Am 8. Januar 2023 stürmten rechtsextreme Anhänger*innen des besiegten ehemaligen brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro Regierungsgebäude in Brasília, offenbar in grotesker Nachahmung des Fiaskos, bei dem Anhänger*innen von Donald Trump am 6. Januar 2021 in Washington, DC, dasselbe taten. Im folgenden Bericht schildern unsere Genoss*innen in Brasilien die Vorgeschichte dieser Ereignisse und erörtern die Probleme, mit denen sich die Gegner*innen des Faschismus in Brasilien konfrontiert sehen.
Der gestrige [der Artikel wurde am 9. Januar geschrieben] rechtsextreme Übergriff wirft Fragen auf, mit denen sich Anarchist*innen und andere Antifaschist*innen auf der ganzen Welt auseinandersetzen müssen.
Wer treibt die rechtsextremen Bestrebungen an, den zivilen Konflikt zu eskalieren und die staatlichen Institutionen in ein Schlachtfeld zu verwandeln? Während viele in den Vereinigten Staaten die Beteiligung von Steve Bannon vermuten, haben Brasilien und Lateinamerika im Allgemeinen eine lange Geschichte von Putschen, die von lokalen Militärs und rechten Kräften angeführt und sowohl von Zentrist*innen1 als auch von Konservativen innerhalb der US-Regierung unterstützt wurden. Im Gegensatz zu Trump war Bolsonaro selbst während der Erstürmung der Gebäude nicht in Brasilien, da er vor dem Ende seiner Amtszeit geflohen war. Es ist wahrscheinlich ein Fehler, diese Ereignisse auf die Machenschaften einiger weniger Autokraten zu reduzieren.
Wer auch immer hinter dem Überfall steckte – warum wurde das Debakel vom 6. Januar 2021 als so erfolgreich angesehen, dass es sich lohnt, es zu wiederholen? War es das Ziel der Beteiligten, die Macht zu ergreifen, Druck auf die neue Regierung auszuüben oder sie zu einer Überreaktion zu provozieren, außergesetzliche Taktiken als Schritt zum Aufbau einer faschistischen Bewegung zu legitimieren? Oder gibt es hier kein rationales Ziel, sondern nur die Begleiterscheinungen der Wahlkampfstrategien rechtsextremer Demagog*innen, die zunehmende Polarisierung einer sich fragmentierenden Gesellschaft und die unwiderstehliche Anziehungskraft memetischer2 Taktiken?
Wie können die marginalisierten Bevölkerungsgruppen, die von faschistischen Bewegungen ins Visier genommen werden, mobilisiert werden, um sich zu verteidigen, ohne die gleichen staatlichen Institutionen zu legitimieren, die sowohl Faschist*innen als auch Zentrist*innen gegen sie einsetzen? Wie können Anarchist*innen und andere, die sich für einen tiefgreifenden sozialen Wandel einsetzen, verhindern, dass rechtsextreme »Rebell*innen« diejenigen Taktiken monopolisieren, die in der Öffentlichkeit als die »unseren« betrachtet werden. Auch wenn wir diese anwenden müssen auf der Suche nach Befreiung?
Wir hoffen, dass der folgende Beitrag unseren Genoss*innen helfen wird, über diese Fragen nachzudenken.
Wahlen stoppen den Faschismus nicht
Seit der Niederlage von Jair Bolsonaro und dem Sieg von Luís Inácio Lula da Silva mit einem Vorsprung von weniger als 2% bei den brasilianischen Präsidentschaftswahlen vom 30. Oktober 2022 haben die Mobilisierungen der extremen Rechten sowohl an Umfang als auch an Gewalt zugenommen. Kurz nach der Bekanntgabe von Lulas Sieg kampierten Demonstrant*innen in der Nähe von Armeekasernen und blockierten Straßen, um das Wahlergebnis in Frage zu stellen und ein militärisches Eingreifen zu fordern. Viele dieser Lager waren mit Dixiklos, Zelten und Küchen ausgestattet und wurden von Geschäftsleuten und Politiker*innn finanziert, die mit dem Bolsonarismus und der extremen Rechten verbunden sind. Im November ordnete das Oberste Bundesgericht an, dass die Konten einiger Geldgeber*innen gesperrt werden sollten, und unterzeichnete Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse.
Wie wir dokumentierten, blockierten Lkw-Fahrer*innen, die von Arbeitgeberverbänden organisiert wurden, Hunderte von Straßen im ganzen Land und profitierten dabei von der Nachsicht der Bundespolizei für Straßenwesen (PRF). Als diese Blockaden niedergeschlagen wurden, verlagerte sich die Dynamik auf die städtischen bolsonaristischen Bewegungen, insbesondere auf die Lager vor Militärkasernen. In den Lagern, die anfangs einen diverseren Charakter hatten, darunter auch ältere Menschen und Kinder, überwogen nun die Männer, und die Teilnehmenden waren eher bereit, Gewalt anzuwenden. Lynchmorde an Personen, die versuchten, die Blockaden zu durchbrechen, Entführungen und sogar Folterungen von Personen, die mit ihrer Taktik oder ihren Ansichten nicht einverstanden waren, wurden zur Tagesordnung.
Eine Pro-Bolsonaro-Besetzung. Die Klasseninteressen der Teilnehmenden sind eindeutig
Am Abend des 12. Dezember, während der offiziellen Anerkennung von Präsident Lula und seinem Vizepräsidenten Geraldo Alckmin als Wahlsieger, ging die radikalisierte Straßenbasis des Bolonarismus in einer Generalprobe für die Ereignisse des 8. Januar einen Schritt weiter. Gruppen, die in Brasília kampierten, griffen eine Polizeistation und das Hauptquartier der Bundespolizei an. Bolsonaro-Anhänger*innen setzten fünf Busse und drei Autos in Brand, in Reaktion auf die Verhaftung eines indigenen Mannes namens Serere Xavante (ein evangelischen Pastor und Bolsonarist). Xavante wurde beschuldigt, einen Staatsstreich zu organisieren, Drohungen auszusprechen und Angriffe auf den demokratischen Rechtsstaat zu fördern; der Minister des Bundesgerichtshofs, Alexandre de Moraes, ordnete seine Verhaftung an.
Der Bundesgerichtshof ordnete die Verhaftung von Dutzenden Personen an, die an den Pro-Bolsonaro-Demonstrationen und an der Finanzierung der Lager beteiligt waren. Die Linke setzte weiterhin darauf, dass die institutionelle Repression ausreichen würde, um die Bolsonaristas zu zügeln. Sie verließ sich auf Gesetze und Institutionen, die nichts getan hatten, um die Dynamik der extremen Rechten einzudämmen, und ließ die Straßen für faschistische Organisationen offen. Trotz der erwähnten Verhaftungen behandelten die Polizei und andere Behörden die bolsonaristische Bewegung im Allgemeinen weiterhin tolerant.
Das Bild eines in Flammen stehenden Busses – früher ein Symbol des Kampfes gegen staatliche Repression und kapitalistische Ausbeutung, das bei den Protesten gegen die Erhöhung der Bustarife 2013, die Fußballweltmeisterschaft 2014 und die Polizeigewalt in der städtischen Peripherie zu sehen war – wird nun mit »rechtem Terrorismus« in Verbindung gebracht. Die legalistische und institutionelle Linke, die von der neuen Regierung vertreten wird, übernimmt die Rolle der »Verteidigerin von Recht und Ordnung«.
Unfähig, die Wahlniederlage zu verkraften, überließ Bolsonaro seinen Anhänger*innen den Kampf für seinen Traum von einem Staatsstreich. Am 30. Dezember flog er mit seinem Gefolge und seinen Familienangehörigen im Präsidentenflugzeug nach Orlando, Florida; alles wurde mit öffentlichen Geldern bezahlt. Sein Vizepräsident, General Hamilton Mourão, wurde zum amtierenden Präsidenten und lobte in einer Erklärung den »Wechsel der Macht in einer Demokratie«.
Die extreme Rechte sieht nun sowohl Bolsonaro als auch Mourão als Verräter. Aber ohne Bolsonaro wurden die Bolsonaristas nur noch wütender und unberechenbarer.
An Heiligabend 2022 entdeckte der Fahrer eines Tanklastzugs einen Sprengsatz in seinem Fahrzeug und alarmierte die Polizei. Der Urheber des versuchten Anschlags, George Washington de Sousa, wurde verhaftet und gestand, dass er das Fahrzeug vor Lulas Amtseinführung in der Nähe des Flughafens von Brasília in die Luft sprengen wollte, um den noch amtierenden Präsidenten Bolsonaro zu zwingen, den Belagerungszustand zu verhängen. In der Wohnung von Washington de Sousa entdeckten die Behörden einen beträchtlichen Bestand an Waffen, die er nach eigenen Angaben im Laufe der Jahre erworben hatte, motiviert durch die Reden von Bolsonaro. Dies lenkte die Aufmerksamkeit der Behörden, einschließlich der neuen Regierung Lula, auf die Rekrutierung und Radikalisierung der Rechtsextremen durch die Bolsonaro-Besetzungen.
Am 1. Januar 2023 wurde Lula unter strengen Sicherheitsvorkehrungen vereidigt. Damit ist er der einzige Präsident, der in Brasilien dreimal in einer demokratischen Abstimmung gewählt wurde – und Bolsonaro der erste Präsident, der nicht wiedergewählt wurde, sowie der erste Präsident in der demokratischen Ära, der sich weigerte, die Präsidentenschärpe bei einer Amtseinführungszeremonie weiter zureichen. Die Bilder von Vertreter*innen der indigenen Bevölkerungen, der Arbeiter*innen, der Schwarzen, der Behinderten und der Ausgegrenzten, die Lula die Fahne überreichten, gingen um die Welt und signalisierten Optimismus – auch wenn die palliativen Maßnahmen für eine kapitalistische Gesellschaft, die sich offensichtlich im Niedergang befindet, wahrscheinlich nicht viel mehr als eine kurze oberflächliche Verbesserung vor dem Zusammenbruch bieten werden.
Auf jeden Fall hielt die Beruhigung nach der »Niederlage des Faschismus bei den Wahlen« nicht einmal eine Woche an.
Die Revolte der »Schützlinge« der Polizei
Obwohl die Beteiligung nach der Machtübernahme durch Lula abnahm, gingen die rechtsextremen Proteste und Aufmärsche weiter. In den ersten Januartagen riefen die Bolsonaristas für Sonntag, den 8. Januar, zu einer Demonstration auf. Etwa 4000 Menschen, die in mehreren Städten Brasiliens vor den Toren der Kasernen protestiert hatten, fuhren mit gecharterten Bussen in die Hauptstadt Brasília, um sich dort zu einer Massendemonstration gegen Lulas Amtsantritt als Präsident zu versammeln. In der Menge befanden sich zahlreiche Beamte, Angestellte von Parlamentsabgeordneten und sogar stellvertretende Bürgermeister kleinerer Städte. Sie behaupteten, die Wahlen seien gefälscht und Lula sei der Kopf einer kriminellen Bande, die versucht, Geld aus Brasilien zu veruntreuen, um den »Kommunismus« zu finanzieren.
Als die Busse in der Hauptstadt ankamen, marschierten die Faschist*innen, die mit T-Shirts der brasilianischen Fußballnationalmannschaft bekleidet waren, am frühen Nachmittag los, ohne von der Polizei gestört oder belästigt zu werden, und das an einem Ort, der normalerweise stark überwacht wird und nur schwer zugänglich ist. Sie näherten sich den Gebäuden des Nationalkongresses, des Bundesgerichtshofs und des Palácio do Planalto (des Präsidentenpalastes). Dies sind die Sitze der drei föderalen Gewalten Brasiliens: Legislative, Judikative und Exekutive. Die Demonstrant*innen stürmten die Gebäude, zerstörten Fenster, Geräte und Möbel und beschädigten und stahlen historische Gegenstände und seltene Kunstwerke von Candido Portinari, Emiliano Di Cavalcanti und Victor Brecheret im Wert von mehreren Millionen Dollar. Sie stahlen Dokumente und Waffen aus dem »Büro für institutionelle Sicherheit« im Erdgeschoss des Palácio do Planalto; dies legt die Vermutung nahe, dass einige von ihnen zuvor Zugang zu Informationen über den Standort der Waffen hatten.
Wie bei den Ereignissen vor dem US-Kapitol am 6. Januar 2021 filmten die Demonstrant*innen alles, was sie taten, zeigten ihre Gesichter und veröffentlichten die Aufnahmen live in den sozialen Medien, ohne sich um das Risiko zu kümmern. Ironischerweise widersetzten sie sich mit ihrer Aktion genau den Kräften, von denen viele glaubten, dass sie ausreichen würden, um die Gesellschaft nach der Wahl einer linken, progressiven Regierung vom Faschismus zu befreien.
Die Eindringlinge wurden von der Militärpolizei des Bundesdistrikts unter dem Kommando von Gouverneur Ibaneis Rocha stillschweigend unterstützt und erfuhren mindestens drei Stunden lang weder Widerstand noch polizeiliche Repressionen. Die Polizei erlaubte ihnen, die Gebäude zu betreten. Erst um 18 Uhr ergriff die Polizei die Initiative und umzingelte die Gebäude. Mehrere Videos zeigen, wie Polizeibeamte Selfies machen und lachen, während die Demonstrant*innen in den Kongress eindringen; andere zeigen, wie sich Polizeibeamte mit den Bolsonaristas in den eingedrungenen Gebäuden verbrüdern.
Erst nach 20 Uhr gelang es der Polizei, einschließlich der Nationalen Streitkräfte – die sonst so gerne Lehrer*innen, Student*innen und Indigenas angreifen –, den Protest friedlich »einzudämmen« und etwa 200 Personen festzunehmen. Auf Videos ist zu sehen, wie die Polizei die Bolsonaristas friedlich und ohne Verletzte oder Tote entfernt, obwohl die brasilianische Polizei wohl die tödlichste der Welt ist.
Diese institutionelle Reaktion begann erst als Lula, der sich in einer Stadt im Landesinneren von São Paulo aufhielt, ein Dekret über die Intervention des Bundes in die öffentliche Sicherheit des Bundesdistrikts erließ, in dem der Sekretär für öffentliche Sicherheit des Justizministeriums, Ricardo Cappelli, bis zum 31. Januar 2023 zum Intervenienten [eine Art Vermittler, Anm. d. Vlg.] ernannt wurde. In der Praxis bedeutet dies, dass die Regierungspolizei (Militärpolizei und Zivilpolizei) aus dem Fall herausgenommen und der Fall an die Bundespolizei (Nationale Sicherheitskräfte und Bundespolizei) übergeben wird. Am Abend des 8. Januar gab der Minister für Justiz und öffentliche Sicherheit eine Erklärung ab, in der er mitteilte, dass die Ermittlungen eingeleitet, die Finanziers der Busse identifiziert und etwa 200 Personen festgenommen worden seien.
Auch der Justizminister Flávio Dino, ein ehemaliger Richter und ehemaliger Gouverneur des Bundesstaates Maranhão, meldete sich zu Wort und hielt eine gemäßigte Rede, in der er versuchte, die Legitimität der Regierungsinstitutionen zu wahren, indem er die Teilnehmer*innen der Pro-Bolsonaro-Demonstrationen als isolierte Radikale darstellte, die wie Kriminelle behandelt würden, und damit die Veranstaltung ihres politischen Inhalts beraubte, während er sie als einen versuchten Staatsstreich bezeichnete. Der Minister des Obersten Gerichtshofs, Alexandre de Moraes, der sich während der gesamten Amtszeit Bolsonaros als »Hüter der demokratischen institutionellen Ordnung« betätigt hatte, ordnete zudem die Absetzung des Gouverneurs des Bundesdistrikts an, eines bekannten Unterstützers des Bolsonarismus.
Heute, am Tag nach den Ereignissen, bleibt die Situation für die Presse und die Behörden verwirrend, obwohl die Demonstration seit Monaten in den bolsonaristischen Netzwerken angekündigt worden war.
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Eine lokale Manifestation einer globalen faschistischen Welle
Es gibt viele Ähnlichkeiten zwischen den Ereignissen vom 8. Januar 2023 in Brasilien und den Ereignissen vom 6. Januar 2021 in Washington, DC. Aber es gibt auch bedeutende Unterschiede, angefangen bei der politischen Führung der Faschist*innen.
Jair Bolsonaro hat sich stets als Unterstützer von Donald Trump positioniert und sich mit globalen rechtsextremen Bewegungen, wie denen in Polen und Ungarn, verbündet. Bolsonaro hat Verbindungen zu Steve Bannon, der die Söhne Jair Bolsonaros für den Präsidentschaftswahlkampf 2018 betreute und 2022 behauptete, dass die Wahl Jair Bolsonaros die zweitwichtigste für seine Bewegung sei. Nach der Niederlage rieten Bannon und Trump Bolsonaro, das Wahlergebnis anzufechten. Dennoch kann man nicht von einer direkten Einmischung von Bannon oder der internationalen extremen Rechten sprechen.
Die Motivation für die beiden Invasionen von Regierungsgebäuden ähnelt auch dem Inhalt der angeblichen Verschwörung: Bolsonaro-Anhänger*innen behaupten, dass die Wahlen zugunsten einer mit dem Kommunismus und China sympathisierenden globalistischen Elite manipuliert wurden, mit dem Ziel, nationalistische Regierungen zu destabilisieren, um das zu verbreiten, was sie »Gender-Ideologie« nennen, den Drogenkonsum zu fördern und die Interessen internationaler krimineller Kartelle zu unterstützen. Dem Beispiel der Alt-Right-Bewegung in anderen Teilen der Welt folgend, bezeichnen sie sich selbst als liberal in ihrem wirtschaftlichen Programm und konservativ in ihrem kulturellen Programm. So behaupten sie, die traditionelle christliche Familie zu verteidigen, um weiße Vorherrschaft, Hass auf LGBTQI+ und Angst vor einer angeblichen kommunistischen Bedrohung zu verbreiten.
Sowohl am 6. Januar 2021 als auch am 8. Januar 2023 drang ein faschistischer Mob, der sich als die wahre Vertretung des »Volkes« ausgab und sich weigerte, die Legitimität des Wahlprozesses anzuerkennen, bei dem sein Kandidat unterlegen war, in den Sitz der verfassungsgebenden Gewalt ein, um Chaos zu stiften, in der Hoffnung, das Ergebnis der Wahlen zu annullieren.
Nach Jahrzehnten des demokratischen Managements, in denen praktisch alle Parteien dies als die einzig mögliche Form der Politik im Zeitalter der kapitalistischen Globalisierung akzeptiert haben, hat die extreme Rechte die Politik wieder in den Bereich des Streits und der Konfrontation gestellt. Es wird immer deutlicher, dass der Konsens, der in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg um die Formel Kapitalismus + liberale Demokratie + Menschenrechte herum aufgebaut wurde und der die dem kapitalistischen und staatlichen System innewohnenden Widersprüche und Ungleichheiten ignorierte, zerbrochen ist. Bezeichnenderweise ist es die Rechte, die auf diesen Bruch setzt und den Bürgerkrieg ausdrücklich befürwortet, während die Linke mehrheitlich noch an den demokratischen Institutionen und der Verwaltung eines zunehmend prekären Friedens festhält.
Die Ereignisse in Brasilien unterscheiden sich von den Ereignissen in den Vereinigten Staaten dadurch, dass den Bolsonaristas etwas zusammenhält, das älter ist als der Trump-Kult. Etwas, das spezifisch für die brasilianische politische Geschichte ist: die Nostalgie für die Diktatur, die 1964 durch einen zivil-militärischen Putsch mit Hilfe der Vereinigten Staaten errichtet wurde, sowie die Treue zu allen Aspekten der Diktatur, die in der brasilianischen Gesellschaft fortbestehen.
Um es mit den Worten des Psychoanalytikers Tales Ab’Sáber zu sagen: »Was bleibt von der Diktatur in Brasilien? Alles, außer der Diktatur«.
Anhänger*innen von Bolsonaro nutzen die Milde der Polizei, um sich als Rebell*innen zu präsentieren.
Im Gegensatz zu dem, was in den Vereinigten Staaten nach der Wahl Bidens geschah, sind die brasilianischen Streitkräfte – bestehend aus Offizieren, die in Militärschulen ausgebildet wurden, die vom antikommunistischen Diskurs des Kalten Krieges und vom Geschichtsrevisionismus durchdrungen sind, der den zivilen Militärputsch als »64er-Revolution« bezeichnet – ein wesentlicher Bestandteil der Putschbewegungen. Am sozialen und parlamentarischen Bolsonarismus sind zahlreiche Reserveoffiziere des Heeres, der Marine und der Luftwaffe beteiligt. Offiziere im aktiven Dienst können ihre Unterstützung für die Pro-Bolsonaro-Demonstrant*innen kaum verbergen; seit 2014 haben sie sich öffentlich gegen linke Parteien und Kandidaten ausgesprochen. Der offensichtlichste Beweis für die Unterstützung der Putschist*innen durch die Streitkräfte ist ihre Duldung der Camps vor ihren Kasernen, die sicherlich nicht akzeptiert worden wäre, wenn die Inhalte der Demonstrationen andere gewesen wären.
In der Hoffnung, eine Annäherung innerhalb der Institutionen herbeizuführen, ernannte die von der institutionellen Linken geführte Koalition, die die Wahlen im Oktober gewonnen hatte, José Múcio zum Verteidigungsminister – einen rechtsgerichteten Politiker, der ein Freund der Militärs ist und dessen Partei (die PTB, Partido Trabalhista Brasileiro) das Motto »Gott, Familie, Heimat und Freiheit« verwendet. In seiner Erklärung zu den Demonstrationen räumte Lula ein, dass der Verteidigungsminister nicht gehandelt habe, um die Besetzungen rund um die Kaserne zu räumen.
Was heute in Brasilien geschieht, zeigt, wie stark die extreme Rechte in den letzten zehn Jahren geworden ist und sich dabei einen diffusen Sozialfaschismus zunutze gemacht hat, der in der brasilianischen Gesellschaft schon immer vorhanden war. Die demokratischen Institutionen, die mit der brasilianischen Verfassung von 1988 eingeführt wurden, wussten nicht, wie sie sich dagegen wehren sollten – oder sie wollten es nicht. Das zeigte sich von Anfang an in der Beteiligung des Militärs an der Wiedereinführung demokratischer Wahlen in den 1980er Jahren und in der »verfassungsmäßigen Rolle« des Militärs als Garant der Staatsmacht.
Die größte Schande für die Linke insgesamt – und insbesondere für diejenigen, die sich selbst als radikal bezeichnen – ist, dass die Regierung von Jair Bolsonaro und seinen Milizen die gesamte Staatsstruktur umgestaltet hat, indem sie das öffentliche Gesundheitswesen, die Bildung und den Umweltschutz abbaut und gleichzeitig Schwarze und Indigenas, Frauen und LGBTQI+ ins Visier nimmt, und das alles inmitten einer globalen Pandemie, die in Brasilien mehr Menschen tötete als im weltweiten Durchschnitt pro Kopf. Dennoch waren wir nicht in der Lage, auf diese Ereignisse zu reagieren – weder mit einem Generalstreik, noch mit der Blockade von Städten und Autobahnen, noch mit der Invasion des Präsidentenpalastes.
Jetzt werden all diese Maßnahmen, die wir hätten ergreifen sollen, um uns gegen die extreme Rechte zu verteidigen, mit der extremen Rechten in Verbindung gebracht. Dies trägt zu einem Diskurs bei, der uns lähmt und es uns unmöglich macht, den Faschist*innen den nötigen Widerstand entgegenzusetzen – außerhalb und innerhalb der staatlichen Institutionen, ganz zu schweigen von den anderen Parteien, die ebenfalls die staatlichen Institutionen nutzen werden, um uns weiterhin die schlimmsten Auswirkungen des Kapitalismus aufzuzwingen.
Wir müssen einen Aufstand von unten anzetteln, der alle entrechteten Sektoren der Gesellschaft einschließt, alle, die von den Faschist*innen ins Visier genommen werden, alle, die unter dem Kapitalismus leiden, selbst wenn er von einer fortschrittlichen Regierung geführt wird. Wir dürfen den Aufstand nicht delegitimieren, wenn der Staatsapparat in den Händen der linken Mitte ist, während die Straßen in den Händen der Faschist*innen und Sicherheitskräfte bleiben. Wir müssen Wege des Widerstands finden und die Erpressung derjenigen zurückweisen, die behaupten, das Wichtigste sei die Aufrechterhaltung der Ordnung, mit ihrem ewigen Moralismus zur Verteidigung des Privateigentums und der staatlichen Macht.
Übersetzung aus dem Buch Das Gebot der Ordnung. Die Wahl 2022 in Brasilien