kommt das? Ungefähr so: Es war einmal im Jahr 2008, da entschloss sich der Arbeiter Valentin Urusov, beschäftigt in der Diamantmiene der jakutischen Kleinstadt Udachnyi, eine Gewerkschaft zu gründen und gemeinsam mit anderen Arbeiter*innen für seine Rechte zu kämpfen. Und dann kam, was kommen musste: der Chef der örtlichen Drogenpolizei fuhr ihn, zusammen mit seinen Spürhunden in einen Wald, schoss ihm knapp über den Kopf und schob ihm Drogen unter. Das Ende vom Lied war, dass Valentin vier Jahre im Gefängnis landete (Er war zu sechs Jahren verurteilt, kam aber auf Bewährung frei). Und seine Gewerkschaft wurde nie gegründet.

Wenn wir jetzt von der absoluten Gesetzlosigkeit der Bullen zur Gesetzgebung kommen, dann gibt es etwas Deprimierendes festzuhalten: Das neue Arbeitsgesetzbuch macht es unmöglich in Russland mit legalen Mitteln einen Streik zu organisieren. Seit seiner Einführung sind Streiks aus den offiziellen Statistiken verschwunden. Das heißt nicht, dass sie ganz verschwunden sind, sondern nur dass sie in den Augen der Putinregierung „illegal“ geworden sind. Übrigens, als Hubert (der Präsident der deutschen Gewerkschaft IG Metall) Putin nach den Angriffen auf Leib und Leben der Aktivist*innen derMPRA (Interregionalgewerkschaft, eine der mutigsten verbleibenden Gewerkschaften in Russland) fragte, sagte er Hubert, dass MPRA „keine Gewerkschaft, sondern eine extremistische Organisation“ sei. Das bringt wahrscheinlich die Beziehung des russischen Präsidenten zur Arbeiter*innenbewegung ganz gut auf den Punkt. Es zeigt wie mit der Zeit in Putins Kopf Extremist*innen zu Terrorist*innen werden.

Wir können also auf legalem Wege keine Kundgebungen und Streiks abhalten, weil all das offizieller Genehmigungen bedarf. Wenn Leute keine offizielle Möglichkeit haben, kollektiv für ihre Rechte und Interessen einzustehen, dann werden sie auch nicht lernen, wie das geht. Dann ist keine Arbeiter*innenbewegung möglich. Im verfluchten und verdammten Westen nehmen Arbeiter*innen Fabriken ein, liefern sich Gefechte mit der Polizei, stoppen neoliberale Reformen, aber hier werden sie das Maul halten. Die ukrainische Regierung, genau wie die russische, dient den Interessen der Reichen, aber es gibt einen entscheidenden Unterschied: Die ukrainische Regierung hat nicht die Mittel, die Zivilgesellschaft zu unterdrücken – anders als die russische. In der Ukraine ersetzt häufiger eine Oligarch*innengruppe die andere und so weiter. Und so haben sie nicht die Möglichkeit sich permanent durchzusetzen und alles, was ihnen im Weg steht, zu zerstören. Und wichtiger noch: Wenn eine dieser Gruppen sich hinter geschlossenen Türen verbirgt, und nicht bereit ist, der Bevölkerung zuzuhören, dann reißen die Ukrainer*innen sie nieder, so wie sie es auf dem Maidan getan haben. Leider bedeutet das nicht, dass die Gesellschaft alle Macht an sich reißt, aber es heißt auch nicht, dass es für sie ausgeschlossen ist, Widerstand zu organisieren.

Abschließend kommen wir zu der Frage, die wir im Titel dieses Abschnitts aufgeworfen hatten. Wer eigentlich ist diese fiese „Junta“, die es gewöhnlichen Leuten verbietet, etwas anzustoßen? Die Antwort auf diese Frage ist natürlich ein und dieselbe Person. Die ukrainische Regierung teilt jetzt Waffen an jede*n aus, der*die die Angreifer*innen bekämpfen will. Wenn es eine „Junta“ ist, die ausschließlich die Bajonette des Nationalismus und Terrors gegen ihre eigene Bevölkerung im Angebot hat, warum hat sie keine Angst, dass diese Leute die Seiten wechseln und sie stürzen werden? Weil die echte Junta nicht in der Ukraine zu finden ist. Ist es vorstellbar, dass Putin anfängt, Waffen an die Bevölkerung zu verteilen? Er hat sogar Angst vor einem Plastikbecher (eine Referenz zu Putins berühmt berüchtigter Bazillenangst). Russland ist der Ort, wo die Sicherheitsdienste unbegrenzte Macht haben, die sie zu ihrer Bereicherung und zum Kleinhalten von Dissident*innen nutzen. Eine bewaffnete Bevölkerung ist für Putin, für seine Generäle und Oligarch*innen der schlimmste Albtraum. Die Verteilung von Waffen an die ukrainische Bevölkerung hat erhebliche Bestürzung unter den russischen Amtsträger*innen und in den Medien ausgelöst.

“Die Kinder der Bullen hassen die Bullen”. Rief der russische Anarchist und ehemalige politische Gegangene Alexei Polikhovich während einerRede in Moskau am 10. August, 2019 und wurde danach direkt inhaftiert. Anarchist*innen haben trotz aller totlitärer Züge weiterhin versucht sich in Russland zu organisieren.

“Antifaschistischer” Faschismus

Diejenigen, die in Wirklichkeit gegen Faschismus kämpfen, und nicht den Worten nach, wissen sehr genau, dass Antifaschist*innen in Russland hinter Gittern sitzen und dass „unsere“ Regierung Ultrarechte nutzt, um soziale Proteste zu unterdrücken. Anhand der Geschichte des Khimkiwaldes lässt sich das gut belegen. Dort haben die Behörden Faschist*innen der Gruppe „Gladiatoren“ (Moskauer Hooligans) angeheuert, um ein Camp von Khimkiwaldbesetzer*innen aufzulösen. Antifaschist*innen haben daraufhin das Khimkier Rathaus zerstört. Als unmittelbare Reaktion darauf begannen die Behörden nach Antifaschist*innen zu fahnden. Zwei von ihnen – Alexei Gaskarov und Makim Solopov – wurden drei Monate lang inhaftiert. Aber das war immer noch ein mildes Durchgreifen. Der Antifaschist Alexey Sutuga hatte drei Jahre abzusitzen für eine Schlägerei mit den Ultrarechten im Moskauer Café „Sbarro“.

Noch ein passendes Beispiel: Es gab eine Zeit, in der die „Sorok Sorokov“-Bewegung dafür bekannt war, Aktivist*innen anzugreifen, die sich gegen den Bau russisch-orthodoxer Kirchen in städtischen Parks einsetzten. Welche Konsequenzen hatten sie [die Sorok Sorokov] dafür zu befürchten? Keine. Den russischen Behörden gefiel dieser Terror im Namen Gottes. Das bringt uns zu einem anderen bemerkenswerten Punkt: Genau wie die Faschist*innen in der Vergangenheit, zwingen die russischen Behörden der Gesellschaft Traditionalismus und Paläokonservatismus auf: durch Unterricht über russisch-orthodoxe Kultur in der Schule, durch das Verbot von Sexualerziehung, durch die Entfernung von „Schlägen“ aus dem Strafgesetzbuch (unter dem nun gestrichenen Artikel waren die meisten Fälle häuslicher Gewalt verurteilt worden). Und das ist nur ein kleiner Teil von dem, was diese Regierung bewerkstelligt hat. Über Schulen, Fernsehen und jeden anderen verfügbaren Kanal, flößt uns die Regierung religiöses und anti-wissenschaftliches Denken ein. Und dann wundern sie sich, wenn sich niemand gegen Corona impfen lassen will. Spring einfach in ein Eisloch und bekreuzige dich. „Wir sind Russen – Gott ist mit uns.” Und dieser Gott kennt sich aus mit der Postmoderne: Er bemerkt die Stripstange in Putins Gelendzhikpalast nicht. Wer weiß, vielleicht gab es solche Stangen ja auch in den russischen Hütten im Mittelalter? Das weiß nur Gott allein.

Aber nun mal alles Kulturspezifische beiseite. Kurz gesagt, die Regierung in Russland bekennt sich zu einer Ideologie des imperialen Nationalismus. Im Mittelpunkt dieser Ideologie steht, dass alles zentral entschieden werden soll, statt logisch. Es ist unklar, was an der Redewendung „Moskau ist nicht in Russland“ lustig sein soll. Im Werbesprech dieses zutiefst betrügerischen Regimes geht die ganze „Power Sibiriens“ nach Übersee. Sibirien wird mit entwaldeten Flächen, kohlrabenschwarzem Himmel, Krebs und ruinierter Natur hinterlassen. „Russlands Reichtum” konnte nicht mal für Gas in die Region Krasnojarsk sorgen. Alle Gaspipelines führen in verschiedene Richtungen, weg von Krasnojarsk, vor allem in den Westen, und ein paar in den Osten. Und die Krasnojarsker Aluminiumfabrik, der Grund warum das „Schwarzhimmelsregime“ dort ausgerufen wurde, ist Schuld der „verdammten Amerikaner*innen“.

Die Regierung in Russland verbietet alle Organisationen indigener Bevölkerungsgruppen. Putins Regime hat die baschkirische Organisation „Baschkort“ für extremistisch erklärt. Sie hatte sich dafür eingesetzt Kushtau Shihan, ein Naturdenkmal, vor industrieller Bebauung zu schützen . Aber hier kann ein noch ungeheuerlicheres Beispiel angeführt werden. Nachdem die Ingush gegen die Verschiebung der Grenze zwischen Ingushezien und Tschetschenien protestiert hatten, wurde ihre Organisation aufgelöst. Statt seinen tschetschenischen Schützling anzublaffen, gab Putin sich seinen Begierden hin. Wie sich das auf die Zukunft im Kaukasus auswirken wird, ist nicht schwer zu erraten. Aber wen interessiert’s? Nach uns die Sintflut.

Dank all dem, können selbst die schlimmsten ukrainischen Nationalist*innen reinen Gewissens sagen: „Und so jemand will uns verbieten, in der Nase zu popeln!“

Kurz nach der Invasion nahm die russische Polizei die Menschenrechtsaktivistin Maria Malysheva fest und durchsuchte ihr Haus.

Kolonisator*innen des 21. Jahrhunderts – fickt euch!

Alle, die mal versucht haben, das Leben in ihrem Land zu verbessern, nicht den Worten nach, aber in Wirklichkeit, werden wissen, dass ein Krieg mit den Nachbar*innen kein geeignetes Mittel dazu darstellt. Aber „unsere“ ehemaligen „Kommunist*innen“, Gangster*innen, und ihre Kinder sind zu den Kolonisator*\innen des 21. Jahrhunderts geworden. Sie gieren nach immer mehr Gebieten, die sie drangsalieren können. Sie bekommen nie genug vom Experimentieren mit den dort Lebenden. Erst haben sie die Krim geraubt und Scheinrepubliken in der Ostukraine eingerichtet. Dort wurden die, die mit dem Willen des Kremls und seiner Amtsträger*innen nicht einverstanden waren, oder einfach in der Hitze des Gefechts mitgefangen wurden, ins Gefängnis gesteckt oder im besten Fall einfach in einen Keller . Aber auch das reichte ihnen nicht. Sie wollten die ganze Ukraine. Das Ergebnis ist, dass “Russisches Kriegsschiff – fahr zur Hölle” ein beliebter, internationaler Slogan geworden ist.

Es schmerzt mich das zu schreiben, weil ich weiß, dass unsere Tradition nicht nur Unterdrückung anderer Völker und Obrigkeitshörigkeit kennt, sondern auch Widerstand. Aus der Novgoroder Veche (frühes Modell versammlungsbasierter Entscheidungsfindung), Stepan Razin und den Narodniks leitet sich eine zivilgesellschaftliche Tradition des Kampfes gegen Autoritarismus ab, die auch als Antistaatspatriotismus bezeichnet werden kann. Tausende Held*innen haben ihren Kopf hingehalten, damit du und ich nicht als die „Gendarmen Europas“ in die Geschichte eingehen (eine althergebrachte Bezeichnung für Russland als repressive Kraft in Europa, ursprünglich im Zusammenhang mit Zar Nicholas I) sondern als Vorbild für andere.

Also warum entscheiden wir uns erneut für Obrigkeitshörigkeit und machen uns zu Diener*innen des Psychopathen auf dem Thron? Wenn wir stolz sein wollen, auf die wirklich guten Dinge in unserer Geschichte, wieso entscheiden wir uns dann immer wieder für diese Oprichnina (die Massenunterdrückung und –Hinrichtung der Bojar*innen) von Ivan dem Schrecklichen, wie unter Nikolai Palkin, wie unter Stalin? Die russische Regierung hat dem Diktator Lukaschenko geholfen, den Widerstand der belarussischen Bevölkerung niederzuschlagen und ihn auf dem Thron zu belassen und jetzt will sie unsere Geschwister in der Ukraine in die Knie zwingen. Wollen wir wirklich, dass unsere Nachbar*innen, uns als Besatzer*innen wahrnehmen? Wollen wir von ihnen gehasst und verachtet werden?

Also ich will das nicht und deswegen bin ich stolz – nicht auf Putin – sondern auf die Tatsache, dass der internationale Slogan „Russisches Kriegsschiff - fahr zur Hölle“ auf Russisch in Umlauf gebracht wurde, was, um das kurz festzuhalten, in der Ukraine angeblich untersagt ist. Es ist also noch nicht alles verloren.

Graffiti mit dem Slogan “No war.”

Wie finden wir unsere verlorene Gesellschaft wieder?

Jene, die sich um ihre Leute sorgen – in Wirklichkeit, nicht den Worten nach – wollen sie nicht in sinnlosen Kriegen zugrunde gehen sehen. Aber das Putinregime hat dafür gesorgt, dass der einzige soziale Rettungsanker für einfache Kerle in Russland die Armee ist oder andere Exekutivorgane. Die Geschichte eines russischen Kriegsgefangenen zeigt sehr deutlich, wie diese Typen in Putins Wehrmacht enden. Nationalist*innen, macht euch gefasst, denn diese Geschichte ist sehr international. Aber zur Freude der Nationalist*innen auch sehr im Geiste von „skrepy“ (das Wort stammt aus einer von Putins Reden über die „Einzigartigkeit“ der russischen Nation. Die wörtliche Bedeutung ist so etwas wie „büroklammernd“ – etwas Verbindendes, was den Leuten Zusammenhalt gibt).

Am 24. Februar wurde Rafiq Rakhmankulov, ein russischer Soldat, vom ukrainischen Militär gefangen genommen. Seine Mutter, Natalia Deineka, wohnt im Saratover Oblast. Er ist ihr mittlerer Sohn. Neben ihm hat sie noch fünf weitere Kinder, also insgesamt sechs. Drei sind bei ihr, drei bei ihrem Mann. Ihr Mann arbeitet als Bauarbeiter, er baut Brücken und geht auf Montage. Sie begleitet ihn, arbeitet aber woanders – im Lager eines Sportgeschäfts. Sie sind eine komplizierte Proletarierfamilie, die weder ins Weltbild der Rechten, noch in das der Linken passt. Rafiq hat eine Partnerin, Liliya, und um für seine zukünftige Familie zu sorgen, hat er sich verpflichtet. Nachdem er eingezogen wurde, hat er seinen einjährigen Kriegsdienst abgeleistet. Er war am Gehalt interessiert und an der Möglichkeit eine Wohnung zu bekommen. Offenbar wollte er nicht auf Montage gehen und auch keine 20-30 Jahre seinen Hauskredit abbezahlen. Die Alternative war, seine Seele dem Teufel – also… Putin – zu verkaufen. Das ist schon die ganze Geschichte.

Ich habe nicht die Absicht solche Rafiqs in Schutz zu nehmen. Damit sie lernen, dass mensch nicht „in anderer Leute Klöster einbricht“ (ein russisches Sprichwort, was sagen will, dass mensch seinen*ihren Willen nicht anderen aufzwingen sollte). Sie brauchen durchaus mal eine ordentliche Tracht Prügel. Aber ich verstehe, dass es viele solche Rafiqs, Ivanovs und andere Typen in Russland gibt und irgendwas muss gegen sie unternommen werden. Putin interessiert sich nicht für ihr Leben. Sie müssen ihm treu und mutig dienen und ihr Leben lassen für seine militärischen Abenteuer. Oder sie dürfen selbst Knüppel in die Hand nehmen, um andere Ivans und Rafiqs zu verdreschen, die ein bisschen mehr Glück hatten und bemerkten, dass mensch so nicht leben kann.

Und das ist wirklich keine Art zu leben. Der einzig gutbezahlte Job sollte nicht bei den Strafverfolgungsbehörden sein. Es kann doch nicht angehen, dass Leute nur ein eigenes Haus haben können, wenn sie bereit sind, sich in eine 20-30-jährige Leibeigenschaft von Banker*innen zu begeben. Lohnt es sich dafür, in den Feldern der Ukraine zu verrotten? Bringt’s das für Lilia, eine Familie zu gründen, mit einem Mann, der um ihres Glücks willen, bereit ist das Glück anderer zu zertrampeln? Rafiq und Lilia sind mir näher als Putin, Medvedev, Grefs, Rotenbergs, Timchenks, Prigozhins (die Namen bekannter russischer Oligarch*innen) und andere mächtige Russ*innen aller Nationalitäten. Deshalb wünsche ich Sashko und Tonya aus der Ukraine (beides gewöhnliche ukrainische Namen, die als Metonyme für die Ukrainer*innen als Ganzes stehen) den Sieg, in der Hoffnung, dass wir zusammen mit Rafiq und Lilia, also – mit der russischen Arbeiter*innenklasse, endlich anfangen zu kämpfen, nicht gegen die imaginierten ukrainischen Banderas (Anhänger*innen von Stepan Bandera, einem Nazikollaborateur und ukrainischen Nationalhelden), sondern gegen diejenigen, die uns versklavt haben. Ansonsten wird uns weder „Kommunismus“ noch „Antifaschismus“ weiterhelfen.

PS: Übrigens werden Sashko und Tonya, sobald Russland aufgibt, auch anfangen gegen die Akhmetovs, Kolomoiskys, Poroshenkos (Namen Ukrainischer Oligarch*innen) und ihresgleichen zu kämpfen. Wir können ihnen helfen, wenn wir uns um unsere eigenen kümmern. Bis es soweit ist, können wir das ein oder andere von ihnen lernen, nicht andersrum.

-Raznochinets


cdn.crimethinc.com/assets/articles/2022/03/31/3.jpg

Ein Aufruf von den Aktivist*innen der achten Initiativgruppe

Am 10. März erschien der folgende Text auf der Instagramseite der achten Initiativgruppe, einer feministischen Gruppierung, die im Widerstand gegen die Invasion in der Ukraine aktiv ist.

Am 5. März 2022 sind Polizei- und Spezialeinheiten in die Wohnungen unserer Aktivist*innen und der Aktivist*innen anderer feministischer Gruppierungen eingebrochen. Für den sechsten März war eine russlandweite Antikriegsdemo inklusive eines Frauenblocks geplant, den wir gemeinsam vorbereitet hatten.

Wir halten es unter keinen Umständen für einen Zufall, dass es genau am Vorabend der Demonstration zu den Durchsuchungen und Festnahmen feministischer Aktivist*innen kam. Sie wollten einen Präventivschlag landen und der saß – am sechsten März standen alle, die zur Demonstration auftauchten, ohne unsere Hilfe oder Koordination da. Wir glauben, dass diese bis zur Absurdität aufgeblasenen „Bombendrohungen“ einen Versuch darstellten, unsere Bewegung komplett zu zerstören und uns zum Schweigen zu bringen. Aber wir lassen uns nicht auflösen und wir werden auch nicht schweigen.

Wir sind eine horizontale Graswurzelbewegung. Egal wie gern uns die Sicherheitskräfte „den Kopf abhacken” würden, sie werden damit scheitern. Die achte Initiativgruppe, der feministische Antikriegswiderstand und andere Genoss*innen haben keinen Kopf. Wir haben keine Führung – aber das werden sie nie verstehen. Und jetzt sammeln wir all unsere Kräfte, ballen die Fäuste und machen weiter. Das ist nichts Optionales, sondern unsere Pflicht.

“Dies ist ein Aufkleber mit einem QR-Code, der zu unserer Webseite führt. Druckt ihn aus, wo es sicher und möglich ist, klebt ihn an Briefkästen eurer oder benachbarter Häuser, klebt es auf die Straßen und in die Höfe. Erzählt alles, was ihr wisst, euren Bekannten, damit die Menschen hinter den Schichten der Fernsehpropaganda das wahre Gesicht des Krieges sehen können – hässlich, blutig und tödlich.”

Ja, die Wirklichkeit hat sich gewandelt. Die Risiken sind höher denn je und unsere Arbeit ist schwieriger geworden. Höchstwahrscheinlich werden wir nicht direkt dazu aufrufen, auf die Straße zu gehen. Wir wollen Aktivist*innen nicht in Gerichtsverfahren verwickeln. Vielleicht ist die beste Strategie grad verstreut „Guerilla”-Taktiken einzusetzen: weiter Flugblätter verteilen, Informationen auf allen verfügbaren Kanälen verbreiten und am wichtigsten – sich verbünden.

In der Bio unseres [Instagram] Profils ist ein Link zu Antikriegsflyern. Grüne Schleifen sind das Symbol für Frieden und Antikriegsproteste. Nutzt sie. Auch die Antikriegsbewegung in Russland hat eine Flagge. Sie ist weiß-blau-weiß. Symbole sind sehr wichtig im Widerstand, sie sind einer seiner Standpfeiler. Wir setzen unseren Kampf fort und fordern euch auf, nicht zu verzweifeln und nicht aufzugeben, aber gleichzeitig auch extrem vorsichtig zu sein. Vergesst nicht, dass es Millionen von uns gibt und dass der klare Menschenverstand, das Gewissen und die Wahrheit auf unserer Seite stehen. Danke für alles, was ihr leistet und dass ihr weiter mit uns für den Frieden einsteht.

Ein Anti-Kriegs-Video von Anarcha-Feministinnen in Moskau, veröffentlicht von Autonomous Action am 19. März.


Eingefrorene Zeit: Wenn Wahnsinn und Horror alltäglich werden

Der nächste Text ist am 27. März als Podcast-Episode von Autonomous Action veröffentlicht worden. Autonomous Action ist eine Webplattform, die vom berühmtesten russischsprachigen antiautoritären Netzwerk gegründet wurde. Um es kurz zu machen, haben wir den Abschnitt mit Updates zu staatlichen Repressionen, ein allgegenwärtiges Merkmal russischer anarchistischer Verlautbarungen, weggelassen.

Mehr als ein Monat der sogenannten „Spezialmilitäroperation“ in der Ukraine und anderer geistesgestörter Entscheidungen der russischen Autoritäten waren genug für viele, dass sich Gewohnheit einstellte. Wir gewöhnen uns an die Nachrichten und Berichte aus der umkämpften Ukraine – an Fotos und Videos zerstörter Städte. Wir hören vom Tod von Bekannten, Bekannten von Bekannten und einiger berühmter Leute. Wir gewöhnen uns an die hohen Zahlen Geflüchteter aus diesem Land, die bereits die drei Millionen übersteigen. Genauer gesagt übersteigt die Zahl der Leute, die ihre Häuser seit Beginn der „Denazifizierung“ verlassen haben, bereits sechs Millionen.

Wir gewöhnen uns an die Nachrichten über neue Sperren der sozialen Medien und in Russland blockierte Webseiten, an Explosionen und Festnahmen für Gegen-den-Krieg-sein, an Gerichtsverfahren für die Verbreitung von „Falschnachrichten“ über die russische Armee – es gibt schon mehr als sechzig solcher Fälle im ganzen Land. Wir gewöhnen uns an den Massenexodus russischer Aktivist*innen, Journalist*innen, berühmter Leute und derer, die einfach nur nicht unter Putins Regime leben wollen. Wir gewöhnen uns an all die neuen Sanktionen, steigende Preise, leere Regale und das Fehlen vieler grundlegender Waren.

Während der „Denazifizierung” von Kharkov wurde der 96-jährige Boris Romanchenko, der Auschwitz überlebt hatte, im Bombardement getötet. Am gleichen Ort starb der Anarchist Igor Volokhov in Putins Raketenfeuer. Er kämpfte in einer der territorialen Selbstverteidigungseinheiten gegen die Angreifer*innen. Und im Umkreis von Kharkov wurde laut ukrainischem Verteidigungsministerium ein Denkmal für die Opfer des Holocaust beschädigt.

Anarchist*innen in St. Petersburg am 12. März mit einem vulgären Transparent (“Entnazifiziere deinen eigenen Anus, Hund!”) – zu einer Zeit, als es mehr Bereitschaftspolizei als Menschen im Stadtzentrum gab.

Oksana Baulina, eine Journalistin für The Insider, der in Russland blockiert ist, starb im Granatfeuer in Kyjiw. Vorher arbeitete sie bei FBK, bis sie gezwungen war aufgrund des Verhaftungsrisikos, Russland zu verlassen. In Mariupol werden die Toten in den Hinterhöfen der zerstörten Wohngebäude begraben.

Am 21. März wurde der internationale Konzern Meta in die Liste der „extremistischen Organisationen“ aufgenommen. Seine Produkte (Instagram, WhatsApp und Facebook, die vorher in Russland gesperrt waren) wurden und werden von Millionen Russ*innen genutzt. Und auch von Institutionen, sogar von Regierungsagenturen und staatlichen Firmen. Diese Entscheidung wird wohl erst nach einem vergeblichen Einspruch umgesetzt werden. Anwälte stellen immer neue Vermutungen an, was das für Nutzer*innen und Werbetreibende bedeuten mag.

Das soziale Netzwerk VK blockiert Seiten auf Wunsch des Generalstaatsanwalts. Darunter sind beispielsweise die Fanseite der liberalen Politikwissenschaftlerin Yekaterina Schulman, die Seiten der Linken Sozialistischen Aktion, die Union demokratischer Sozialist*innen, die politische Partei „Yabloko“, die Studierendenmagazine DOXA und schließlich, unsere VK-Seite avtonom.org.

Ein Gericht in Moskau befasste sich unter anderem mit der Frage, ob der Slogan „Faschismus vergeht nicht“ [„Фашизм не пройдет!”] „Falschmeldungen über die russische Armee“ enthält (Ich frage mich in welchem der drei Worte?).

In Ufa wurden Mitglieder des Marxistischen Kreises zur terroristischen Gruppierung erklärt und in U-Haft genommen. Sie hatten angeblich vor, die Regierung zu stürzen.

In Khabarovsk haben Unbekannte eine Kundgebung „zur Unterstützung der russischen Armee“ angekündigt. Sie luden Anwohner*innen ein ukrainische Flaggen mitzubringen, Portraits von Stepan Bandera, Taras Shevchenko, und anderen ukrainischen Persönlichkeiten für eine feierliche Verbrennung. Im Gegenzug sollten sie Zucker erhalten. Aber es kam anders. Die Veranstaltung fand nicht statt – außer Polizei und Journalist*innen, kamen nur einzelne Leute, die bereit waren „das Nazireptil“ für eine Packung Mangelware zu bekämpfen.

Sergei Savostyanov, der Vorsitzende der kommunistischen Partei in der Moskauer Stadtduma, glaubt, dass Russische Truppen auch die baltischen Staaten, Polen, Moldawien und Kasachstan „entnazifizieren“ sollten. Diese „Wahl des Volkes” wurde 2019 von „smart voting“ unterstützt. [Eine sarkastische Anmerkung zur Strategie des russischen Dissidenten und Politikers Alexei Navalny. Sein „smart voting“ hatte geholfen Savostyanov an die Macht zu bringen.]

Eine*r der Journalist*innen, der für „Falschmeldungen“ verurteilt wurde, ist Alexander Nevzorov. Er ist seit der Zeit der Perestroika bekannt und hatte vor, einiges kompromittierendes Material aus den 1990ern über die Repräsentant*innen der herrschenden Clique zu veröffentlichen. Aber er hat korrekt geschlussfolgert, dass nach allem, was sie getan haben und tun, an der Macht zu bleiben, nichts reichen wird, um sie zu diskreditieren.

Ein Aufkleber in Moskau auf den Spatzenhügeln in der Nähe der Staatlichen Universität Moskau: “Tod dem Putinismus - Friede den Völkern”.

Unterstützung der „Spezialoperation” und Fahnenflucht

Gleich am Anfang des Krieges, wurde eine bislang unbestätigte Nachricht der Ukraine empfangen. Es ging um ein russisches Kriegsschiff, dessen Crew sich angeblich weigerte, Odessa zu stürmen. Dann vor kurzen begannen durchaus vertrauenswürdige Meldungen in der russischen Presse aufzutauchen: Soldat*innen, die ihre Einheiten verlassen hatten; die Suche nach Wehrpflichtigen, deren spätere Beteiligung an der „Spezialoperation“ nicht direkt transparent gemacht wurde; und ganze Militäreinheiten verschiedener Regionen, die sich weigerten an Kampfhandlungen teilzunehmen.

Vor kurzem blockierte in Karachay-Cherkessia eine Gruppe mutiger Frauen eine Verkehrsbrücke und forderte Informationen zu ihren Verwandten. Sie hatten sich an der „Spezialoperation“ in der Ukraine beteiligt, aber die Kommunikation mit ihnen war abgebrochen.

Wie wir bereits in der Vergangenheit angemerkt hatten, hat die Ankündigung der „Entnazifizierung“ und „Entmilitarisierung“ der Ukraine keine „patriotische Welle“ ausgelöst, die mit der „Rückholung der Krim“ 2014 vergleichbar wäre. In den letzten acht Jahren – zusätzlich zu den Feindseligkeiten, die die Kremlmarionetten im Donbas angestachelt hatten – haben wir auch eine sich vertiefende Wirtschaftskrise erlebt, einen Rückgang der russischen Durchschnittseinkommens, zusammen mit steigenden Preisen, die „Optimierung“ der Bildung und Medizin (d.h. Sparmaßnahmen), die Anhebung des Rentenalters und schließlich, extrem unpopuläre Maßnahmen unter dem Vorwand das Coronavirus zu bekämpfen. Die Umfragewerte und das Vertrauen in die Autoritäten sind stark gesunken.

Verschiedene Meinungsumfragen scheinen zu zeigen, dass 60-70% der Befragten die „Spezialoperation“ in der Ukraine unterstützten. Die damit befassten Soziolog*innen gaben an, dass die meisten sich einfach geweigert hätten, überhaupt Fragen zu beantworten. Diejenigen, die einer Befragung zustimmten, antworteten bei näherer Betrachtung das Bild des russischen Fernsehens bestätigend: russische Truppen befreien die Ukrainer*innen von Nazis. Es ist kein Zufall, dass Zustimmung zur sogenannten „Spezialoperation” in direktem Zusammenhang mit dem Alter der*des Befragten steht. In den älteren Altersgruppen gibt es verhältnismäßig viele Leute, die ihre Informationen zu den aktuellen Geschehnissen aus dem Fernsehen beziehen. Russ*innen, die den Fernsehpropagandist*innen Glauben schenken, schaffen es nicht einmal ihren ukrainischen Verwandten und Bekannten zu glauben, die die Bombenangriffe überlebt haben.

Antikriegsmahnwachen und Straßenperformances werden trotz aller Verbote, Festnahmen und Strafverfolgung fortgesetzt. Die Zahl der Leute, die sich auf die Straße wagen, ist aber nicht vergleichbar mit Ende Februar / Anfang März. Auf der anderen Seite überwiegen auf den Straßen russischer Städte grüne Schleifen, Antikriegsflyer und Graffiti deutlich gegenüber dem Buchstabe Z an Autos. Wir gehen davon aus, dass mindestens in den nächsten Wochen und Monaten, bis die Situation in Russland sich radikal ändert, Proteste eher nicht in Form der unterdrückten Massenstraßendemonstrationen, sondern eher in Form von „Straßenpartisanentum“ (z.B. eine anonyme individuelle direkte Aktion) und zunehmende Sabotage durch Sicherheitsbeamte und ihre Verwandten, auftauchen werden.

Es ist möglich, dass jemand mit Macht noch nicht vollständig die Verbindung zur Realität verloren hat und dass dies erklärt, warum Kriegsrecht und allgemeine Wehrpflicht noch nicht ausgerufen wurden in Russland. Es gibt Bedenken, dass dies zu Sabotage massiven Ausmaßes führen würde.

“[Smash] war.” Eines von vielen Anti-Kriegs-Postern von Autonomous Action.

Die Verbotenen fordern weitere Verbote

Letzte Woche wurde der berüchtigte „Männerstaat“, der bereits als „extremistische Organisation“ eingestuft worden war, in die Liste der verbotenen Organisationen aufgenommen. Diese Entscheidung der russischen Gesetzeshüter*innen bedeutet aber nicht, dass diese Neonazis davon abgehalten werden, die „Spezialoperation“ des Kremls zu unterstützen oder dem Kreml zu helfen, jene mit anderer Meinung zu verfolgen. Gestern waren wir an der Reihe. Der Anführer von „Männerstaat“ Pozdnyakov rief die Mitglieder dazu auf, Denunzierungen an Roskomnadzor [die russische Behörde für Informationstechnologie] zu schreiben. Sie forderten, dass die Seiten von avtonom.org auf Grund unserer Antikriegspositionierung blockiert werden. Unsere öffentliche VK-Seite war bereits seit 24. Februar auf dem Gebiet der russischen Föderation auf Ersuchen des Generalstaatsanwaltsbüros nicht mehr verfügbar. Jetzt ist unsere Webseite auch nur noch von außerhalb Russlands (oder via VPN) zu erreichen.

Wie dem auch sei, das Vkontakte ist nutzlos geworden für alles außer Katzenbilder. Und es ist besser, sich auch die Katzen nicht anzuschauen.

Klar hält das Blockieren von Pozdnyakovs Telegramkanal ihn davon ab, andere Kanäle und Massenchatgruppen zu eröffnen. Die Taliban sind auch immer noch in Russland verboten, was ihre Repräsentant*innen in keinster Weise davon abhält, mit den Russischen Autoritäten zu verhandeln und wie „normale Partner“ behandelt zu werden. Es ist möglich, dass Neonazis von „Männerstaat“ auch davon träumen, in die höchsten Ränge russischer Macht aufzusteigen. Und in diesem zunehmenden Wahnsinn ist es nicht ausgeschlossen, dass ihnen das nicht auch gelingt.

“Jede*r ist für seine Entscheidungen verantwortlich – also wie lautet deine?” Ein weiteres Plakat von Autonomous Action.

Gefrorene Zeit

Obwohl katastrophale Ereignisse weiter mit wahnsinniger Geschwindigkeit eskalieren, scheint die Zeit selbst gerade eingefroren zu sein, an einem Punkt absoluter Unsicherheit. Es ist klar, dass die aktuelle Situation instabil ist und nicht ewig so weitergehen kann. Aber die Zeit wird sich nicht wieder in Bewegung setzen, bis klar ist, wann und wie die aktuellen Krisen in der Ukraine, in Russland und rund um die Welt gelöst werden können.

Es ist wichtig zu bemerken, dass vor dem Hintergrund des Krieges, der Unterdrückung und einer komplett unsicheren Zukunft, Graswurzelnetzwerke der Solidarität eine zunehmend wichtige Rolle spielen. Netzwerke von Freund*innen, Freiwilligen und Menschenrechtsaktivist*innen helfen sicherzustellen, dass diejenigen, die festgenommen werden, nicht verschwinden. Menschen helfen einander, damit die Katzen und Hunde von Inhaftierten nicht allein zu Hause gelassen werden. Sie finden Medizin, sie kaufen Essen trotz der Engpässe, sie spüren Informationen auf. Aktivist*innen- und Freiwilligennetzwerke sammeln Hilfsgüter für Geflüchtete im Ausland. Häufig arbeiten solche Solidaritätsnetzwerke deutlich effizienter als staatliche oder internationale Organisationen, die deutlich mehr Ressourcen haben. Die Zukunft gehört der Selbstorganisation und Selbstbestimmung!

“Achtung! Warnung des gesunden Menschenverstandes: Militäreinsätze führen zu steigenden Preisen bei allen Waren und Dienstleistungen.” Ein weiteres Poster von Autonomous Action.


Das Ende der friedlichen Proteste

Dieser Text wurde am 30. März, 2022 von Anarchist Militant veröffentlicht.

Friedliche und „gerechtfertigte” Proteste wurden in Russland unterdrückt, aber das hat noch nicht gereicht. Jetzt sind sie per Definition unmöglich: Der Staat hat innerhalb weniger Tage ein neues Gesetz dazu verabschiedet, dank dem sogar der Ruf „Nein zum Krieg!“ nun illegal ist. Orwell wird sich im Grabe umdrehen, denn regierungsfreundliche Journalist*innen verbreiten jetzt ernsthaft die Idee, dass der Slogan „Nein zum Krieg!“ Naziflugblättern entstammt.

Allen, die die aktuelle Politik verfolgen und sich mit der Geschichte von Protestbewegungen beschäftigen wird schnell klar, dass unter den Bedingungen faschistischer Diktaturen (oder Diktaturen mit dem Anspruch faschistisch zu werden) Proteste unterdrückt werden, es sei denn, sie nehmen radikale und offensive Formen an. Wie können Leute gewinnen, die vor der Polizei davonlaufen?

Wir wissen, dass sich Anarchist*innen und Antifaschist*innen in vielen Städten an diesen Protesten in den ersten Tagen des Krieges beteiligt haben. Und sie waren ziemlich erfolgreich.

Dennoch macht es jetzt keinen Sinn mehr für Anarchist*innen zu den zentralisierten „Protestaktionen“ zu gehen. Das „Team Navalny“ [Unterstützer*innen des inhaftierten Politikers Alexei Navalny] und andere liberale Gruppen werden jetzt für eine Weile weiterhin nur ritualartiges Herumstehen auf zentralen Plätzen abhalten, bei dem du in einen Gefängniswagen geladen wirst, ehe du überhaupt irgendetwas machen konntest. Das hat so lange keinen Sinn, bis auf den Straßen eine neue Phase eintritt. Dann werden Leute bereit sein für aktive Konfrontation und es werden statt der Rufe „Schämt euch!“ Flaschen Richtung Polizei fliegen. Dann kommt die Zeit sich denen, die bereit sind zu handeln, anzuschließen. Aber zu versuchen Leute zu überzeugen Gewalt einzusetzen, während sie dich als Provokateur einstufen und dir „Wir sind für Frieden“ entgegenbrüllen, ist selbstmörderisch und eine Verschwendung menschlicher Kapazitäten – die natürlich auch jetzt schon knapp sind.

Anarchist*innen in Deutschland.

Direkte Aktionen

Unter diesen Bedingungen gibt es im Grunde nicht viele Taktiken, die angewendet werden können. Zurückkehrend zum Thema Kundgebungen und ähnlichem können Anarchist*innen mit anderen Initiativen zusammenarbeiten, statt selbst eine Kundgebung abzuhalten, die dann leicht zu unterdrücken wäre. Gemeinsam mit anderen Initiativen können sie viele Kundgebungen veranstalten, in verschiedenen Stadtteilen und dann wie Wasser weg von ihren Widersacher*innen (z.B. der Polizei) fließen und ein paar Infos entlang des Weges streuen.

Wie dem auch sei, wir wollen über eine andere Taktik reden: Direkte Aktionen.

Ein militärisches Rekrutierungsbüro anzünden ist gut, aber nicht gut genug. Genauer gesagt, die Symbolkraft eines Brandanschlags auf ein Rekrutierungsbüro (das Äquivalent zu Molotowcocktail an Betonwand schmettern) ist nicht genug, um die Freiheit eines*einer Revolutionär*in aufs Spiel zu setzen.

Wir sind nur ein paar wenige. Deshalb sollte jede unserer Aktionen so effektiv wie möglich sein. Wenn du bereit bist, ein Rekrutierungsbüro anzuzünden, zünde es mit höchstmöglicher Effizienz (der Wirkungsgrad der Ausführung) an. Investiere wenn nötig einen Monat in die Vorbereitungen, aber mach sie gut.

Die Effektivität einer Aktion kann anhand von drei Kriterien bewertet werden: Materieller Schaden für den Staat, Einfluss auf die Medien und Aufrechterhaltung der Kampffähigkeit der Partisan*innen im Anschluss an die Aktion.

Es ist zwingend notwendig auf allen drei Ebenen höchstmögliche Effektivität zu erzielen und eine von ihnen (besonders aber die letzte) darf nur wenn dies einen riesigen Vorteil in den übrigen beiden Kategorien verspricht, vernachlässigt werden.

Beginnen wir mit dem letzten Kriterium. Es ist nicht der einmalige Schaden der Aktion, der zählt. Wenn du ein Rekrutierungsbüro niederbrennst, wird das keinen imperialistischen Angriff aufhalten. Was zählt ist der Gesamtschaden, den ein*e Widerstandskämpfer*in Zeit hat anzurichten, bevor er*sie festgenommen wird (einzurechnen ist auch der Schaden den jene anrichten werden, die von der Aktion inspiriert werden). Daraus leitet sich die Wichtigkeit von Sicherheitsvorkehrungen ab, die wir bereits erwähnt hatten (wir werden hier nicht in die Tiefe gehen, weil wir hier keine Anleitung schreiben, sondern ein allgemeines Konzept diskutieren). Das impliziert auch die Notwendigkeit eine Balance zwischen der Größe der Gruppe (die den Schaden, aber auch die Sicherheit während der Aktion erhöhen kann) und dem Risiko das Informationen durchsickern zu finden.

“Gerade habe ich das Büro für Militärregistrierung und -rekrutierung in der Stadt Lukhovitsy im Großraum Moskauer in Brand gesteckt und dabei gefilmt. Ich bemalte das Tor in den Farben der ukrainischen Flagge und schrieb: ‘Ich werde nicht gehen, um meine Brüder zu töten!’ Danach kletterte ich über den Zaun, übergoss die Fassade mit Benzin, schlug die Fenster ein und warf Molotowcocktails hinein. Ziel war es, das Archiv mit den Personalakten der Rekruten, das sich dort befindet, zu zerstören. Damit sollte eine Mobilisierung im Bezirk verhindert werden. Ich hoffe, dass ich meine Klassenkameraden nicht in Gefangenschaft oder Listen der Toten sehen werde… Die Ukrainer müssen wissen, dass wir in Russland für sie kämpfen, nicht alle haben Angst und nicht alle sind gleichgültig. Unsere Demonstranten müssen inspiriert werden und entschlossener handeln. Und das sollte den Geist der russischen Armee und Regierung weiter brechen. Lasst diese Wichser wissen, dass ihr eigenes Volk sie hasst und sie auslöschen wird. Die Erde wird bald unter ihren Füßen brennen, die Hölle erwartet sie auch zu Hause.”

Um auf die Kriterien materieller Schaden für den Staat und Einfluss auf die Medien einzugehen, können wir die Aktion des*der Lukhovitsker Brandstifter*s*in betrachten. Sie bewirkte eindeutig einen signifikanten Schaden für den Staat (Dieses Ziel kann im Übrigen im Alleingang erreicht werden). Um Informationen über die Aktion zu verbreiten filmte er*sie die Aktion und hielt eine Ansprache.

Falls du materiellen Schaden am System anrichten willst, überlege dir gut, auf welchem Wege du das erreichen kannst: Welche Mittel sind die besten? Welche Ziele sind am geeignetsten? Wir wissen von ein paar Fällen, wo von Aufständischen geworfene Molotowcocktails eigentlich nichts in Flammen gesteckt und gar keinen materiellen Schaden angerichtet haben. Zusätzlich solltest du nicht nur das Tamtam und den Hype um die Aktion (z.B. Molotowcocktails werfen) in Betracht ziehen, sondern auch ihre Effektivität. Es ist häufig effektiver, gar keine Geschosse zu verwenden, sondern (z.B.) Benzin durch ein kaputtes Fenster zu schütten.

Informiere dich also bevor du eine Aktion planst gut über die verschiedenen Kampfmittel und wähle ein dir zur Verfügung stehendes aus. […]

Im Informationszeitalter gibt es keine Wirkung ohne gute Berichterstattung über die Aktion. Erstelle ein kurzes und leicht verständliches Statement, warum du genau dieses Objekt angreifst und welchen Effekt du dir davon erhoffst. (Kürze ist wichtig, denn wortgewaltige Manifeste sind schwer zu lesen und zu verstehen.Der Tonfall des Textes sollte zum Stil der Aktion passen, damit es nicht ungewollt komisch wird). Überleg dir, von wo du diese Nachricht über die Aktion sicher absetzen kannst.

Im Moment ist Insurrektionalismus hauptsächlich im anarchistischen Untergrund ein Thema – die anderen lehnen ihn als Provokation ab. Deshalb ist es zunächst notwendig die größten anarchistischen Kanäle, die eine solche Aktion unterstützen würden, zu finden und sichere Wege ihnen Material zur Verbreitung zukommen zu lassen, in Erfahrung zu bringen.

Aber du kannst auch versuchen nicht nur anarchistische Plattformen, sondern auch unabhängige Medien zur Verbreitung des Statements zu nutzen. Die Situation ändert sich gerade, was bedeutet, dass einige von ihnen die Aktion erwähnen werden, besonders falls es ein unterstützendes Video gibt. Achte darauf Medien auszuwählen, die vom Ausland aus agieren. Sie sind weniger anfällig für Selbstzensur. Es wäre gut, wenn eine*r der Genoss*innen die Verlautbarung ins Englische übersetzen könnte, damit die Aktion auch im Ausland Beachtung findet.

Ein vereinfachtes Schema wäre also: Molotowcocktail auf die Polizeistation, von dem keiner hört, der keinen merklichen Schaden anrichtet = wertlos oder negativ – aus Sicht der Effizienz. Zerstörung teurer Ausrüstung oder wichtiger Dokumente oder eine Aktion, die die Arbeit der Institutionen destabilisiert = positiv – aus Sicht der Effizienz. Dieser Wert kann sich um ein Vielfaches multiplizieren, bei geschickter Nutzung der medialen Aufmerksamkeit.

Schauen wir uns noch einmal die Lukhovitskyer Brandstiftung an. Die Zerstörung der Archive ist gut, aber die Tatsache, dass tausende Leute von dieser Aktion gehört haben, erhöht die Effektivität um einiges. Zur gleichen Zeit und zusätzlich zu direkten Aktionen tun Revolutionär*innen auch in solchen Zeiten noch andere Dinge. Erstens fördern sie eine Bewegung, die die breiten Massen in den Prozess einbezieht. In der Tat muss es neben der Schwächung des Staates (was die Absicht der gezielten Angriffe ist) auch eine Initiative in der Gesellschaft geben, die zum Ziel hat, die Welt wiederaufzubauen auf dem Fundament von Freiheit und Selbstbestimmung.

Nichtsdestotrotz ist zu berücksichtigen, dass selbst die unverfänglichste Handlung ziemlich harte Strafen nach sich ziehen kann. Erinnern wir uns an die Drohungen des antiextremistischen Dreckszentrums „Okopnyi“ gegen eine Person, die Antikriegssticker verteilt hat. Es ist Zeit, sich vom Gedanken „Ich mache hier nichts Illegales, ich habe nichts zu befürchten.“ zu verabschieden. Was auch immer du tust, achte auf deine Sicherheit und bereite dich auf ein Treffen mit Ermittler*innen vor.