Ya Ghazze Habibti - Gaza, meine Liebe

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Den Völkermord in Palästina verstehen

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Nach der Ermordung von mehr als 42.000 Palästinensern, darunter 16.500 Kinder, marschiert das israelische Militär nun im Libanon ein und droht mit einem Krieg gegen den Iran. In dem folgenden ausführlichen Bericht untersucht ein Anarchist aus dem besetzten Palästina die Geschichte des zionistischen Kolonialismus und des palästinensischen Widerstands, plädiert für ein antikoloniales Verständnis der Situation und untersucht, was es bedeutet, sich solidarisch mit den Palästinensern zu verhalten.


Ya Ghazze Habibti

Ya Ghazze habibti, oh Gaza, meine Liebe. Gaza, das Napoleon, einer seiner vielen Besatzer:­innen, den Vorposten Afrikas nannte, das Tor zu Asien. Das liegt daran, dass er auf seinem Weg nach Norden durch Gaza zog und nach seiner Niederlage auf dem Rückweg nach Afrika erneut durch Gaza zog.

Gaza, das aufgrund seiner geografischen Lage an der Mittelmeerküste schon immer ein zentraler Punkt für vorbeiziehende Reiche, Handelsrouten, Besatzungen und Kulturen war. Gaza, durch das die Via Maris verlief, die Ägypten mit der Türkei und Europa verband. Gaza, durch das die Griechen, die Römer, das Kalifat der Rashidun, die Kreuzfahrer, die Mamelucken, die Osmanen, die Briten, die Ägypter und zionistische Kräfte ihre Ansprüche geltend machten – und seine Geschichte als eine Geschichte von Besetzungen, Kriegen, Gräueltaten und Widerstand schrieben.

Gaza, meine Liebe, war schon immer ein Schlachtfeld, stand aber auch immer still. Gaza, das 41.0001 seiner Einwohner:­innen begraben hat, gedenkt eines Jahres andauernden Vernichtungskrieges, einer Zerstörung, die bereits das Ausmaß der Bombardierung Dresdens durch die Alliierten im Zweiten Weltkrieg übersteigt, und einer täglichen Sterblichkeitsrate, die höher ist als bei jedem anderen Konflikt im 21. Jahrhundert.

Fast ein Jahr nach Beginn des Völkermords sollte einiges klar sein: Die Zerstörung der Hamas ist ein Nebenschaden. Das Hauptziel ist das Massenschlachten von Kindern, das die Zukunft des Gazastreifens ins Visier nimmt. Von den bisher gemeldeten 41.000 Toten sind etwa 16.500 Kinder.

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Aber Gaza ist nicht hilflos. Die Menschen in Gaza kämpfen, und ihr Mut und ihre Widerstandsfähigkeit sind eine Inspiration für die ganze Welt und die kommenden Generationen.

Bevor wir die aktuelle Situation erörtern, ist es wichtig, einen Blick auf die Geschichte zu werfen. Für diejenigen von uns, die in der Entität, dem Bauch des kolonialen Ungeheuers, aufgewachsen sind und dort leben, fühlt es sich an, als hätte die Geschichte am 7. Oktober begonnen. Dies ist die einzige Erzählung, die die Israelis zu hören bekommen. Aber die Dinge passieren nicht einfach in einem Vakuum – und ähnliche Dinge sind schon einmal passiert, in ähnlichen Entkolonialisierungs- und Befreiungskriegen. Ein wenig historischer Hintergrund wird es uns ermöglichen, diese Ereignisse als Teil langfristiger Prozesse zu betrachten und zu verstehen.

Dann können wir über mögliche Zukunftsszenarien sprechen.

Eine Geschichte der Eroberung, eine Geschichte des Widerstands

Gaza hat eine lange Geschichte von Besetzungen und Widerstand, aber unser heutiges Verständnis des „Gaza-Streifens“ als ein Rechteck auf der Landkarte im Süden Palästinas leitet sich nicht von den natürlichen Gegebenheiten des Landes ab – es handelt sich um eine künstliche, moderne Schöpfung. Die Mamelucken verwendeten im 13. Jahrhundert erstmals den Begriff Quta’a Ghazze (Gaza-Streifen), bezogen sich dabei aber auf den gesamten Süden Palästinas bis hin zum heutigen Westjordanland. Der Gaza-Streifen, wie wir ihn heute kennen, wurde 1948 geschaffen.

Wir können den sogenannten Gazastreifen nicht verstehen, ohne den zionistischen Angriff auf Palästina im Jahr 1948 zu erörtern, die massive ethnische Säuberungskampagne, die als Nakba bekannt ist. Ohne diesen Kontext ist es unmöglich zu verstehen, warum die meisten Bewohner:­innen von Gaza ursprünglich nicht aus Gaza stammen und warum 80 % der Bevölkerung Flüchtlinge sind. Gaza ist ein künstlicher Landstreifen, der nach der massiven ethnischen Säuberungskampagne durch zionistische Milizen zu einem riesigen Flüchtlingslager wurde. Von den fast 800.000 Flüchtlingen, die aus ihren Dörfern vertrieben wurden, flohen viele in nahe gelegene Länder wie den Libanon, Syrien und das Westjordanland. Diejenigen, die versuchten, nach Ägypten zu gelangen, fanden eine geschlossene Grenze vor; im Gegensatz zu anderen Nachbarländern nahm Ägypten keine Flüchtlinge auf, ähnlich wie es die ägyptische Regierung heute tut. So entstand der Gazastreifen: als zionistisches Mittel zur Kontrolle der Demografie und der Bevölkerung.

Viele der Kibbuzim und Städte, die am 7. Oktober angegriffen wurden, wurden auf den Ruinen von Gemeinden errichtet, die dort zuvor existierten. Beduinenstämme und andere Bewohner:­innen aus elf Dörfern rund um Gaza wurden in den Gazastreifen vertrieben, und ihr Land, das als „verlassen“ eingestuft wurde, wurde vom Staat enteignet und in militärische Übungsplätze und Siedlungen umgewandelt. Darauf wurden Städte und Kibbuzim gebaut, um Rückkehrversuche zu verhindern. Der Deportationsbefehl, von Historikern als Order Number 40 dokumentiert, beinhaltete die Anweisung, die Dörfer niederzubrennen und keine Überreste zu hinterlassen. Wir können davon ausgehen, dass einige der Kämpfer:­innen, die diese Siedlungen am 7. Oktober 2023 angriffen, Flüchtlinge der zweiten oder dritten Generation waren, die zum ersten Mal das Land ihrer Vorfahren auf der anderen Seite der Blockade sahen.

Bis zum Ende dieser Vertreibungen im Jahr 1950 hatte sich die Bevölkerung von Gaza durch die Ankunft von Hunderttausenden von Flüchtlingen verdreifacht. Es gab keine Infrastruktur, um so viele Flüchtlinge aufzunehmen, und bis 1950 gab es keine Hilfsorganisation wie die UNRWA, die den Flüchtlingen zur Seite stand. Dennoch berichten Historiker:­innen von einer unglaublichen Solidarität der Einheimischen in Gaza, die in Krisenzeiten beschlossen, das Wenige, das sie hatten, mit den Flüchtlingen zu teilen, um sie am Leben zu erhalten. Auf Beschluss der Vereinten Nationen wurde 1950 das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) gegründet, das mit dem Bau von Flüchtlingslagern und Schulen begann und Hilfsmaßnahmen für die große Zahl von Flüchtlingen organisierte, die bis dahin in örtlichen Schulen, Moscheen, auf Feldern und in Privathäusern von Einheimischen geschlafen hatten, die ihre Türen für sie öffneten.

Die neu angekommenen Flüchtlinge in dem Gebiet, das später zum Gazastreifen werden sollte, stellten eine Bedrohung für das zionistische Kolonialprojekt dar. Einige behaupten, dass Gaza seit 2007 unter Belagerung steht – in Wirklichkeit stand Gaza jedoch von Anfang an unter Belagerung und durchlief im Laufe der Zeit verschiedene Phasen der Belagerung. Die Gründung des Gazastreifens war eine kalkulierte Entscheidung von David Ben Gurion, dem Architekten der Nakba und ersten Premierminister Israels, ein Stück Palästina aufzugeben, um ein riesiges Flüchtlingslager für vertriebene Menschen zu errichten, die in den Süden flohen. Neben der Kontrolle der Demografie des restlichen Palästinas diente die Isolierung des Streifens einem weiteren Zweck. Die geografische Entfernung zum Westjordanland, zu den Palästinensern, die in den 1948 besetzten Gebieten verblieben waren, und zum Rest der arabischen Welt trug dazu bei, das Gefüge der palästinensischen Gesellschaft zu zersplittern. Dies war eine kalkulierte koloniale Strategie, um das Land in isolierte Ghettos aufzuteilen – in das, was in Südafrika als Bantustans bezeichnet wurde –, um einen Keil zwischen verschiedene Klassen der besetzten Bevölkerung zu treiben.

Bis 1967 hatte Israel seine ursprünglichen demografischen Probleme gelöst, aber neue geografische geschaffen. Der Expansionsdrang war erneut gestiegen und der Gazastreifen wurde zusammen mit dem Westjordanland, den Golanhöhen und der Sinai-Halbinsel besetzt. Israel gab den Sinai später an Ägypten zurück, aber die übrigen neu besetzten Gebiete stellten eine große Herausforderung für den jüdischen Staat dar, da nicht klar war, ob eine einfache Wiederholung von 1948 möglich war. Ein neues Modell der ethnischen Säuberung war gefragt. Die Bedingungen hatten sich geändert, sodass es schwieriger war, die physische Vertreibung von Menschen aus ihrem Land zu rechtfertigen; die nächstbeste Lösung bestand darin, sie einfach an Ort und Stelle einzusperren.

Oberste Priorität hatte es, mit allen Mitteln zu verhindern, dass sich Siedler:­innen mit den Einheimischen vermischten. Deshalb errichtete Israel zwei Freiluftgefängnisse: eines im Westjordanland und ein stärker kontrolliertes im Gazastreifen. Im Gegensatz zu den 1948 besetzten Gebieten wurden diese neuen Gebiete nie offiziell an Israel angegliedert. Die Bevölkerung erhielt nie die Staatsbürgerschaft. Ihr wurden alle Rechte verweigert, ihre Dörfer wurden von Kontrollpunkten, Mauern und Siedlungen umgeben und es wurde eine Militärherrschaft eingeführt. Tatsächlich gingen ethnische Säuberung und Militärherrschaft im Laufe der Geschichte oft Hand in Hand.

Ein weiterer Faktor, der historisch mit ethnischer Säuberung und Militärherrschaft einhergeht, ist Widerstand. Der Ausbruch der ersten Intifada im Jabaliya-Flüchtlingslager im Gazastreifen im Jahr 1987 löste in der gesamten Region revolutionäre Wellen aus. Dies lag nicht nur an der Intensität des Aufstands, sondern auch daran, dass er einen Wendepunkt markierte, an dem die Palästinenser die Dinge selbst in die Hand nahmen und für ihre eigene Befreiung kämpften.

In vielerlei Hinsicht hatte die Palästinensische Befreiungsorganisation dies bereits seit den 1960er Jahren getan, indem sie den arabischen Staaten die Rolle der „Befreier:­innen“ nahm und den Fokus auf revolutionäre arabische Guerillas und palästinensische Diasporagemeinschaften verlagerte, hauptsächlich in Jordanien und später im Libanon. Aber die erste Intifada in Palästina brach spontan aus. Sie stand nicht unter der Kontrolle einer bestimmten militarisierten Partei oder Organisation, sondern wurde von einem Netzwerk von Basisgruppen und -organisationen angeführt, die sich unter der Einheitlichen Nationalen Führung des Aufstands (UNLU) zusammenschlossen, einem Netzwerk zur Koordinierung der verschiedenen regionalen Komitees, Organisationen und Parteien, die an dem Aufstand beteiligt waren.

Die Tatsache, dass der Aufstand in Gaza ausbrach, ist von Bedeutung. Es ist nicht überraschend, dass er in einem Flüchtlingslager begann. Unter den Palästinensern ist das Lager die niedrigste Klasse; es ist auch die revolutionärste, immer die Frontlinie sowohl des Volkswiderstands als auch des bewaffneten Kampfes. Hier organisierten sich traditionell die Guerillas und bildeten Hochburgen des Widerstands. Aufgrund seiner zentralen Bedeutung im Kampf wurden hier auch viele der schrecklichsten Gräueltaten begangen und die härteste Unterdrückung ausgeübt. Während des libanesischen Bürgerkriegs in den 1970er und 1980er Jahren waren die Flüchtlingslager im Libanon Brutstätten für Revolutionäre. Dort verübten libanesische Faschisten 1982 unter den wachsamen Augen der israelischen Armee das Massaker von Sabra und Schatila.

Bis heute sind Flüchtlingslager wie die in Dschenin und Balata im Westjordanland ein Brennpunkt des bewaffneten Widerstands, mit vielen Fraktionen wie der Löwengrube und der Balata-Brigade, die darauf bestehen, mit keiner größeren Fraktion der palästinensischen Politik verbunden zu sein und sich der Kontrolle sowohl Israels als auch der Palästinensischen Autonomiebehörde zu entziehen. Die Jugendlichen in diesen Lagern haben ihre Häuser immer wieder gegen israelische Überfälle verteidigt und dafür einen hohen Preis gezahlt. Seit dem 7. Oktober 2023 sind die Flüchtlingslager in Gaza ein zentrales Ziel der völkermörderischen Kräfte.

Die erste Intifada machte das Flüchtlingslager zur führenden Kraft in der palästinensischen Revolution. Sie zeigte auch, wie explosiv die Situation war.

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Der Ausbruch der Intifada kam sowohl für Israel als auch für die PLO völlig überraschend. Israel hätte nie gedacht, dass die Palästinenser revoltieren würden, und die PLO hätte nie gedacht, dass sie dies außerhalb ihrer Kontrolle tun würden. Yasser Arafat, der Anführer der PLO und ihrer größten politischen Partei, der Fatah, sah in der unkontrollierbaren und horizontalen Natur der Intifada eine Bedrohung und suchte nach einem Weg, sie unter die Kontrolle seiner Organisation zu bringen. Dies, zusammen mit der Einmischung Israels und der USA, veranlasste die Fatah, ihre Positionen aufzugeben und Friedensverhandlungen mit Israel aufzunehmen.

Diese Abfolge von Ereignissen, deren Einzelheiten den Rahmen dieses Artikels sprengen würden, führte zur Unterzeichnung der Oslo-Abkommen, zur Umsiedlung der PLO nach Palästina, zur Gründung der Palästinensischen Autonomiebehörde und zur anschließenden Verwaltung der Besatzung durch Israels loyalen Subunternehmer. Unter anderem beinhalteten die Oslo-Abkommen die Aufgabe von 80 % des Landes im Gegenzug für das Versprechen einer „Zwei-Staaten-Lösung“ und die Anerkennung Israels. Es bedeutete auch die Aufteilung des Westjordanlands in drei Gebiete: Gebiet A, das 18 % des Westjordanlands umfasst und unter der Kontrolle der Palästinensischen Autonomiebehörde stehen würde; Gebiet B, das 22 % des Westjordanlands umfasst und unter der Zivilregierung der Palästinensischen Autonomiebehörde und der Sicherheitskontrolle Israels stehen würde; und Gebiet C, das 60 % des Westjordanlands umfasst und unter „vorübergehende“ israelische Kontrolle gestellt wurde.

Dies führte auch zu einer Sicherheitskoordination zwischen der neu gegründeten PA und Israel, was bedeutete, dass Palästinenser von palästinensischen Polizist:­innen und Gefängniswärter:­innen unterdrückt, eingesperrt, geschlagen und hingerichtet wurden und nicht von Israelis. Gleichzeitig gab die PLO den „Terrorismus“ und den bewaffneten Widerstand auf und widmete sich Friedensverhandlungen und „gewaltfreien Lösungen“. Der letzte Teil des Abkommens, die Schaffung eines palästinensischen Staates, wurde nie umgesetzt.

Die Abkommen dienten als Lehrbuch für Aufstandsbekämpfungstaktiken. Das Ziel bestand darin, den Aufstand zu zerschlagen, die revolutionären Flügel innerhalb der PLO zu domestizieren oder zu isolieren, die unruhigen Gebiete im Westjordanland und im Gazastreifen der israelischen Verwaltung zu entziehen und gleichzeitig der Palästinensischen Autonomiebehörde die Rolle des Bulle aufzuzwingen, während den aufständischen Massen falsche Hoffnungen gemacht wurden.

Aber nicht alle ließen sich täuschen. Die Oslo-Abkommen beendeten zwar die erste Intifada, signalisierten aber auch eine Fragmentierung innerhalb der palästinensischen Gesellschaft, auch innerhalb der PLO selbst, und spalteten diejenigen, die Friedensabkommen befürworteten, von denen, die sich weiterhin den ursprünglichen Zielen der palästinensischen Revolution verschrieben hatten – die Weigerung, den israelischen Staat anzuerkennen, die Befreiung vom Fluss bis zum Meer und das Bekenntnis zum bewaffneten und Volkswiderstand. Diese beiden Lager sollten die palästinensische Gesellschaft und den Kampf in den kommenden Jahren bestimmen.

Mitten im Aufstand trafen sich am 9. Dezember 1988 einige Männer der örtlichen Ortsgruppe der Muslimbruderschaft, einer in Ägypten ansässigen religiösen sozialen Bewegung, in einem Haus im Flüchtlingslager Shati im Gazastreifen. Dies sollte erhebliche Auswirkungen auf die Zukunft des palästinensischen Widerstands haben. Unter der geistigen Führung von Scheich Ahmed Yassin, einem Flüchtling aus dem Dorf Al-Jura in der Nähe von Majdal Askalan (heute die israelische Stadt Ashkelon), beschloss die Gruppe, sich abzuspalten und eine neue Bewegung zu gründen, die Islamische Widerstandsbewegung (Harakat al-Muqawama al-Islamiya) – abgekürzt HAMAS. Einige Monate später veröffentlichte die neu gegründete Organisation ihre Satzung, in der sie die islamische Wiederbelebung und den Dschihad als eine Form des Antikolonialismus darstellt und ihre politische und religiöse Philosophie in Bezug auf die Verbindung darlegt, die sie zwischen dem Islam und der Befreiung Palästinas sieht. Obwohl bekräftigt wird, dass eine islamische Herrschaft „Muslimen, Juden und Christen ein Leben in Frieden und Harmonie ermöglichen würde“, ist der Rest des Textes voller Antisemitismus und Verschwörungstheorien, die das damalige Verständnis der Bewegung von Zionismus, Israel und Judentum zum Ausdruck bringen.

Ein Jahrzehnt zuvor, im Jahr 1976, hatte Scheich Ahmed Yassin bei den israelischen Behörden eine Genehmigung zur Gründung der Islamischen Vereinigung beantragt, die als Dachorganisation die sozialen, religiösen, bildungsbezogenen und medizinischen Dienste der Muslimbruderschaft im Gazastreifen rechtlich und administrativ abdecken sollte. Israel genehmigte die Lizenz. Dies ist eine der Quellen für den Mythos, dass Israel die Hamas „gegründet“ habe. Tatsächlich hatte Israel nichts mit der „Erfindung“ der Hamas zu tun; als Besatzungsmacht erteilte es lediglich einer der Institutionen der Muslimbruderschaft eine Genehmigung, etwa ein Jahrzehnt bevor die Hamas existierte. Es gibt mehrere Möglichkeiten, zu erklären, warum dies geschah.

Israel verfolgte eine Politik der Nichteinmischung in soziale islamische Organisationen. Es ist jedoch auch hilfreich, die gesellschaftliche Dynamik zu dieser Zeit zu verstehen. Die 1970er Jahre waren der Höhepunkt des palästinensischen revolutionären Linksextremismus; säkulare und marxistisch-leninistische Organisationen waren die dominierenden Kräfte im bewaffneten Widerstand. Religion wurde hingegen als Privatsache angesehen, und Israel hatte ein Interesse daran, das Wachstum der Muslimbruderschaft und anderer islamischer Bewegungen zu ermöglichen, die als Gegenkraft fungieren konnten, um die nationalistische Bewegung zu schwächen und eine soziale Spaltung zu schaffen.

Die Gründung der Hamas ein Jahrzehnt später, die auf der karitativen und sozialen Infrastruktur der Bruderschaft aufbaute, definierte den Islam als politische Bewegung neu, die mit antikolonialem Widerstand verbunden war, und ließ sich von vielen politischen Parteien in der arabischen Welt inspirieren, die Islam mit Nationalismus verbanden. Sie stützten sich auf das Erbe legendärer Persönlichkeiten wie Izz Ad-Din Al-Qassam, einem spirituellen Führer und Militanten, der in den 1920er und 1930er Jahren in Palästina aktiv war, den Islamischen Dschihad als Antikolonialismus definierte und Guerillakämpfe gegen die Franzosen, die Briten und Zionist:­innen organisierte. Der bewaffnete Flügel der Hamas, die Al-Qassam-Brigade, trägt seinen Namen.

Die Hamas war von Anfang an aktiv am Aufstand beteiligt und geriet in Kämpfe mit israelischen Streitkräften, aber auch mit anderen palästinensischen Fraktionen, die sie als Kollaborateure betrachteten. Mehrere Faktoren ermöglichten es der Hamas, sich als Anführer des Widerstandslagers zu positionieren, darunter die stillschweigende Akzeptanz der PLO, das Land des historischen Palästinas in zwei Staaten zu teilen, und die Aufgabe des revolutionären Weges, was dazu führte, dass sich die palästinensische Nationalbewegung in das „Widerstandslager“ und das „Verhandlungslager“ aufspaltete. Gleichzeitig veränderten geopolitische Prozesse wie der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Niederlage der palästinensischen Linken im Libanon den Kontext. Die Intifada brach zuerst in den Flüchtlingslagern von Gaza aus, dem Heimatgebiet der Hamas und ihrer wichtigsten Unterstützerbasis.

Spulen wir vor ins Jahr 2000. Nachdem die Verhandlungen gescheitert waren und der 1999 versprochene palästinensische Staat nie zustande kam, brach eine zweite, noch erbittertere und stärker militarisierte Intifada aus, die durch einen provokativen Besuch von Ariel Sharon – dem damaligen Vorsitzenden der oppositionellen Likud-Partei – auf dem Gelände der Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem ausgelöst wurde. Während die erste Intifada populär und dezentralisiert war, begann die zweite Intifada ähnlich, geriet aber schnell unter die Führung bewaffneter militarisierter Fraktionen, die Praktiken wie Selbstmordattentate und andere Arten tödlicher bewaffneter Angriffe gegen israelische Streitkräfte und Bürger:­innen popularisierten.

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Yasser Arafat, der Führer der PLO und Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, erwies sich als ziemlicher Pragmatiker. Zum Missfallen Israels und internationaler Förderer weigerte er sich, bewaffnete Angriffe zu verurteilen, ermutigte sie oft sogar und mehr als einmal kam es zu Schusswechseln zwischen Polizeikräften der Palästinensischen Autonomiebehörde und israelischen Streitkräften. Er schien den „Friedensprozess“ und das Projekt des Staatsaufbaus lediglich als Mittel zur Befreiung der Palästinenser zu betrachten, die es wert waren, weiterverfolgt zu werden, solange sie funktionierten, war aber bereit, sie aufzugeben und den Kurs bei Bedarf zu ändern. Als Reaktion darauf belagerte Israel 2002 die Mukataa, das palästinensische Parlamentsgebäude in Ramallah, und hielt ihn dort bis zu seinem Tod zwei Jahre später im Jahr 2004 gefangen.

An seiner Stelle kam Mahmud Abbas an die Macht – ein Mitglied der Fatah-Partei mit Unterstützung der USA. Um sicherzustellen, dass Arafats Pragmatismus nicht wieder aufkam, leiteten die USA und andere internationale Geber Bemühungen zur „Professionalisierung“ der Palästinensischen Autonomiebehörde ein. Dies führte zu einer bedeutenden strukturellen Verschiebung, die eine umfassende Reform des Sicherheitssektors mit Unterstützung und Ausbildung durch die USA, die Straffung der Sicherheitskoordination mit Israel, die Entpolitisierung der PA und eines großen Teils der palästinensischen Öffentlichkeit sowie die Ernennung von Salam Fayyad zum Premierminister zur Folge hatte – einem neoliberalen, in Amerika ausgebildeten Wirtschaftswissenschaftler, der beschuldigt wird, die Institutionen der PA von allzu kritischen Stimmen zu säubern.

In ihrem Buch „Polarized and Demobilized: Legacies of Authoritarianism in Palestine“ beschreibt die palästinensische antiautoritäre Autorin Dana El-Kurd ausführlich, wie solche aggressiven Methoden der internationalen Intervention eingesetzt werden, um die PA von ihrer Wählerschaft, der palästinensischen Öffentlichkeit, abzuschotten und sie stattdessen zu einem Erfüllungsgehilfen internationaler Geber zu machen - insbesondere der USA und der Europäischen Union. Sie drohen mit Sanktionen und Kürzungen der Hilfe, wenn die PA von dem Weg abweicht, den ihre Herren, die globalen westlichen Mächte, vorgegeben haben. Die Gründung der PA und die Beteiligung an ihrer Verwaltung waren für die USA von entscheidender Bedeutung, um ihre Prioritäten in der Region durchzusetzen. Den Palästinensern wurde nie gestattet, ihre eigenen Angelegenheiten auf eine Weise zu regeln, die nicht von den Vereinigten Staaten gebilligt wurde.

Dies wurde nach dem Wahlsieg der Hamas im Jahr 2006 deutlich. Die Hamas konnte aus der Unzufriedenheit, die auf das Scheitern der Oslo-Abkommen, die Politik der PA, Korruption und Frustration folgte, Kapital schlagen und 76 der 132 Sitze im Legislativrat sowie das Recht auf Regierungsbildung erringen. Das Widerstandslager war auf dem Höhepunkt seiner Popularität, da Israel ein Jahr zuvor, im Jahr 2005, den Rückzugsplan initiiert hatte, bei dem alle 21 israelischen Siedlungen aus dem Gazastreifen zusammen mit dem israelischen Militär geräumt wurden, nachdem es fünf Jahre lang in Folge zu einem bewaffneten Aufstand gekommen war. Obwohl Israel weiterhin die Kontrolle über die Grenze, den Luftraum und den Seeraum des Gazastreifens behielt, wurde dies dennoch als bedeutender Erfolg des bewaffneten Kampfes angesehen, der es schaffte, Israel zur Aufgabe von Land zu zwingen, während die „Verhandlungen“ und der „Friedensprozess“ ins Stocken gerieten.

Tatsächlich stimmten nur wenige aus religiösen oder ideologischen Gründen für die Hamas. Durch den Aufbau einer Guerilla-Infrastruktur in den 1990er Jahren und während der zweiten Intifada hatte es die Hamas einfach geschafft, sich als führende Kraft für die nationale Sache zu positionieren, als bedeutendste Alternative zur Fatah.

Die Vereinigten Staaten und Israel waren über den Sieg der Hamas schockiert und leiteten schnell einen Putsch ein. Sie übten starken Druck auf die neue Regierung aus, ihre Ansichten zu „moderieren“ – zum Beispiel den von den USA geführten „Friedensprozess“ und die Zweistaatenlösung zu akzeptieren und den westlichen Einfluss in der Region nicht zu bedrohen. Das „Nahost-Quartett“, ein internationales Gremium, das sich aus den USA, der EU, den Vereinten Nationen und Russland zusammensetzt und das mit der „Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts“ im Rahmen des „Friedensprozesses“ beauftragt war, knüpfte die Hilfe für die Hamas-Regierung an drei Bedingungen: die Anerkennung der zwischen der PLO und Israel unterzeichneten Abkommen, die Verurteilung des „Terrors“ und die offizielle Anerkennung Israels. Nachdem sich die Hamas geweigert hatte, wurde die Regierung isoliert, jegliche Hilfe eingestellt und Wirtschaftssanktionen verhängt.

Im Gaza-Bürgerkrieg von 2007 kam es zu bewaffneten Straßenkämpfen zwischen den bewaffneten Flügeln der Hamas und der Fatah um den Gazastreifen. Die Schlacht endete mit einem Sieg der Hamas und der anschließenden Übernahme des Gazastreifens. Nach der Niederlage erklärte Mahmud Abbas die Auflösung der Regierung, entließ Ismail Haniyya (den Hamas-Premierminister) und rief den Ausnahmezustand aus. Stattdessen wurde Salam Fayyad, ein gemäßigterer Fatah-Politiker, der von den USA und Israel gebilligt wurde, zum Premierminister ernannt. Außerdem verbot Abbas den bewaffneten Flügel der Hamas. Seitdem wurden keine Wahlen mehr abgehalten.

Die Ereignisse von 2007 führten zu einer neuen Situation in der palästinensischen Regierungsführung, in der die Palästinenser unter zwei palästinensischen Behörden standen – der PA unter der Herrschaft der Fatah im Westjordanland und der Hamas in Gaza. Dies kam Israel zugute und führte zu einer weiteren Fragmentierung der palästinensischen Gesellschaft und trennte Gaza vom Westjordanland und dem Rest Palästinas. Ab 2007 verschärfte Israel seine Belagerung des Gazastreifens als kollektive Bestrafung für die Wahl der Hamas und isolierte ihn vollständig von der Welt – wodurch das größte Flüchtlingslager der Welt im Grunde zum größten Freiluftgefängnis der Welt wurde. Der Streifen wurde von allen Seiten vollständig eingezäunt (einschließlich der ägyptischen Grenze), der See- und Luftraum wurden stärker kontrolliert, die Bewegungsfreiheit innerhalb und außerhalb des Streifens wurde stark eingeschränkt und Israel entschied, welche Waren eingeführt werden durften.

Diejenigen, die die Hamas mit ISIS, Al-Qaida oder den Taliban gleichsetzen, wären überrascht zu hören, dass die Hamas während ihrer sechzehnjährigen Herrschaft über Gaza nie die Scharia eingeführt hat. Es war eine autoritäre und konservative Regierung; sie war äußerst repressiv, insbesondere gegenüber Frauen, queeren Menschen und politischen Dissident:­innen; dennoch gab es ständige interne Debatten und Auseinandersetzungen, Wahlen und Vertretungsorgane. Die organisatorische Struktur wurde eingehend detailliert; es genügt zu sagen, dass es sich zwar um eine hierarchische Organisation handelte, das System der Majlis Al-Shura (General Consultative Councils [Allgemeine beratende Räte]), das sich aus gewählten Mitgliedern lokaler Ratsgruppen zusammensetzt, mit Vertretern aus Gaza, der Westbank, Führern im Exil und Gefangenen in israelischen Gefängnissen, jedoch ein gewisses demokratisches Top-Down-Modell der Regierungsführung darstellt.

Die Hamas ähnelt nicht nur nicht dem Salafi-Dschihadismus, sie waren auch seine Todfeinde. Salafistische Zellen, die in Gaza zu mobilisieren versuchten, wurden gewaltsam unterdrückt. Die Hamas hat nicht die Absicht, ein panislamisches Kalifat zu errichten; sie war immer eher nationalistisch als religiös und beschränkte ihre Aktivitäten auf das Gebiet Palästinas. All dies soll nicht zu ihrer Rechtfertigung dienen – wir sollten kritisch bleiben –, aber ich glaube, dass wir fair und genau in unserer Kritik sein und Nuancen und Zusammenhänge verstehen müssen, um zu vermeiden, dass islamophober Unsinn verbreitet wird, der alle islamistischen Organisationen in einen Topf wirft.

Israel schien mit der Machtübernahme durch die Hamas einverstanden zu sein. Dies diente dem Zweck, die Palästinenser weiter zu spalten, eine Regierungsbehörde in Gaza an die Macht zu bringen, die das Gebiet verwaltet, und eine Rechtfertigung für israelische Angriffe zu liefern. Israel stellte sich bei den vielen darauf folgenden Luftangriffen als Kämpfer gegen eine dschihadistische islamisch-fundamentalistische Terrororganisation dar.

Der palästinensische Historiker Tareq Baconi beschreibt in seinem Buch „Hamas Contained: The Rise and Pacification of Palestinian Resistance“, wie Israel die Strategie des „Rasenmähens“ in Gaza initiierte. Israel bombardierte Gaza von Zeit zu Zeit, gerade genug, um die militärischen Fähigkeiten der Hamas zu schwächen und Hunderte oder Tausende Palästinenser zu massakrieren – so wurde Gaza in Schach gehalten, aber die Hamas an der Macht gelassen. Bis 2023 führte Israel fünf größere Militäroperationen in Gaza durch und einige kleinere. Diese Strategie, Gaza in einem eingefrorenen Zustand zu halten – immer unter Krisenmanagement, einen Schritt vor dem Zusammenbruch, von der Welt isoliert und ohne einen langfristigen Plan – sollte Israel am 7. Oktober 2023 um die Ohren fliegen. Aber ich greife meiner Geschichte vor.

Von Seiten der Hamas gibt es viele Möglichkeiten zu erklären, warum sie beschlossen haben, sich an der Wahlpolitik zu beteiligen. Es scheint, dass die Hamas die Regierung so sah, wie Arafat sie sah – als ein Werkzeug des Widerstands, eines von vielen Werkzeugen, mit denen man die Befreiung verfolgen kann. Wie Arafat sollten sie die Spannungen und Widersprüche innerhalb dieses Ansatzes entdecken. Als Anführer des Widerstandslagers, der Führer der Revolutionsregierung, fand sich die Hamas oft als Befriedungsmacht wieder. Mehrmals mussten sie andere militante Gruppierungen in Gaza, wie den Palästinensischen Islamischen Dschihad, einschränken, die ihre Waffenstillstandsvereinbarungen störten. Sie beteiligten sich auch nicht an einigen militärischen Auseinandersetzungen mit Israel, wie der Eskalation zwischen Israel und dem Palästinensischen Islamischen Dschihad im Jahr 2022. Einige interpretieren dies jetzt als Täuschungstaktik, um Israel glauben zu machen, dass sie nicht an einer Eskalation interessiert seien, um sie dann am 7. Oktober zu überraschen, aber ich kaufe ihnen das nicht ab. Es mag bis zu einem gewissen Grad wahr sein, aber es lässt sich nicht leugnen, dass die Hamas in der Vergangenheit tatsächlich oft abgeschreckt wurde und einen schmalen Grat zwischen der Aufrechterhaltung einer militanten Haltung und der Einschränkung anderer bewaffneter Fraktionen beschreiten musste, um zu verhindern, dass die Eskalationen außer Kontrolle gerieten.

Der Übergang von einer sozialen Bewegung und einer Guerillaformation zu einer Regierungsorganisation war nicht so offensichtlich. Al-Qassam, der bewaffnete Flügel, sicherte sich zwar ein hohes Maß an Autonomie gegenüber den Regierungsorganen, sah sich aber dennoch mit den wachsenden Spannungen zwischen Widerstand und Regierung konfrontiert. Dies ist in der palästinensischen Bewegung nichts Neues. In seinem Buch „The Palestine Question“ beschreibt Edward Said dieses Dilemma innerhalb der PLO in ihren revolutionären Tagen, als Revolution und Staatsbildungsprojekt oft miteinander kollidierten. Als es schließlich an der Zeit war, einen Staat zu gründen, verrieten sie ihr Volk völlig, verkauften die Revolution und kapitulierten vor den disziplinierenden Mächten der Weltordnung.

Aber die Hamas verfolgte einen anderen Ansatz.

Nach der Übernahme des Gazastreifens im Jahr 2007 hatte die Hamas die Wahl, entweder den Weg der Palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland zu wiederholen, den Widerstand zu verraten und mit der Besatzungsmacht zu kollaborieren, oder ihre trotzige Haltung beizubehalten. Sie entschied sich für Letzteres. Weder Israel noch die internationalen Mächte konnten sie vollständig zähmen, und sie hielten an ihrem Engagement für Entkolonialisierung, Widerstand und bewaffneten Kampf fest – zumindest im Prinzip und manchmal auch in der Praxis. Das konnten wir während der Eskalation im Jahr 2021, der Unity Intifada, beobachten. Während Sheikh Jarrah, ein palästinensisches Viertel in Jerusalem, von der Räumung bedroht war, brannte Jerusalem und ein Aufstand breitete sich in ganz Palästina aus; die Hamas stellte den israelischen Streitkräften ein Ultimatum, sich aus Sheikh Jarrah und dem Al-Aqsa-Gelände zurückzuziehen, woraufhin eine Flut von Raketen auf israelische Städte abgefeuert wurde.

Dies war einer der wenigen Fälle, in denen die Hamas aus dem Käfig ausbrach, der für sie gebaut worden war. Der Raketenangriff auf Israel wurde nicht dazu genutzt, die Belagerung zu lockern, über die Bedingungen in Gaza zu verhandeln, auf die Ermordung eines ihrer Kämpfer zu reagieren oder irgendeine andere Angelegenheit in ihrem unmittelbaren Verantwortungsbereich als Regierungs- oder Militärorgan voranzutreiben; vielmehr war es ein Akt der Solidarität mit einem Stadtteil in Jerusalem und eine Reaktion auf israelische Razzien auf dem Al-Aqsa-Gelände. Damit positionierten sie sich einmal mehr als führende Kraft im Widerstand, als Vertreter der Beteiligung des Gazastreifens am Einheitsaufstand und als Akteure in Angelegenheiten, die alle Palästinenser betreffen.

Die Widersprüche zwischen bewaffnetem Kampf und Volkskampf sind ein ständiges Diskussionsthema unter Palästinensern. Einige Kritik:­innen warfen der Hamas vor, den Volkskampf, der während des Aufstands ausbrach, beiseitezuschieben, indem sie den Fokus auf den bewaffneten Kampf verlagerte. Die Realität ist komplizierter. Die Hamas ist viel mehr als nur ihr bewaffneter Flügel; sie ist eine ganze Bewegung, die mit vielen verschiedenen Kampfmethoden experimentiert und jede Strategie anhand der Ergebnisse bewertet. Die Hamas hat viel Erfahrung mit Volkswiderstand – zum Beispiel während der „Märsche der Rückkehr“ 2018–2019, bei denen die Bewohner des Gazastreifens unbewaffnet auf den Grenzzaun zum israelischen Gebiet zu marschierten, inspiriert unter anderem von der Bürgerrechtsbewegung in den USA, und ein Ende der Belagerung sowie die Erlaubnis forderten, in ihre Häuser auf der anderen Seite zurückkehren zu dürfen. Dies war keine Initiative der Hamas – sie wurde von Graswurzelaktivist:­innen und Zivilist:­innen in Gaza organisiert –, aber die Hamas als Regierungsorgan musste die Märsche genehmigen, nahm daran teil und war an der Finanzierung beteiligt. Israels Reaktion darauf war ein Massaker an 223 Demonstranten, darunter 46 Kinder, durch Scharfschützenfeuer. Die Welt tat nichts. Im Gegensatz dazu haben die Ereignisse des Jahres 2021 bewiesen, dass Palästina nur dann zu einem internationalen Thema wird, wenn israelische Bürger:­innen einen Preis dafür zahlen.

Palästinenser werden getötet, ob bewaffnet oder nicht, „gewalttätig“ oder „gewaltfrei“, bei friedlichen Demonstrationen ebenso wie bei militanten Kämpfen. Das Problem Israels mit den Palästinensern ist nicht diese oder jene Taktik, sondern deren Existenz als Volk.

Vor diesem Hintergrund möchte ich einen Vorschlag machen, wie man den 7. Oktober betrachten könnte. Niemand außerhalb der Hamas weiß genau, was sie dazu veranlasst hat, einen solchen Angriff zu starten. Es gibt viele Theorien, und ich möchte meine eigene hinzufügen. Die Hamas könnte zu dem Schluss gekommen sein, dass die „Widerstandsregierung“ nicht mehr funktionierte, dass sie in Wirklichkeit ein Hindernis darstellte, und beschlossen haben, zu ihren Ursprüngen als Guerillaformation und soziale Bewegung zurückzukehren. Sie haben dies vielleicht schon oft versucht, wie wir an den vielen Versöhnungsversuchen mit der Fatah sehen können; sie haben immer wieder ihre Bereitschaft gezeigt, die Kontrolle über Gaza aufzugeben und auf Wahlen hinzuarbeiten. Baconis „Hamas Contained“ beschreibt viele solcher Versuche und wie sie von Israel und den USA vereitelt wurden. Vielleicht dachten sie, es sei an der Zeit, dass etwas Extremes sie auf den Weg des Widerstands zurückzwingt, eine Art Selbstmord der Regierung. Seit Oktober haben sie deutlich gemacht, dass sie bereit sind, die Regierung des Gazastreifens aufzugeben, aber nicht bereit sind, die Waffen niederzulegen – ein weiteres Indiz dafür, dass sie versuchen, zu ihren Ursprüngen zurückzukehren.

Damit die Revolution weiterleben kann, muss die Regierung sterben.

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Ghettoaufstand

Dann kam der 7. Oktober.

Ein Jahr ist vergangen und es ist immer noch nicht genau bekannt, was an diesem Tag passiert ist. Folgendes wissen wir bisher mit Sicherheit:

In den frühen Morgenstunden des 7. Oktobers 2023 startete die Hamas zusammen mit anderen militanten Gruppierungen in Gaza Tufun Al-Aqsa, die Operation „Al-Aqsa-Flut“, einen koordinierten Überraschungsangriff gegen Israel. Tausende von Raketen wurden auf Israel abgefeuert und Tausende von Militant:­innen durchbrachen die Belagerung, durchbrachen den Zaun, besetzten Militärstützpunkte und infiltrierten israelische Siedlungen.

Der Angriff traf Israel unvorbereitet; es dauerte Stunden, bis die Armee reagierte. Zeugen zufolge gab es drei Hauptwellen, die den Grenzzaun zum Gazastreifen durchbrachen, der stundenlang offen stand. An der ersten Welle, die den Zaun durchbrach, waren die Hamas und die anderen wichtigsten bewaffneten Formationen im Gazastreifen beteiligt, darunter die PIJ, die Volksfront für die Befreiung Palästinas und die Demokratische Front für die Befreiung Palästinas. Die zweite Welle bestand aus kleineren und weniger organisierten bewaffneten Gruppen, darunter wahrscheinlich auch einige Salafi-Dschihadist:­innen. Die dritte Welle bestand aus unbewaffneten Zivilist:­innen, Journalist:­innen, Bloggern und neugierigen Passant:­innen.

Es lässt sich nicht leugnen, dass einige der Teilnehmende Gräueltaten gegen Israelis begangen haben. Zahlreiche Beweise, in einigen Fällen von den GoPro-Kameras der palästinensischen Kämpfer:­innen selbst, zeigen, wie sie wahllos in israelische Siedlungen schießen, Zivilist:­innen töten und Geiseln in den Gazastreifen verschleppen. Auch beim (inzwischen berüchtigten) Nova-Musikfestival kam es zu einem Massaker.

Gleichzeitig kursierte eine Flut von Lügen, erfundenen Gräueltaten und Propaganda. Israelische Rettungsteams, Militärbeamte, Sara Netanyahu und Joe Biden verbreiteten widerlegte Geschichten über Enthauptungen, Tötungen von Kindern, sexuelle Gewalt und andere Dinge, die nie passiert sind. Dies heizte die Situation an und diente dazu, den Völkermord zu rechtfertigen.

Berichten zufolge wurden einige Israelis durch israelisches Feuer getötet. Die Hannibal-Richtlinie ist eine Richtlinie der israelischen Armee, die darauf abzielt, Entführungen mit allen Mitteln zu verhindern, auch durch Angriffe auf israelische Zivilist:­innen und Streitkräfte. Die Begründung lautet, dass der politische Preis für die Freilassung entführter israelischer Soldat:­innen oder Zivilist:­innen durch Abkommen zu hoch ist – da dies wiederholt zur Freilassung vieler palästinensischer Gefangenen im Austausch geführt hat –, sodass es besser ist, selbst auf die Gefahr hin anzugreifen, den Entführten Schaden zuzufügen. Am 7. Oktober beschossen israelische Streitkräfte gezielt Militärstützpunkte, israelische Siedlungen und Autos, in denen vermutlich israelische Geiseln zurück nach Gaza gebracht wurden.

Am Ende des Tages waren etwa 1140 Israelis getötet, 3400 verwundet und 251 in Gefangenschaft geraten. Zunächst berichteten die Massenmedien von viel höheren Schätzungen.

Selbst ein Jahr danach scheinen die Israelis diesen Angriff nicht begreifen zu können. Für sie kam er aus dem Nichts. Sie empfinden ihn als „zweiten Holocaust“ (eine in Israel sehr beliebte Erzählung), als unerklärlichen und irrationalen Angriff barbarischer dschihadistischer Kräfte, die ohne Grund Jüd:­innen töten wollen.

Es ist jedoch eine grobe Fehleinschätzung, den 7. Oktober als isoliertes Ereignis zu betrachten, das in einem Vakuum stattgefunden hat. Praktisch alle, die in Gaza zwanzig Jahre alt oder jünger sind, haben ihr ganzes Leben in einer Realität der Belagerung, der Bombenangriffe und Massaker verbracht und sind bei Verwandten aufgewachsen, die sich noch an die Ereignisse von 1948 erinnern und daran, wie sie von dort vertrieben wurden, wo sich heute die Kibbuzim befinden. Von der Haitianischen Revolution und dem Sklavenaufstand von Nat Turner bis hin zum Massaker von Oran in Algerien waren alle dekolonialen Befreiungskriege, alle Sklavenaufstände und alle Ghettoaufstände immer mit Gräueltaten verbunden, die sich oft gegen Zivilist:­innen richteten. Wir können von den Palästinensern keine Reinheit verlangen, die wir von keinem anderen historischen Befreiungskampf verlangen. Wir können die Gräueltaten bedauern, aber wir können einen Ghettoaufstand nicht verurteilen, wir können einen Sklavenaufstand nicht verurteilen. Wir müssen immer alles im Zusammenhang mit einer Analyse der Machtverhältnisse verstehen.

Dem Angriff vom 7. Oktober 2023 folgte ein Völkermord, der nun seit einem Jahr andauert. Bis Ende September 2024 wurden weit über 41.000 Tote in Gaza gemeldet, wobei die tatsächliche Zahl wahrscheinlich noch viel höher liegt. Mehr als 95.000 Menschen wurden verletzt. Etwa 1,9 Millionen Menschen sind Binnenvertriebene, von denen einige mehr als zehn Mal entwurzelt wurden. Mehr als die Hälfte (60 % laut Al-Jazeera) der Wohngebäude in Gaza, 80 % der gewerblichen Einrichtungen und 85 % der Schulgebäude wurden beschädigt oder zerstört; 17 von 36 Krankenhäusern sind noch teilweise funktionsfähig; 65 % des Ackerlandes sind beschädigt.

Der aktuelle Vernichtungskrieg unterscheidet sich von den vorherigen Eskalationen und Massakern – und das nicht nur in seinem Ausmaß. Israel verfolgt nicht mehr die Politik, „den Rasen zu mähen“. Gaza, das Freiluftgefängnis, wurde in die Luft gesprengt. Folglich musste die gesamte Bevölkerung dafür bezahlen. Tatsächlich haben die israelischen Behörden von Anfang an klargestellt, dass sie einen Völkermord beabsichtigen.

All die Jahre, in denen Israel dachte, es würde seine militärischen Kapazitäten schwächen, grub die Hamas ein komplexes Tunnelnetz unter Gaza, rüstete sich auf und bereitete sich auf den ultimativen Kampf vor. Gaza ist für einen Guerillakrieg im herkömmlichen Sinne ungeeignet, da es sich um einen überwiegend flachen Landstreifen ohne Berge oder Wälder handelt, in die sich Kämpfer:­innen zurückziehen könnten. Die engen Gassen der Flüchtlingslager könnten in einigen Phasen der Kämpfe nützlich sein, und das waren sie auch, aber Israel machte deutlich, dass dies die ersten Orte sein würden, die ins Visier genommen werden, wie im Libanon und im Westjordanland. Das Tunnelnetz, das sich über den gesamten Streifen bis zur Sinai-Halbinsel auf der anderen Seite der ägyptischen Grenze erstreckt, war notwendig, damit die Kämpfer:­innen angreifen und fliehen, an einem anderen Ort wieder auftauchen, sich verstecken, ausruhen, Waffen lagern und Gefangene verstecken konnten. Während der jahrelangen Belagerung waren die Tunnel auch für die Wirtschaft des Gazastreifens von entscheidender Bedeutung: Neben Waffen wurden sie auch dazu genutzt, die israelische Belagerung zu umgehen, um Grundnahrungsmittel einzuschmuggeln.

War der Hamas nicht bewusst, dass die Reaktion Israels so tödlich sein würde? Es ist unmöglich, mit Sicherheit zu sagen, wie ihre Berechnungen aussahen. Wir können davon ausgehen, dass sie wussten, dass der Angriff in einem Blutbad enden würde – vielleicht nicht in diesem Ausmaß, aber sie müssen gewusst haben, dass Israel hart reagieren würde. Nach der Gleichung, die Israel 2014 aufstellte, tötete Israel beispielsweise nach der Entführung und Ermordung von drei israelischen Siedlern im Westjordanland durch palästinensische Militante etwa 2200 Menschen in Gaza, das schlimmste Massaker in Gaza bis 2023. Wie hoch wäre dann der Preis für 1140 israelische Opfer?

Sollten wir daraus schließen, dass der Hamas das Leben der Menschen in Gaza gleichgültig ist? Die Antwort ist komplizierter.

Zunächst einmal ist es genauso sinnvoll, den Widerstand für die Gewalt der Besatzer verantwortlich zu machen, wie die kurdischen Kämpfer:­innen für das Massaker von Dersim oder die Besetzung von Afrin verantwortlich zu machen oder die Rebell:­innen des Warschauer Ghettos für die Unterdrückung durch die Nazis verantwortlich zu machen. Das Ziel einer Siedlerkolonie ist es immer, mehr Land zu erwerben und gleichzeitig die Zahl der Einheimischen zu verringern. In all den Jahren der zionistischen Kolonisierung haben Zionist:­innen ihre Gräueltaten immer als Reaktion auf frühere Angriffe dargestellt – das eigentliche Ziel war jedoch immer die ethnische Säuberung. Der Gazastreifen selbst wurde als Lösung für die ethnische Säuberung errichtet, als abgeschlossenes Ghetto zur Kontrolle der Demografie, und Israel tötet dort und in ganz Palästina seitdem Menschen. Zu erwarten, dass die Menschen nicht kämpfen, sondern hilflose Opfer sind, war nie realistisch.

Laut der Hamas selbst fragen sie in dem Dokument „Unsere Erzählung … Operation Al-Aqsa Flood“, das nach dem 7. Oktober veröffentlicht wurde: Was hat die Welt von den Palästinensern erwartet? Nach 75 Jahren des Leidens unter einer brutalen Besatzung, nach dem Scheitern aller Befreiungsinitiativen, den verheerenden Ergebnissen des sogenannten „Friedensprozesses“, den Oslo versprochen hatte, und dem Schweigen der sogenannten internationalen Gemeinschaft, sollten sie wirklich in Frieden sterben? Sie stellen fest, dass der Kampf der Palästinenser für die Befreiung von Besatzung und Kolonialismus nicht erst am 7. Oktober begann, sondern vor 105 Jahren, gegen 30 Jahre britische Kolonialherrschaft und 75 Jahre zionistische Besatzung. Zwischen 2000 und 2023 wurden Zehntausende Palästinenser getötet; all diese Todesfälle ereigneten sich mit amerikanischer Unterstützung, und jede Art von Protest, einschließlich friedlicher Initiativen wie die Rückkehrmärsche im Jahr 2018, wurde brutal unterdrückt. Angesichts der mörderischen Aggression, die völlig ungestraft bleibt, fragt das Dokument:

„Was wurde vom palästinensischen Volk nach all dem erwartet? Weiter zu warten und sich weiterhin auf die hilflosen Vereinten Nationen zu verlassen! Oder die Initiative zu ergreifen, um das palästinensische Volk, sein Land, seine Rechte und seine Heiligtümer zu verteidigen; in dem Wissen, dass das Recht auf Verteidigung in internationalen Gesetzen, Normen und Konventionen verankert ist.“

Eine ähnliche Aussage machte Basem Naim, ein hochrangiges Mitglied des Politbüros der Hamas, am 7. Oktober.

„Wenn wir wählen müssen, warum sollten wir dann die guten Opfer sein, die friedlichen Opfer? Wenn wir sterben müssen, dann müssen wir in Würde sterben. Stehend, kämpfend, zurückschlagend und als würdige Märtyrer.“

Wir können auch den palästinensischen Revolutionär und Märtyrer Bassel Al-Araj zu Rate ziehen. In einem Artikel aus dem Jahr 2014, kurz vor der israelischen Bodeninvasion in Gaza am 17. Juli, machte er auf mehrere Punkte2 aufmerksam:

  1. Der palästinensische Widerstand besteht aus Guerillaformationen, deren Strategien der Logik des Guerillakriegs oder des hybriden Krieges folgen, die Araber und Muslime durch unsere Erfahrungen in Afghanistan, im Irak, im Libanon und in Gaza gemeistert haben. Ein Krieg basiert nie auf der Logik konventioneller Kriege und der Verteidigung fester Punkte und Grenzen; im Gegenteil, man lockt den Feind in einen Hinterhalt._ _Man hält sich nicht an einer festen Position auf, um sie zu verteidigen, sondern führt Manöver, Bewegungen, Rückzüge und Angriffe von den Flanken und von hinten aus. Man sollte ihn also nie mit konventionellen Kriegen vergleichen.

  2. Der Feind wird Fotos und Videos von seiner Invasion in Gaza, der Besetzung von Wohngebäuden oder seiner Präsenz in öffentlichen Bereichen und an bekannten Sehenswürdigkeiten verbreiten._ _Dies ist Teil der psychologischen Kriegsführung in Guerillakriegen: Man lässt den Feind sich nach Belieben bewegen, damit er in die eigene Falle tappt und man ihn angreifen kann. Man bestimmt den Ort und den Zeitpunkt der Schlacht. Sie sehen also vielleicht Fotos vom Al-Katiba-Platz, von Al-Saraya, Al-Rimal oder der Omar-Al-Mukhtar-Straße, aber lassen Sie sich dadurch nicht in Ihrer Entschlossenheit schwächen. Die Schlacht wird nach ihren Gesamtergebnissen beurteilt, und dies ist lediglich eine Show.

  3. Verbreiten Sie niemals die Propaganda der Besatzer und tragen Sie nicht dazu bei, ein Gefühl der Niederlage zu vermitteln. Darauf muss man sich konzentrieren, denn schon bald werden wir zum Beispiel über eine massive Invasion in Beit Lahia und Al-Nusseirat sprechen. Verbreiten Sie niemals Panik; unterstützen Sie den Widerstand und verbreiten Sie keine Nachrichten, die von der Besatzung gesendet werden (vergessen Sie die Ethik und Unparteilichkeit des Journalismus; so wie der zionistische Journalist ein Kämpfer ist, sind Sie es auch).

  4. Der Feind sendet vielleicht Bilder von Gefangenen, höchstwahrscheinlich Zivilisten, aber das Ziel ist es, den schnellen Zusammenbruch des Widerstands zu suggerieren. Glauben Sie ihnen nicht.

  5. Der Feind wird taktische, qualitative Operationen durchführen, um einige Symbole [des Widerstands] zu ermorden, und all dies ist Teil der psychologischen Kriegsführung. Diejenigen, die gestorben sind und sterben werden, werden das System und den Zusammenhalt des Widerstands niemals beeinträchtigen, da die Struktur und die Formationen des Widerstands nicht zentralisiert, sondern horizontal und weit verbreitet sind. Ihr Ziel ist es, die Unterstützerbasis des Widerstands und die Familien der Widerstandskämpfer zu beeinflussen, da sie die einzigen sind, die die Männer des Widerstands beeinflussen können.

  6. Unsere direkten menschlichen und materiellen Verluste werden viel größer sein als die des Feindes, was in Guerillakriegen, die auf Willenskraft, dem menschlichen Element und dem Ausmaß an Geduld und Ausdauer beruhen, ganz natürlich ist. Wir sind weitaus besser in der Lage, die Kosten zu tragen, sodass es nicht nötig ist, die Größenordnung der Zahlen zu vergleichen oder sich davon beunruhigen zu lassen.

  7. Die Kriege von heute sind nicht mehr nur Kriege und Zusammenstöße zwischen Armeen, sondern vielmehr Kämpfe zwischen Gesellschaften. Lasst uns wie ein solides Gefüge sein und mit dem Feind ein Spiel spielen, bei dem wir uns gegenseitig in die Finger beißen, unsere Gesellschaft gegen ihre Gesellschaft.

Schließlich steht jeder Palästinenser (im weiteren Sinne, d. h. jeder, der Palästina als Teil seines Kampfes betrachtet, unabhängig von seiner sekundären Identität) an vorderster Front im Kampf um Palästina, also achtet darauf, dass ihr eurer Pflicht nachkommt.

Eine letzte Anmerkung, bevor wir fortfahren. In dem Buch „Blessed is the Flame“ („Gesegnet sei die Flamme“) betrachtet der Autor Serafinski die Ghettoaufstände und den Widerstand in den Konzentrationslagern im nationalsozialistischen Deutschland aus einer anarcho-nihilistischen Perspektive. Das Buch zeigt, dass es trotz der repressiven und lähmenden Bedingungen in Konzentrationslagern immer noch zu Widerstandshandlungen wie Sabotage, gegenseitiger Hilfe und Aufständen kam, oft trotz schwerwiegender Folgen und sehr geringer Erfolgschancen. Die Motivation hinter vielen dieser Handlungen war der Wunsch, um ihrer selbst willen zu rebellieren. Serafinski baut auf der Idee auf, dass Jouissance, oder Freude – die Kreativität und das Leben der Handlung oder Rebellion selbst – an sich lohnenswert ist, unabhängig von ihren Folgen. Beispiele zeigen, dass Menschen sich selbst in den schlimmsten Situationen dafür entscheiden, sich nicht passiv ins Verderben führen zu lassen, sondern sich in verzweifelten, wilden Akten des Widerstands engagieren und sich dabei etablierter Logik, Moral und Diskursfeldern entziehen. Unter unmöglichen Bedingungen entscheiden sie sich für unmögliche Handlungen. Dies erinnert an Bassels Verständnis von Romantik als Kriegsgrund.

Und Menschen tun oft das, was in ihrer Macht steht, und nicht das, was am „richtigsten“ ist. Das müssen wir akzeptieren.

„Was wirklich zählt, ist die Stärke, die wir jedes Mal spüren, wenn wir nicht den Kopf einziehen, jedes Mal, wenn wir die falschen Götzen der Zivilisation zerstören, jedes Mal, wenn unsere Augen denen unserer Gefährt:­innen auf illegalen Pfaden begegnen, jedes Mal, wenn unsere Hände die Symbole der Macht in Brand setzen. In diesen Momenten fragen wir uns nicht: ‚Werden wir gewinnen? Werden wir verlieren?‘ In diesen Momenten kämpfen wir einfach.“

„Ein Gespräch zwischen Anarchist:­innen“, Conspiracy Cells of Fire

„Selbst deine Beobachtungen und Kritik an den Paradoxien des Krieges von 2014 warst, dass er den Großteil der Gesellschaft zu einem passiven Publikum machte, das auf den Tod wartet. Du hast dich gegen einen Tod gewehrt, der nicht von einer romantischen Erzählung umgeben ist. Du weißt, dass das Kräfteverhältnis zwischen Nationen durch die ‚potenzielle Energie‘ und die ‚kinetische Energie‘ (eine vernichtende Energie) bestimmt wird._ _Und du weißt, dass potenzielle Energie – und ihre Funktion im Krieg – darin besteht, sich in eine vernichtende Kraft zu verwandeln. Ich glaube, dass die Möglichkeit, romantische Erzählungen über Martyrium und Heldentum zu schaffen, eines der wichtigsten Elemente der potenziellen Energie ist, bei der wir unseren Feind übertreffen.„

“Warum wir in den Krieg ziehen“, Bassel Al-Araj

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Der Kampf seitdem und andere Fronten

Die Menschen in Gaza sind seit dem 7. Oktober keine hilflosen Opfer mehr. Ja, Gaza ist durch den Völkermord verwüstet, aber der Widerstand kämpft hartnäckig, trotz unglaublich geringer Chancen. Bis Mitte September 2024 hat Israel 789 Tote unter seinen Soldat:­innen und Sicherheitskräften gemeldet. Anderen Berichten zufolge wurden mindestens 10.000 Menschen getötet oder verwundet. Nach Angaben des israelischen Verteidigungsministeriums kommen jeden Monat etwa 1000 israelische Soldat:­innen in die Rehabilitationsabteilung des Verteidigungsministeriums. Unglaubliche Aufnahmen, die von Guerillakämpfern online verbreitet wurden, zeigen, wie sie aus Tunneln auftauchen, Panzer in die Luft jagen, israelische Soldat:­innen aus dem Hinterhalt angreifen und Gebäude in die Luft jagen, in denen sich Soldat:­innen befinden. Das israelische Militär gab zu, dass viele Panzer bei den Kämpfen beschädigt wurden.

In der Stadt Khan Yunis beispielsweise, in die Israel wiederholt einmarschiert ist, ist bisher jeder Versuch, die Guerillakräfte zu besiegen, gescheitert. In vielen Städten, Flüchtlingslagern und Hochburgen des Widerstands, in denen die israelischen Streitkräfte verkündeten, sie hätten „die örtliche Brigade zerschlagen“, tauchen die Guerillakräfte nach ihrem Rückzug sofort wieder auf und gruppieren sich neu.

Der Widerstand geht weiter.

Im Westjordanland hat die IDF mehrere Angriffe auf Städte und Flüchtlingslager durchgeführt, bei denen die Infrastruktur massiv zerstört wurde. Dabei wurden bis September 2024 mindestens 719 Menschen getötet und mehr als 5700 verletzt. Der bewaffnete Widerstand, der jedoch bei weitem nicht so intensiv ist wie im Gazastreifen, hat 12 israelischen Soldat:­innen das Leben gekostet und 27 verletzt. Mehrere Militante im Westjordanland haben auch bewaffnete Aktionen gegen israelische Siedler:­innen im Westjordanland durchgeführt sowie innerhalb der israelischen Grenzen.

Die Gewalt von Siedler:­innen gegen Palästinenser hat sich seit Oktober deutlich verschärft. Laut UN wurden bei mehr als 800 Angriffen und Pogromen mindestens 31 Palästinenser getötet, mehr als 500 verletzt und etwa 80 Häuser, fast 12.000 Bäume und 450 Fahrzeuge beschädigt. Etwa 850 Palästinenser wurden durch die Gewalt von Siedler:­innen und Militär gezwungen, ihre Häuser zu verlassen. Siedler:­innen blockierten außerdem die humanitäre Hilfe, die aus Jordanien, Ägypten und israelischen Häfen in den Gazastreifen gelangte.

Im besetzten Gebiet, auch bekannt als das 1948 besetzte Palästina oder „Israel“, sehen sich palästinensische Gemeinden einer faschistischen Diktatur gegenüber. In den ersten Monaten war es unmöglich, gegen den Völkermord zu protestieren, da die Polizei Demonstrationen gewaltsam unterdrückte, Aktivist:­innen angriff, ihre Häuser durchsuchte und Menschen, manchmal für Monate, ins Gefängnis steckte, weil sie Parolen gerufen oder Schilder hochgehalten hatten. Allein im Oktober und November 2023 dokumentierte Adallah, ein Rechtszentrum für palästinensische Bürger:­innen in Israel, 251 Verhaftungen, Verhöre und „Warnanrufe“ als Reaktion auf Handlungen wie die Teilnahme an einer Demonstration, das Posten in sozialen Medien und das Äußern von Meinungen an Universitäten und am Arbeitsplatz. Viele palästinensische Studenten wurden von Universitäten verwiesen, viele Arbeitnehmer wurden entlassen. An einigen Orten ließ diese Unterdrückung mit der Zeit nach, an anderen jedoch, insbesondere in „gemischten“ Städten wie Haifa, ist es immer noch unmöglich, gegen den Völkermord zu protestieren.

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Bisher gibt es trotz vereinzelter bewaffneter Gruppen im Westjordanland, die ihre Gemeinden vor israelischen Überfällen schützen und bewaffnete Angriffe auf nahe gelegene Siedlungen und Kontrollpunkte durchführen, ganz zu schweigen von einigen Versuchen im Landesinneren, Proteste zu organisieren, keinen Volksaufstand wie die Einheitsintifada, die 2021 während des vorherigen Großangriffs auf Gaza ausbrach. Die israelische Unterdrückung hat sich als wirksam erwiesen, um viele Menschen zum Schweigen zu bringen und Straßenbewegungen zu lähmen. Dies könnte sich ändern, da Unterdrückung auch zu einer Eskalation führen kann, aber im Moment können wir uns nicht auf einen Aufstand in Palästina verlassen, um den Völkermord zu stoppen.

Die Situation in den Gefängnissen ist unmenschlich geworden. Palästinensische „Sicherheitsgefangene“ sind Folter, Gewalt und sexuellem Missbrauch durch israelische Wachen ausgesetzt. Das Folterlager Sde Teiman erlangte weltweite Berühmtheit, nachdem Whistleblower und Aussagen von entlassenen Gefangenen Misshandlungen, Schläge, physische und psychische Folter, sexuelle Gewalt und Vergewaltigung, medizinische Vernachlässigung und Amputationen von Körperteilen aufgedeckt hatten. Die Bedingungen in den „Sicherheitsgefängnissen“ im ganzen Land haben sich verschlechtert, da der rechtsextreme Minister für nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir angeordnet hat, die Rechte der Gefangenen auf das absolute Minimum zu beschränken. Sie sind in dunklen, überfüllten Zellen eingesperrt, an Händen und Füßen aneinander gefesselt, schlafen auf Betten ohne Matratzen oder auf dem Boden und erhalten nur eine minimale Ernährung. Im vergangenen Jahr wurden Tausende neuer Gefangener verhaftet; unter der sadistischen Führung von Ben-Gvir werden Unterdrückung, Inhaftierung sowie Konzentrations- und Folterlager weiter ausgebaut. Seit Oktober 2023 sind etwa 60 palästinensische Gefangene in israelischen Gefängnissen gestorben.

Die Front der Exilant:­innen ist aktiv gewesen. Palästinensischen Flüchtlingen ist es gelungen, an vielen Orten Massendemonstrationen zu organisieren. In den Nachbarländern gab es eine bedeutende Straßenbewegung von Tausenden zur Unterstützung Palästinas. In Amman, Jordanien, kam es vor der israelischen Botschaft mehrmals zu Zusammenstößen zwischen der Bevölkerung und der Polizei und den Sicherheitskräften, bei denen die Menschen forderten, dass ihr Land seine Beziehungen zu Israel und den Vereinigten Staaten abbricht. Auch im Libanon, in Ägypten, Tunesien, Marokko, Bahrain und in allen Flüchtlingslagern und Städten im Nahen Osten, in Nordafrika und in der arabischen und muslimischen Welt kam es zu Massenmobilisierungen, oft trotz der Unterdrückung durch ihre reaktionären Regierungen, die befürchten, dass sich die Massenmobilisierungen gegen sie richten könnten.

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Am 18. Oktober 2023 kommt es in der Nähe der US-Botschaft in Beirut zu Zusammenstößen zwischen Demonstrant:­innen und der libanesischen Armee. Kein Regime ist „pro-Widerstand“.

Im „Westen“ entstand eine Solidaritätsbewegung in den Städten Europas und Nordamerikas. Es wurde viel über die inspirierenden Mobilisierungen an den Universitäten und die verschiedenen Blockaden, Märsche und Sabotageakte gesagt.

Diejenigen im imperialen Kern haben eine besondere Verantwortung, solche Maßnahmen zu ergreifen. Wir können nur hoffen, dass solche Bewegungen wachsen werden.

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Deutschland, das Land mit der größten palästinensischen Diaspora-Gemeinschaft in Europa (rund 300.000), wurde zu einem einzigartigen Schlachtfeld. Der deutsche Staat steht der palästinensischen Befreiung seit vielen Jahren feindlich gegenüber, geht hart gegen Demonstrationen vor, zensiert Reden und Slogans, verbietet Solidaritätsveranstaltungen und in einigen Fällen auch nationale Symbole wie die Keffiyeh und die palästinensische Flagge. In Deutschland wird der anti-palästinensische Rassismus und die Unterstützung des Völkermords vom Staat, der Polizei und den Repressionsbehörden, der extremen Rechten und islamfeindlichen, anti-arabischen, kolonialen und Apartheid befürwortenden Elementen in der „antifaschistischen“ Szene geteilt.

Dennoch leisten Palästinenser und ihre Unterstützer weiterhin Widerstand. Deutschland ist voll und ganz mitschuldig an diesem Völkermord, da es ihn sowohl materiell als auch rhetorisch unterstützt, Israel Waffen liefert und sogar bereit ist, Israel in seinem Völkermordfall vor dem Internationalen Gerichtshof zu unterstützen. Wir können nur hoffen, dass die Bewegung dort weiterhin die Mauern der Angst durchbricht und Wege findet, sich auszubreiten.

Die Globalisierung der Intifada: Athen 17. November 2023.

Was die sogenannte Achse des Widerstands betrifft, so haben einige bewaffnete militante Gruppen im Nahen Osten eine Solidaritätsfront mit Gaza ausgerufen. Im Irak, in Syrien und in Jordanien wurden amerikanische Stützpunkte angegriffen. Der Iran versuchte zwar, den „Widerstand“ zu monopolisieren, agierte aber monatelang hauptsächlich als befriedende Kraft und forderte die Gruppen wiederholt auf, die Angriffe zu reduzieren, um eine direkte Konfrontation mit Israel und den USA zu vermeiden. Am 20. April 2024 griff der Iran Israel mit einem großen Raketenangriff an, der jedoch hauptsächlich symbolischen Charakter hatte, da er im Voraus angekündigt wurde und keinen nennenswerten Schaden anrichtete.

Kurz vor der Veröffentlichung dieses Artikels startete der Iran als Reaktion auf die Ermordung des Hisbollah-Führers Hassan Nasrallah einen zweiten direkten Angriff auf Israel. Am 2. Oktober 2024 schlugen 180 Raketen in Israel ein. Auch hier wurden die meisten Raketen von Israel, den USA und verbündeten Regimen wie Jordanien abgefangen. Es entstanden leichte Schäden an Militärstützpunkten und einer Einrichtung des Mossad. Das einzige bekannte Opfer dieses Angriffs ist ein Palästinenser aus Gaza, der sich in der Stadt Jericho im Westjordanland aufhielt.

Die Huthi-Bewegung, eine schiitisch-islamistische Organisation, die im Rahmen des andauernden jemenitischen Bürgerkriegs einen großen Teil des Jemen kontrolliert und von einigen als iranischer „Stellvertreter“ und Teil der „Achse“ bezeichnet wird, obwohl sie ziemlich unabhängig ist, hat Raketen auf Israel abgefeuert und Handelsschiffe am Roten Meer angegriffen, wobei jedes mit Israel in Verbindung stehende Schiff als Ziel betrachtet wurde. Berichten zufolge haben sie einen enormen Einfluss auf die Weltwirtschaft und erhebliche Schäden für den internationalen Handel verursacht, Handelsschiffe beschädigt und viele weitere gezwungen, Südafrika zu umfahren, wodurch sich ihre Reise erheblich verlängerte.

Im Südlibanon lieferte sich die Hisbollah tägliche Raketen- und Drohnengefechte mit Israel, die sich jedoch zunächst weitgehend auf Militärstützpunkte in Grenznähe und einige wenige Gemeinden im Norden Israels beschränkten. Als Reaktion darauf bombardierte Israel Dörfer und Gemeinden im Südlibanon und griff Dahieh, einen Vorort von Beirut, in dem einige Hisbollah-Aktivisten leben, an, wobei auch Zivilisten getötet wurden. Die Situation eskalierte; Anfang Oktober 2024 ist Israel in den Südlibanon einmarschiert, nachdem es zahlreiche Eskalationen gegeben hatte.3

Im Nebel des Krieges schreitet die Weltordnung voran. Die USA sehen den Völkermord und die Eskalation im Nahen Osten als Chance, ihre Macht in der Region zu stärken. Israel Channel 12 berichtete im Oktober 2023, dass „244 US-Transportflugzeuge und 20 Schiffe seit Beginn des Krieges mehr als 10.000 Tonnen Waffen und militärische Ausrüstung nach Israel geliefert haben“. In diesem Monat erreichte auch die besondere Militärhilfe der USA für Israel 14,3 Milliarden Dollar.

Am Persischen Golf, im Mittelmeer und in den vielen US-Stützpunkten in den umliegenden Ländern, darunter Irak, Bahrain, Katar und Saudi-Arabien, haben die USA mehrere Jagdgeschwader sowie eine THAAD-Raketenabwehrbatterie und mehrere Patriot-Raketenabwehrbatterien stationiert. Sie versuchen, Angriffe regionaler Mächte auf Israel abzuwehren, beteiligen sich aber auch aktiv an den Kämpfen – wie die von den USA geführte internationale Koalition, die die Huthis im Jemen und am Roten Meer sowie die Milizen im Irak und in Syrien bekämpft.

Die USA haben auch direkt in die israelische Entscheidungsfindung eingegriffen, um den Verlauf des Krieges zu beeinflussen. Präsident Biden, Außenminister Antony Blinken und Verteidigungsminister Lloyd Austin nahmen an Sitzungen der israelischen Regierung und des Kriegskabinetts teil und übten erheblichen Druck aus, um ihre Nachkriegsvision umzusetzen. Nachdem den Amerikanern klar wurde, dass die Umsetzung der amerikanischen Vision schwieriger sein könnte, solange Netanjahu an der Macht ist, trafen sie sich auch mit Oppositionsführer:­innen und israelischen Organisationen der Zivilgesellschaft.

In dieser Vision werden das Westjordanland und der Gazastreifen unter einer „reformierten“ (d. h. von den USA kontrollierten) Palästinensischen Autonomiebehörde vereint und eine „Zweistaatenlösung“ wird nach einer Reihe von Normalisierungsabkommen mit lokalen Regimen umgesetzt, um „Israel in die Region zu integrieren“, seine Sicherheit zu gewährleisten und einen starken proamerikanischen Block aufzubauen, um den amerikanischen Einfluss zu erhöhen und konkurrierende quasi-imperialistische Regionalmächte wie den Iran und Russland zu isolieren.

Das ist nichts Neues. Die USA mischen sich seit Jahrzehnten in dieser Region ein, um ihre Hegemonie aufrechtzuerhalten. Eine neokoloniale Politik der Unterstützung korrupter und reaktionärer Marionettenregime, die als lokale Stellvertreter dienen, um die amerikanische Kontrolle über die Ressourcen zu gewährleisten, hat in den USA eine lange Tradition. Ilan Pappe erklärt uns, dass die USA nach dem britischen Rückzug aus Palästina im Jahr 1948 dringend eine pro-westliche Regionalmacht brauchten. Die USA beschlossen, nach ihrem militärischen Sieg im Jahr 1967 weiter in Israel zu investieren, was ein schwerer Schlag für die säkularen nationalistischen Bewegungen in der Region war.

Die Oslo-Abkommen stellten eine internationale Einmischung in die lokale palästinensische Politik dar. Sie dienten nicht nur dazu, einen Volksaufstand zu brechen, der von dezentralen und horizontalen Netzwerken von Basisaktivistengruppen und -parteien angeführt wurde, sondern sie etablierten auch ein autoritäres, kollaboratives Marionettenregime, damit die Kolonisierten sich nach den Vorgaben der USA, der EU und Israels selbst regieren konnten. Als dieses Regime seinen globalen Sponsoren nicht mehr dienlich war und Arafat dachte, er hätte mehr Handlungsspielraum, als ihm zugestanden wurde, wurde es schnell abgeschafft und durch gehorsamere Akteure ersetzt. Als die Palästinenser 2006 bei demokratischen Wahlen für den falschen Kandidaten stimmten, wurde ein Putsch initiiert und die gesamte Bevölkerung bestraft. Palästinenser dürfen keine Entscheidungen über ihr eigenes Schicksal treffen. Sie müssen streng kontrolliert werden, da sie dazu neigen, widerspenstige Elemente zu offenbaren, die für die US-Hegemonie ungünstig sind.

In den letzten Jahren hat Israel in der von Noam Chomsky als „reaktionäre Internationale“ bezeichneten Organisation eine Reihe von Abkommen und Normalisierungspakten – bekannt als die Abraham-Abkommen – mit lokalen Diktaturen, Monarchien und repressiven Regimen unterzeichnet. Dies geschah unter US-Vermittlung und gegen den Willen der Bevölkerung dieser Länder. Zu den Staaten, die dem Normalisierungsvertrag bisher beigetreten sind, gehören die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain, Marokko und der Sudan. Berichten zufolge war auch Saudi-Arabien auf dem Weg zu einer Normalisierung der Beziehungen mit Israel, doch der Prozess wurde nach dem 7. Oktober eingefroren.

Zu den wirtschaftlichen Auswirkungen dieser Abkommen gehören formelle Investitionen und Geschäftsbeziehungen zwischen den Ländern, insbesondere im Bereich der High-Tech-Industrie, sowie militärische Beziehungen und Waffenhandel. Nach Angaben des israelischen Verteidigungsministeriums belief sich der Wert der israelischen Rüstungsexporte in die Länder, mit denen es 2020 seine Beziehungen normalisierte, auf 791 Millionen US-Dollar. Ölgeschäfte zwischen den VAE und Israel drohen, eine ökologische Katastrophe im Roten Meer auszulösen und damit die Bedenken hinsichtlich des Klimawandels zu bestätigen.

Ein Wunschtraum für Reaktionäre und Waffenhersteller, ein Albtraum für die Völker der Region: US-Präsident Donald Trump, der Außenminister von Bahrain, Abdullatif bin Raschid al-Sajani, der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu und der Außenminister der Vereinigten Arabischen Emirate, Abdullah bin Zayid Al Nahyan, am 15. September 2020.

Diese gesamte Entwicklung, gekoppelt mit der „Zwei-Staaten-Lösung“ als Folge des „Konflikts“, stellt ein Muster für das Engagement der USA in der Region dar. Ein Vorschlag lautete sogar, dass „gemäßigte“ (d. h. von den USA kontrollierte) Regime aus der Region nach dem Völkermord die Kontrolle über Gaza übernehmen sollten, bis eine „reformierte“ Palästinensische Autonomiebehörde (die so gezähmt ist, dass sie ihren internationalen Gönnern keine weiteren Probleme bereitet) ihren Platz als Souverän einnehmen könnte.

Das regionale Konfliktfeld zwischen der reaktionären autoritären Allianz der USA und der reaktionären autoritären Allianz des Iran ähnelt der Lagerpolitik des Kalten Krieges. Wenn die Menschen damals nur zwischen dem bürgerlichen Modell der USA und dem bürgerlichen Modell der Sowjetunion wählen konnten, so scheinen die Völker der Region heute erneut zwischen dem amerikanischen Imperialismus und reaktionären, tyrannischen, expansionistischen und quasi-imperialistischen Mächten wie dem Iran, Russland, der Türkei und in gewissem Maße auch China wählen zu müssen. Diese Länder haben ihre eigenen Visionen für die Region und ihre eigenen Bündnisse mit anderen repressiven Regimen, die alle brutal gegen revolutionäre Bewegungen vorgehen, die ihre Pläne durchkreuzen oder sich ihrem Monopol auf „Widerstand“ entziehen.

Es wird nicht einfach sein, der Falle zu entkommen, zwischen diesen beiden Lagern und der düsteren Zukunft, die beide für die Region bedeuten, gefangen zu sein. Aber wir könnten damit beginnen, uns auf die Kämpfe an der Basis vor Ort zu konzentrieren, anstatt auf Staaten und ihre Stellvertreter. Keine Regierung wird uns aus dieser Hölle retten.

Benjamin Netanjahu machte in der UN-Generalversammlung klare Abgrenzungen: links „Der Fluch“ rechts „Der Segen“.

Die Palästinenser wurden von ihrer Führung immer wieder verraten. Die PLO wollte der „einzige Vertreter des palästinensischen Volkes“ sein, nur um die erste Intifada zu zerschlagen – die außerhalb ihrer Kontrolle und gegen ihren Willen ausgebrochen war – und in das Desaster der Oslo-Abkommen zu stürzen. Sie verstrickten sich immer mehr in die regionale Ordnung der USA und wurden so zu einem der erfolgreichsten Beispiele in der Geschichte der Domestizierung und Neutralisierung revolutionärer Bewegungen. Der palästinensische Widerstand als unkontrollierbare und unregierbare Kraft, die sich der Kontrolle verschiedener Wellen der „Vertretung“, Autoritäten und Mechanismen der Befriedung und Manipulation entzieht, bleibt eine Bedrohung für alle, die darum konkurrieren, ihre bevorzugte Weltordnung durchzusetzen, und für alle Kräfte, die versuchen, sie an ihre eigenen Interessen zu binden.

Jahrelang nutzten Regime in der arabischen Welt die palästinensische Sache als einziges Thema, um das herum Menschen mobilisieren und protestieren durften; dies ermöglichte es ihnen, daß die Menschen Dampf ablassen, während sie Kritik an ihrer eigenen Politik zum Schweigen brachten. Sie nutzten dieses Thema auch, um Legitimität zu beanspruchen, da es von den Völkern der Region immer weitgehend unterstützt wurde. Dana El-Kurd zeigt, wie die Bewegungen, die sich in diesen Staaten um Palästina herum organisierten, für die Teilnehmende zu Schulen für Aktivismus wurden, die es ihnen ermöglichten, sich schließlich auch gegen ihre eigenen Regierungen zu stellen. Viele der Bewegungen, die später am Arabischen Frühling teilnahmen, begannen mit der Organisation der Palästina-Solidarität.

Selbst sogenannte „radikale“ Regime, die sich als Unterstützer des Widerstands ausgeben, wie die syrische Regierung, begannen, Palästinenser zu belagern und abzuschlachten, sobald diese als Bedrohung ihrer Interessen wahrgenommen wurden oder sich Freiheitsbewegungen anschlossen, wie im Flüchtlingslager Yarmouk im Jahr 2014. Ob „normalisierende“ Regime oder „Widerstandsregime“, Autoritäre haben die palästinensische Sache immer als Legitimationsinstrument und leere Rhetorik behandelt, die sie zur Gewährleistung der Stabilität verwenden, auch wenn ihre Politik in der Praxis anti-palästinensisch war. In Momenten der Wahrheit, wenn die Situation außer Kontrolle gerät, zeigen sie ihr wahres Gesicht.

Heute unterdrücken viele Regierungen in der Region aktiv palästinensische Solidaritätsbewegungen und den Widerstand gegen den Völkermord, da sie befürchten, dass diese Bewegungen „außer Kontrolle geraten“ oder die Normalisierungsbemühungen gefährden könnten, von denen sie sich einen Aufschwung ihrer Wirtschaft, ihres Militärs und ihrer Repressionsfähigkeit erhoffen. Unser bester Ausweg aus diesem Schlamassel könnte ein revolutionäres Bündnis von Freiheitsbewegungen in der gesamten Region und hoffentlich auch weltweit sein – eine Internationale der Befreiung, die sich stolz gegen die reaktionäre Internationale unter Führung der USA und die autoritäre Internationale unter Beteiligung des Iran stellt.

Palästina ist eng verbunden mit der syrischen Revolution, der Tragödie im Sudan, den revolutionären Feministinnen im Iran, der Rojava-Revolution, dem Aufstand im Libanon, den vielen Bewegungen im Nahen Osten seit dem Arabischen Frühling und – globaler betrachtet – den Bewegungen „Stop Cop City“ und „Black Lives Matter“ in den USA, den antikolonialen Kämpfen indigener Völker überall, dem Widerstand gegen die Junta in Myanmar, dem ukrainischen Widerstand gegen den russischen Imperialismus und allen Kämpfen für Freiheit und Befreiung. Wir schöpfen Inspiration, Kraft und Lehren voneinander. Ein palästinensischer Sieg in Gaza würde Wellen der Freiheit bis in die entferntesten Winkel der Erde senden, während ein israelischer Sieg diejenigen ermutigen wird, die überall gewalttätige und völkermörderische Strategien verfolgen, den Einfluss reaktionärer und autoritärer Allianzen auf ganze Bevölkerungsgruppen stärken und sie in die Lage versetzen wird, Befreiungsbewegungen weiter zu zerschlagen, sei es im Namen der „Stabilität“ oder des „Widerstands“. Wenn wir voneinander abhängig sind, sollten wir besser anfangen, entsprechend zu handeln. Wer weiß, wie viel Zeit uns noch bleibt.

Fedayeen der Al Fateh bei einer Kundgebung in Beirut, Libanon, 1979 „Es stimmt, dass wir in den Krieg ziehen, um Romantik zu suchen, und vielleicht schämte ich mich, mir das einzugestehen. Man weißt, wie sehr sich dieser Begriff zu einem Klischee entwickelt hat. Ich bin vor dieser Romantik davongelaufen, wann immer sie mich mit sich reißen wollte, und ich habe versucht, all diesen Motiven einen Sinn zu geben. Wir sind zu arrogant, um diesen Grund zuzugeben, aber wir alle wissen, dass das, was uns zu Heldentum und Märtyrertum treibt, dasselbe ist, dessen wir uns so schämen, es zuzugeben: Romantik.“ -Bassel Al-Araj.

Der Versuch, den Nebel zu lichten

Anarchist:­innen haben auf den Völkermord und die Solidaritätsbewegung mit mehreren Schichten kognitiver Dissonanz reagiert. Einige Positionen waren verwirrt oder naiv, es fehlte an Nuancen und Verständnis für die materiellen Bedingungen, die in verschiedenen Regionen und politischen Kontexten vorherrschen – zum Beispiel die Parolen „Kein Krieg außer Klassenkrieg“, die dazu auffordern, dass sich das „israelische und palästinensische Proletariat“ gegen „ihre gemeinsamen Unterdrücker“ „vereinen“ solle, und anderer Unsinn, der die Klassen reduziert. Andere Positionen gingen bis hin zu Islamophobie und Verschwörungstheorien: „Israel hat die Hamas geschaffen“, „die Hamas ist genau wie ISIS“.

Die Hamas ist Gegenstand der größten kognitiven Dissonanz. Antiautoritäre wollen die palästinensische Bewegung unterstützen, wie jede andere Bewegung für Freiheit und Befreiung, aber sie können nicht verstehen, dass die Hamas ein organischer und integraler Bestandteil dieser Bewegung ist, also erfinden sie Geschichten, die besagen, dass die Hamas eine Erfindung der Besatzer ist, dass die Palästinenser sie nicht wirklich unterstützen, dass wir die Geschichte des Widerstands irgendwie ohne sie erzählen können. Sie möchten die Hamas irgendwie von der umfassenderen Sache trennen. Wie viel einfacher wäre es, wenn das möglich wäre!

Die Hamas ist in der Tat eine nationale Befreiungsbewegung, die sich der Befreiung Palästinas verschrieben hat. Die Idee, das religiöse Konzept des Dschihad als antikolonialistischen Widerstand und Selbstverteidigung zu nutzen, ist nicht neu; sie reicht bis in den Kampf gegen die Franzosen in Syrien in den 1920er Jahren zurück, wenn nicht sogar noch weiter. Sie ist in Algerien und vielen Kämpfen seither aufgetaucht. Es hat nichts mit der salafistisch-dschihadistischen Marke zu tun, und ein panislamisches transnationales Kalifat steht nicht zur Debatte. Die palästinensische Befreiungsbewegung ist heterogen und vielfältig; sie umfasst viele Ideologien und Ideen, mit denen wir nicht einverstanden sein mögen. Die Hamas verdient Kritik für ihr Patriarchat, ihre Homophobie, ihr Vertrauen in reaktionäre Kräfte wie den Iran und das Assad-Regime und ihre brutale Unterdrückung. Mutige antiautoritäre palästinensische Gruppen haben dies bereits getan, wie Gaza Youth Breaks Out im Jahr 2011. Aber unsere Kritik sollte fair und realitätsbezogen sein und nicht einfach eine Litanei vorgefasster Meinungen.

Wir müssen auch über die Siedler:­innen sprechen. Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, die israelische Gesellschaft zu analysieren. Wir können die nützliche Unterscheidung verwenden, die der Historiker Ilan Pappe zwischen dem Staat Israel und dem Staat Judäa macht. Kurz gesagt, auf der einen Seite der liberale, säkulare und „demokratische“ (jüdische Demokratie, nur für Jüd:­innen) Flügel der jüdischen Vorherrschaft, Apartheid und des Siedlerkolonialismus, der die Anti-Netanjahu-Proteste in Tel Aviv und anderen israelischen Städten anführt; auf der anderen Seite der eher rechtsextreme, theokratische und offen faschistische Flügel, der hauptsächlich aus jüdischen Pogromist:­innen aus dem Westjordanland und ihren Verbündeten besteht. Der antifaschistische Autor und Journalist David Sheen entwickelt weitere Unterscheidungsmerkmale, welche die israelische Gesellschaft in Lager von Rassist:­innen, Opportunist:­innen, Reformist:­innen und Humanist:­innen unterteilen.

Alle diese Analysen untersuchen die interne Debatte innerhalb der Siedlergesellschaft über den besten Umgang mit Apartheid, Siedlerkolonialismus, ethnischer Säuberung und Völkermord. Diese sozialen Risse sind nicht neu, haben sich aber in den letzten Monaten verschärft. Wenn wir sie nicht verstehen, könnten wir zu falschen Schlussfolgerungen gelangen.

Zum Beispiel führen einige Gefährt:­innen die Proteste gegen Netanjahu als Beweis dafür an, dass viele Israelis gegen das Regime sind, um ihn unter Druck zu setzen, einen Waffenstillstand zu akzeptieren und ein Abkommen mit dem Widerstand zur Freilassung der Geiseln zu schließen. Einige Leute stellen dies sogar als eine Massen-Antikriegsbewegung dar. Das ist nicht korrekt. Es passt in das anarchistische Narrativ, weil wir es gewohnt sind, auf der Unterscheidung zwischen Menschen und Staaten zu bestehen, und viele Israelis sind wirklich gegen Netanjahu. Aber die Unterstützung für den Völkermord ist in verschiedenen politischen Lagern überwältigend.

Ein riesiges Schild mit Neonlichtern über den Demonstrant:­innen in Tel Aviv sagt alles: „Bringt sie zurück (die Geiseln) und geht zurück (nach Gaza).“ Dies ist ein dreister Vorschlag, die Kämpfe wieder aufzunehmen, sobald die israelischen Gefangenen freigelassen werden. Dies repräsentiert nicht unbedingt alle Tausenden von Teilnehmern, aber es zeigt die zionistische Logik dieser Demonstrationen – eine weitere Manifestation der jüdischen Vorherrschaft, vielleicht ihres liberalen Lagers, aber dennoch gibt es dort keine Sorge um das Leben der Palästinenser. Es gibt in Israel ehrliche, aufrichtige, antizionistische Stimmen, die dazu aufrufen, den Völkermord zu beenden, und sie veranstalten hin und wieder kleine Demonstrationen, die oft von der Polizei unterdrückt und von Faschisten angegriffen werden. Sie sind eine winzige, verhasste und unbedeutende Minderheit, die keine Hoffnung hat, in naher Zukunft zu einer politischen Massenkraft zu werden.

Die unbequeme Wahrheit ist, dass die israelische Gesellschaft, wenn es darum geht, ein Massaker zu begehen, alle kleinlichen Streitigkeiten beiseitelegt, aufhört, sich als Zivilgesellschaft in einem „demokratischen Staat“ auszugeben, und sich für diese Aufgabe zusammenschließt. Dann zeigt sich, was Israel in Wirklichkeit ist: eine riesige Militärbasis. Es gibt keine Massenopposition gegen Völkermord. Die massenhaften Proteste gegen die Justizreform hörten nach dem Schock vom 7. Oktober für einige Monate auf und tauchten dann in Form von Protesten für die Freilassung von Geiseln wieder auf, wodurch die Diskussion über den Umgang mit Völkermord wieder in Gang kam. Alle Drohungen der Reservist:­innen, den Dienst zu verweigern, endeten nach dem 7. Oktober 2023; sie hatten nie wirklich vor, sie wahr zu machen. Aufstände und Proteste in Israel sind immer auf enge zionistische Narrative beschränkt, die explizit festlegen, was akzeptabel ist und was nicht. Der faschistische und der liberale Flügel des Zionismus mögen es unterschiedlich ausdrücken, aber die jüdische Vorherrschaft und die vollständige Entmenschlichung der Palästinenser sind der rote Faden.

Die Situation war bereits schlecht, aber die radikale Linke ist seit dem 7. Oktober deutlich geschrumpft. Die Angriffe haben die israelische Gesellschaft bis ins Mark erschüttert, Ängste unter den Siedler:­innen geweckt und viele „Linke“ in die warme Umarmung der jüdischen Vorherrschaft gedrängt. Wir können davon ausgehen, dass dies so weitergeht. Der Grund dafür ist, dass die „israelische Linke“ überwiegend von der Vorstellung geprägt ist, dass „das Ende der Besatzung“ (Entkolonialisierung) bedeuten würde, dass sie ihren bequemen Siedler-Lebensstil ohne Schuldgefühle fortsetzen könnten. Eine der Hauptbotschaften des Anti-Besetzungs-Blocks während der Massenbewegung gegen die bis zum 7. Oktober bestehende Justizreform war beispielsweise, dass „die Besatzung“ (was in der Regel die Besatzung von 1967 bedeutet) ein „Hindernis für die israelische Demokratie“ sei, und wenn wir uns nur darum kümmern könnten, wäre der Rest in Ordnung. Es ist nicht einfach, jemanden zu finden, der das gesamte israelische Regime als illegitim ansieht, der erkennt, dass die Besatzung 1948 und nicht 1967 begann, dass das Land vom Fluss bis zum Meer gestohlen wurde und dass Entkolonialisierung die radikale Umgestaltung der Machtverhältnisse bedeutet.

Alfredo Bonanno sagte: „Die ideale Lösung wäre, zumindest aus Sicht all derer, denen die Freiheit der Völker am Herzen liegt, ein allgemeiner Aufstand. Mit anderen Worten, eine Intifada, die vom israelischen Volk ausgeht und in der Lage ist, die Institutionen, die es regieren, zu zerstören.“ Ich mag Bonanno und finde die meisten seiner Beobachtungen brillant, aber diese spezielle Analyse entspricht nicht der Realität vor Ort. Sie steht in einer langen Tradition westlicher Denker:­innen, die sich auf die Siedlergesellschaft konzentrieren, als ob sie ein sinnvolles Mittel für Veränderungen sein könnte. Ich bin da ganz anderer Meinung. Es gibt keinen historischen Präzedenzfall für Gesellschaften von Siedler:­innen oder Sklavenhalter:­innen, die gegen ihre eigenen Privilegien rebellieren, und ich glaube nicht, dass Palästina das erste Land wäre, das sich von diesem Kurs abwendet.

Es gibt siedlerkoloniale Gesellschaften wie die USA, die es nach einer langen Entwicklung geschafft haben, eine stolze Tradition von Volksverräter:­innen zu entwickeln. Wir haben das während des George-Floyd-Aufstands gesehen; Französisch-Algerien ist ein weiteres Beispiel. Ich glaube, dass dies theoretisch für die Siedlergesellschaft in Palästina möglich ist, vielleicht irgendwann in der Zukunft, aber wahrscheinlich nicht jetzt. Einige Israelis gingen weit über die „israelische Linke“ hinaus und verrieten „ihre“ Gesellschaft vollständig, wechselten die Seiten und schlossen sich dem palästinensischen Volkskampf unter palästinensischen Bedingungen und unter palästinensischer Führung an. Einige schlossen sich sogar dem bewaffneten Kampf an. Das sind sehr wenige, die bei weitem kein bedeutendes Phänomen in der israelischen Gesellschaft darstellen.

Wer sich mit den wenigen antizionistischen Israelis solidarisieren möchte, sollte dies tun. Es ist eine gute Sache und sie würden es zu schätzen wissen. Aber ehrlich gesagt ist die Unterstützung des palästinensischen Widerstands im Moment viel wichtiger. Wir sollten uns dem Widerstand gegen die Gewalt des Siedlerkolonialismus und des Völkermords anschließen.

Das mag unbequem sein, aber wir müssen dieses Gespräch führen. Niemand muss mir zustimmen, ich spreche aus meiner eigenen Perspektive und unter meinen eigenen Bedingungen, und dies kann als mein Versuch gesehen werden, an mein Ursprungslager, die antizionistische israelische radikale Linke, zu appellieren. Meiner Meinung nach ist die „israelische Linke“ eine Sackgasse. Ich habe keinen Grund, an den Absichten vieler meiner ehemaligen und derzeitigen Gefährt:­innen im „Anti-Besetzungsblock“ und „radikalen Block“ in Tel Aviv und anderen Städten zu zweifeln. Sie sind ehrliche, mutige, rebellische Seelen; viele von ihnen kämpfen wirklich für das Leben der Palästinenser und für ein Ende des Völkermords.

Aber diejenigen, denen es gelungen ist, dem Kult des Zionismus zu entkommen, müssen jetzt einen weiteren Schritt nach vorne machen. Ihnen möchte ich sagen, dass wir aufhören müssen, uns als Akteure innerhalb der israelischen Gesellschaft zu sehen, die versuchen, sie zu verbessern oder zu reformieren, um sie vor sich selbst zu retten. Es wäre besser, Al-Araj’s Rahmen des Befreiungslagers gegen das Koloniallager4 und Fanons Verständnis der Übernahme der Widerstandsidentität als politische Entscheidung und nicht als Frage der Ethnie oder Herkunft zu übernehmen und daran zu arbeiten, die Siedleridentität vollständig abzulegen.

Das ist es, wozu die Palästinenser uns seit Jahren aufrufen. Eine kranke Gesellschaft kann nicht reformiert werden; es wird nicht funktionieren, an die Interessen eines Systems zu appellieren, das bis ins Mark verfault ist. Es gab in der Geschichte dieses Staates seit seiner Gründung keine einzige Sekunde, die nicht auf intensiver Gewalt und völliger Entmenschlichung beruhte. Dies ist ein Aufruf zur Desertion, zum vollständigen (Volks-)Verrat, zum Seitenwechsel, mit allen Risiken, Repressionen, Folter und Tod, die damit verbunden sein könnten. Das ist nicht einfach, aber wir können auf eine reiche globale Geschichte zurückgreifen. Wir können uns an John Brown und seine Miliz erinnern oder an die Franzosen in Algerien, die die Seiten wechselten und sich der FLN (Front de Libération Nationale, „Nationale Befreiungsfront“) anschlossen. Diese Menschen verstanden an entscheidenden historischen Wendepunkten, dass es, entgegen dem, was liberale Interpretationen der „Identitätspolitik“ uns sagen, bei einem Aufruf zur Revolution nicht darum geht, ein:e passive:r „Verbündete“ zu sein oder seine:ihr Privilegien zu überprüfen, sondern sich in den Kampf zu stürzen. Identität wird zu einer politischen Entscheidung, die auf Handlungen und nicht auf Herkunft basiert.

„Der Siedler ist nicht einfach der Mann, der getötet werden muss. Viele Mitglieder der Masse der Kolonialisten erweisen sich als viel, viel näher am nationalen Kampf als bestimmte Söhne der Nation.“

Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde

Die Ängste vor der Entkolonialisierung kommen nicht von ungefähr. Uns wird nichts versprochen. Ehrlich gesagt, nicht einmal die Befreiung selbst. Einige Kolonialprojekte endeten einigermaßen friedlich, mit einem Regimewechsel und Versöhnungsausschüssen, wie in Südafrika; andere endeten in einem Blutbad, wie in Algerien. Selbst das libertäre, konföderalistische Beispiel von Rojava war kein reibungsloser Prozess. In keinem dieser Fälle verlief alles reibungslos. Befreiung ist im wirklichen Leben immer ein chaotischer und blutiger Prozess.

Eve Tuck und K. Wayne Yang erklären in ihrem Essay „Entkolonialisierung ist keine Metapher“, dass Entkolonialisierung nicht mit anderen Kämpfen für soziale Gerechtigkeit vergleichbar ist – sie soll beunruhigend sein, da sie den Siedler:­innen – einschließlich der Arbeiter – zweifellos ihre gestohlenen Ressourcen entziehen würde. Wir müssen ehrlich sein, was wir sagen. Zum Beispiel in der Debatte über den Ausdruck „vom Fluss zum Meer“, darüber, ob er Demokratie oder die Abschaffung Israels bedeutet – die einfache Antwort ist, dass er beides bedeutet. Eine Entkolonialisierung unter palästinensischen Bedingungen – die Abschaffung des Zionismus, die Rückkehr der Flüchtlinge, das Ende der Militärherrschaft und gleiche Bürgerrechte – bedeutet, dass Palästina wieder zu dem wird, was es vor der zionistischen Kolonialisierung war, ein mehrheitlich arabisches Land. Ich glaube, dass jüdische Menschen willkommen wären, zu bleiben – diejenigen, die bereit sind, gleichberechtigt mit dem Rest der Bevölkerung auf dem Land zu leben, ohne ein rassistisches System der Segregation und Privilegien aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit.

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Was den Klassenreduktionismus betrifft, so gibt es keine materielle Grundlage für eine „Klassensolidarität“ zwischen „Palästinensern und Israelis“. Im Siedlerkolonialismus handelt es sich nicht um dieselbe Klasse. Jüd:­innen und Araber:­innen sind nicht gleich, nicht einmal, wenn sie am selben Arbeitsplatz arbeiten. Wie Frantz Fanon feststellte, ist in einem kolonialen Kontext die nationale Unterdrückung primär und die Klassenunterdrückung sekundär. Siedlerkolonien beuten nicht einfach die Arbeitskraft der Kolonisierten oder die Landressourcen der Kolonie aus, wie andere Arten des Kolonialismus; sie basieren auf der vollständigen Auslöschung der Kolonisierten durch ethnische Säuberung, Völkermord oder beides.

Laut dem Historiker Ilan Pappe erfordert der Zionismus, wie jede andere Siedlerkolonialbewegung auch, die Vernichtung oder Vertreibung der einheimischen Bevölkerung, um erfolgreich zu sein. Viele solcher Bewegungen setzten sich aus europäischen Flüchtlingen zusammen, die vor Ausgrenzung und Verfolgung flohen und nach einem Ort suchten, an dem sie ihr eigenes neues Europa aufbauen konnten. Indigene Bevölkerungsgruppen stellen für solche utopischen Visionen immer ein Hindernis dar, und so besteht die Lösung in der Regel in einer massiven Kampagne von Völkermord und ethnischer Säuberung. Ähnliche Siedlerkolonialprojekte wie die der USA, Australiens, Südafrikas und Kanadas fanden oft auch eine religiöse Rechtfertigung für die Besiedlung, nutzten eine Supermacht, um in einem fremden Land Fuß zu fassen, und suchten dann nach Wegen, sowohl das Imperium, das ihnen half, als auch die Mehrheit der indigenen Bevölkerung loszuwerden.

Israel hat ziemlich deutlich gemacht, dass es, wo immer es massive ethnische Säuberungen durchführte, wie 1948 oder während des aktuellen Völkermords in Gaza, nicht das palästinensische Proletariat, sondern die Palästinenser als Volk ins Visier nimmt. Alle Klassen und sozialen Gruppen sind ein Ziel.

Wenn selbst Marx erkannte, dass der Kampf für den Achtstundentag in den USA nicht wirklich vor der Abschaffung der Sklaverei beginnen konnte, sollten die heutigen westlichen Linken in der Lage sein, die gleichen Schlussfolgerungen in Bezug auf Siedlerkolonialismus und Apartheid zu ziehen. Wenn wir eine sinnvolle Basis in der Solidaritätsbewegung haben wollen, müssen wir anerkennen, dass einige Themen nicht auf die Klasse reduziert werden können.

Diesen Fehler haben Revolutionäre schon früher gemacht. Viele männliche Anarchisten in der CNT (Federación Anarquista Ibérica, „National Confederation of Labor“) während der Spanischen Revolution lehnten die Frauenorganisation Mujeres Libres („Freie Frauen“) ab und erklärten, dass die Unterdrückung der Geschlechter dem Klassenkampf untergeordnet sei und dass die Revolution sie auf jeden Fall lösen würde. Heute wissen wir, dass der Sturz des Kapitalismus nicht einfach das Patriarchat abschaffen wird. Wir könnten eine klassenlose Gesellschaft schaffen, die immer noch sexistisch und unterdrückend gegenüber Frauen und anderen Geschlechtern wäre. Einige Linke sehen in der Kibbuz-Bewegung ein Beispiel für libertäre sozialistische Gesellschaften und ignorieren dabei die Tatsache, dass die Kibbuzim ein rassistisches und kolonialistisches Projekt nur für Jüd:­innen sind, das im Kontext des zionistischen Landraubs errichtet wurde, oft auf den Ruinen von Dörfern, die ethnisch gesäubert wurden. Ohne eine angemessene Analyse des Siedlerkolonialismus und ein Verständnis der nationalen Unterdrückung als eigenständiges Problem wird jedes Verständnis der Situation in Palästina ein unbeholfener Versuch bleiben, fremde Weltanschauungen und Lösungen in Regionen mit radikal anderen Problemen zu importieren.

Neben dem Engagement für die Befreiung Palästinas möchte ich den Gefährt:­innen vorschlagen, sich auch von Palästina befreien zu lassen. Es kann in beide Richtungen funktionieren. Nimm nicht nur an der Bewegung teil, um zu predigen, sondern auch, um zuzuhören. Wir sollten unsere Perspektiven und Kritik nicht aufgeben, aber wir müssen diese Gelegenheit nutzen, um uns zu bereichern und unseren Horizont zu erweitern, indem wir von anderen Befreiungskämpfen lernen, anstatt einfach zu versuchen, ihnen unsere vorgefassten Meinungen aufzuzwingen. Ich würde gerne mit meinen palästinensischen Gefährt:­innen über sensible Themen diskutieren, wie z. B. die Abhängigkeit des bewaffneten Widerstands von reaktionären Elementen wie dem Iran und Assads Syrien5. Aber ich muss dazu in der Lage sein, dies als Genosse zu tun, aus dem Inneren des Kampfes heraus, nachdem ich vertrauensvolle Beziehungen aufgebaut und eine palästinensische Weltanschauung akzeptiert habe, und nicht als nerviger linker Kritiker:­innen von außen. Wenn wir nur Zeit mit Gleichgesinnten verbringen, wird sich das zeigen und ein schlechtes Licht auf uns werfen. Die Menschen bemerken das, und es wird das Vertrauensverhältnis sabotieren, das wir innerhalb der Bewegung aufzubauen versuchen.

Im Zeitalter des Völkermords

Die koloniale Weltordnung hat die Welt in einen „zivilisierten“ Teil, den undurchdringlichen globalen Norden, in dem die liberale Demokratie vorherrscht, und riesige Völkermordgebiete unterteilt, die mit einer Überbevölkerung gefüllt sind, die ausgerottet, versklavt, ihrer Ressourcen beraubt und vergessen werden soll. In einem siedlerkolonialen Kontext findet dieser Prozess auf demselben Gebiet statt, ohne die geografische Distanz zwischen der Kolonie und der Metropole. Es werden Ghettos, belagerte Städte, Militärherrschaft und ein System der ethnischen Segregation errichtet, das die Kolonisierten in mehrere Klassen von Unterdrückten unterteilt, mentale Barrieren aufbaut, wo keine physischen vorhanden sind, und dafür sorgt, dass sich Einheimische und Siedler:­innen nicht vermischen.

Es gibt mehrere Möglichkeiten, wie die koloniale Ordnung aus dem Gleichgewicht geraten kann. Eine Möglichkeit ist der Faschismus, bei dem die kolonialen Praktiken nach innen, in die Metropole gebracht werden. In diesem Fall werden völkermörderische und rassistische Praktiken, die zuvor der überschüssigen Bevölkerung in den Kolonien vorbehalten waren, gegen unerwünschte Bevölkerungsgruppen im eigenen Land eingesetzt. Aber die koloniale Ordnung kann auch durch Aufstände aus dem Gleichgewicht geraten. Die Einheimischen, die sich weigern, auf ihren Platz beschränkt zu werden, brechen die angeblich undurchdringliche Festung der Kolonie auf – die sich als sehr durchlässig erweist – und, wie Fanon es ausdrückte, strömen sie in die verbotenen Städte und nehmen alles mit, was ihnen in die Quere kommt.

Israel versuchte jahrzehntelang, eine Bevölkerung aus verwestlichten, liberalen demokratischen Siedler:­innen zu erhalten, die ihre Heimat (Europa) in der Fremde erlebten, nachdem ihre ursprüngliche Heimat für sie zu gefährlich geworden war. Andere, nicht-europäische Jüd:­innen waren willkommen, sich ihnen anzuschließen, solange sie Jüd:­innen waren und die westliche Hegemonie akzeptierten. Es wurden Betonmauern, isolierte Ghettos und mentale Barrieren errichtet, um die Siedlergesellschaft von der brutalen täglichen Gewalt zu trennen, die zur Aufrechterhaltung dieser Ordnung notwendig war. Es gibt nicht nur einen Weg, dies zu erreichen. Zu den Strategien gehören die kulturelle Auslöschung (z. B. werden Palästinenser mit Staatsbürgerschaft zu „israelischen Araber:­innen“), massive ethnische Säuberungskampagnen, wenn möglich (wie 1948), und wenn nicht, dann kleine, wie die Judaisierung6 von Galiläa, der Naqab und Stadtvierteln in Jerusalem, Jaffa und Haifa7; Militärherrschaft8; Konfliktmanagement, strikte Volkstrennung und Aufstandsbekämpfung, wie in den Oslo-Abkommen, der Trennmauer im Westjordanland und der Belagerung des Gazastreifens zu sehen ist; und Völkermord. Heute scheint zumindest das Konfliktmanagement gescheitert zu sein.

Israel wurde in den letzten Jahren mehr als einmal gedemütigt. Der Staat verlor während des Aufstands von 2021 und erneut am 7. Oktober 2023 die Kontrolle. Die Palästinenser haben immer wieder bewiesen, dass sie eine unkontrollierbare Kraft sind, die in der Lage ist, eine nukleare Supermacht zu bedrohen, die vom stärksten Imperium der Welt unterstützt wird, obwohl dieses Imperium Milliarden von Dollar in Sicherheitsapparate, Aufstandsbekämpfung und fortschrittliche Technologie investiert. Die Israelis haben bemerkt, dass der Staat trotz seiner gewaltigen Macht nicht in der Lage ist, Sicherheit zu gewährleisten, und sie beginnen in Panik zu geraten. Wir können davon ausgehen, dass die Strafe für die Rebellion jedes Mal härter ausfallen wird, wenn der Druck von schockierten Israelis und den internationalen Mächten wächst, die rebellischen Palästinenser unter Kontrolle zu halten.

Es ist durchaus möglich, dass sich die Bereiche des Genozids im Laufe der Zeit ausdehnen und mehr Menschen als überschüssige Bevölkerung behandelt werden. Es gibt keine Garantie dafür, dass wir, die privilegierten Bürger:­innen der Zivilisation, uns nicht irgendwann auf der falschen Seite dieser Mauer wiederfinden. Rassistisch diskriminierte Minderheiten wissen das bereits, und was den Rest von uns betrifft – wir sollten uns nicht auf unsere weiße Hautfarbe verlassen, wie Jüd:­innen während des Zweiten Weltkriegs herausfanden, wie Iren unter britischer Besatzung erlebten und wie Ukrainer heute herausfinden. So wie Weißsein zugeschrieben werden kann, kann es auch weggenommen werden.

Wann immer ein Imperium eine neue Bevölkerungsgruppe als überflüssige Bevölkerung brandmarkt, verschieben sich die Grenzen der „Zivilisation“. Je mehr es ihnen gelingt, einen wachsenden Teil der Weltbevölkerung in einer lebendigen Hölle gefangen zu halten, desto düsterer und ungewisser wird unsere eigene Zukunft. Je mehr es ihnen gelingt, den Aufstand der Unerwünschten zu unterdrücken, desto mehr wird ihr Erfolg andere Imperien und konkurrierende Weltordnungen beeinflussen. So wie wir uns von jedem Sklavenaufstand und Ghettoaufstand inspirieren lassen, nehmen auch die Regime gegenseitig Notiz und Inspiration, wenn es um Unterdrückung geht. Wir sind alle tief miteinander verbunden.

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Was sollen wir tun, diejenigen von uns, die in dieser oder jener Entität leben, Bürger:­innen des globalen Nordens, ob als Siedler:­innen in der Kolonie oder im imperialen Kern? Das ist für mich schwer zu sagen. Ist es fair, wenn ich mich für Dinge einsetze, die ich selbst nicht tue, da ich im besetzten Landesinneren lebe, das, wie gesagt, im Moment nicht offen rebelliert? Wir sehen die Notwendigkeit eines Aufstands, aber unsere Gemeinden sind am Boden zerstört und zerbrochen, die Menschen sind gelähmt und die Wunden der letzten Repressionsrunde sind noch nicht verheilt. Ich kann niemandem sagen, was er tun soll. Ich kann nur meine Sichtweise darlegen. Es liegt an euch, eure Bedingungen zu analysieren und zu sehen, was passt.

Gefährt:­innen haben im imperialen Kern des sogenannten Nordamerika einen erstaunlichen und inspirierenden Widerstand geleistet. Gefährt:­innen in Europa ebenfalls. Sabotage, Hafenblockaden, Demonstrationen, Campusbesetzungen – all dies ist sinnvoll, und einige haben bedeutende Erfolge erzielt. Ich möchte nicht behaupten, wie es einige tun, dass diese Aktionen bisher nichts bewirkt haben. Wir wissen nicht, wie der Zustand des Gazastreifens jetzt wäre, wenn es diese mutigen Aktionen nicht gegeben hätte. Der Aufbau von Bewegungen ist an sich schon wichtig. Eine ganz neue Generation wurde politisiert und radikalisiert, und sie wird die Kämpfe weiterführen.

Eines ist jedoch sicher: Wir haben den Völkermord nicht aufgehalten.

Wir müssen uns konzentrieren. Der Völkermord dauert seit einem Jahr an und es gibt derzeit keine Anzeichen dafür, dass er sich verlangsamt oder auf Gaza beschränkt bleibt. Ich glaube, dass es jetzt an der Zeit ist, zu eskalieren. Die Auswirkungen sind enorm. Derzeit ist Israel entschlossen, einen Krieg mit dem Libanon und vielleicht auch mit dem Iran zu führen. Das Worst-Case-Szenario scheint sich zu entfalten. Dadurch wird die Situation noch mehr außer Kontrolle geraten; es könnte zu einem ausgewachsenen regionalen Krieg mit einer unvorstellbaren Menge an Toten und Zerstörung kommen. Wir stehen einer völlig psychotischen Weltordnung gegenüber, die darauf aus ist, alles, was ihr im Weg steht, maximal zu zerstören. Wir können nicht nur passive Zuschauer bleiben. Wir sind involviert und was passiert, wird auf uns zurückfallen.

Wie es aussieht, haben Gefährt:­innen in den USA im Laufe der Universitätsbesetzungen im letzten Semester viele aufständische Elemente entwickelt, die es weiterzuentwickeln und auszubauen gilt. Sie standen auch vielen Polizist:­innen gegenüber – einige in Uniform, andere getarnt innerhalb der Bewegung, wie Liberale, Pazifist:­innen, professionelle „Aktivist:­innen“ und Reformist:­innen. Die Menschen müssen Wege finden, mit ihnen umzugehen. Lasst euch nicht auf Taktiken zur Aufstandsbekämpfung ein, die darauf abzielen, euch zu befrieden, die Bewegung zu spalten und zu fragmentieren, für euch zu definieren, was „akzeptabel“ und „legitim“ ist, oder die Grenzen des Protests abzustecken. Seid mutig, unkontrollierbar und unregierbar. Den Rest müsst ihr selbst analysieren, was die Taktiken angeht, aber lasst euch von niemandem einschränken.

Und: Ignoriert Verleumdungskampagnen. Sie werden vielleicht lauter, wenn die Bewegung erfolgreicher wird. Ich habe bereits gesehen, wie zionistische Medien und Propaganda die Proteste als „antisemitische Pogrome“ darstellten. Ich sollte keinen einzigen Moment damit verbringen müssen, zu erklären, wie lächerlich das ist.

Besetzte Columbia University of New York, durch die Besetzer:­innen in Hinds Hall umbenannte Hamilton Hall. Foto: Screenshot aus Telegram Kanal Columbia Encampment.

Wir alle wissen, dass die Repressionsbehörden Israels und der USA gemeinsam trainieren und Tipps, Werkzeuge und Taktiken austauschen, wie man Bevölkerungen und Freiheitsbewegungen unterdrücken kann. Dies sollte jeden beunruhigen, der sich für lokale Anliegen einsetzt, wie z. B. Stop Cop City, Black Lives Matter, Solidarität mit den Ureinwohnern und Unterstützung für Migrant:­innen und Flüchtlinge. Wir wissen auch, dass Israel Waffen und repressive Technologien in alle Welt exportiert. KI-Tools werden entwickelt und eingesetzt, um die Identifizierung und Tötung von „Verdächtigen“ zu automatisieren. Und wir wissen, dass es auch andersherum geht – Israel bombardiert Gaza (und jetzt auch den Libanon) mit US-Waffen und voller Unterstützung. Dies ist ebenso sehr ein amerikanischer (und europäischer) Krieg wie ein israelischer. Der imperialistische Kern des globalen Nordens ist absolut involviert und ein kriegerischer Teil der Aggression, und das macht auch seine Bürger zu einem aktiven Teil.

Es ist nicht ganz so einfach, sich dem bewaffneten Kampf vor Ort anzuschließen, wie es in Rojava oder der Ukraine möglich ist, aber das ist auch nicht nötig. Menschen können nach Palästina kommen, um sich dem Volkskampf anzuschließen, wie es mutige amerikanische und europäische Bürger:­innen bereits getan haben; einige von ihnen sind bereits selbst zu Märtyrern geworden. Das hilft, aber der Widerstand verlangt noch etwas anderes: Verwandel dein eigenen Städte im imperialen Kern in ein Schlachtfeld. Bring den Krieg nach Hause. Eröffne eine weitere Front. Schließe dich dem Befreiungslager an, wie Al-Araj es ausdrückt, und rebelliere gegen die Weltordnung, die dies zugelassen hat. Du muss die Konsequenzen spüren. Ich glaube, dass ein Aufstand immer noch möglich ist, auch hier im Landesinneren, aber dafür müssen wir mutig sein, so wie es die Menschen in Gaza sind.

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Eine letzte Frage möchte ich noch stellen: Während ich diesen Artikel schrieb, eskalierten die Kämpfe an den Fronten im Libanon, im Iran und anderswo erheblich. Wenn anderswo ein ausgewachsener Krieg ausbricht, wird sich die Aufmerksamkeit der Welt verlagern und Gaza könnte in Vergessenheit geraten. Die Menschen sollten auch für das Leben der libanesischen Bevölkerung kämpfen, aber sie sollten nicht aufhören, über Gaza zu sprechen und sich für die Menschen dort einzusetzen. Der Völkermord dort ist noch nicht vorbei. Er könnte sich sogar beschleunigen, sobald die Aufmerksamkeit von ihm ablässt.

Erhebt eure Stimme, hisst die Flagge der Revolution.

Keine Stimme ist lauter als die Stimme des Aufstands.

„Wenn ich sterben muss,
musst du leben
um meine Geschichte zu erzählen
um meine Sachen zu verkaufen
um ein Stück Stoff zu kaufen
und ein paar Schnüre,
(mach es weiß mit einem langen Schwanz)
damit ein Kind, irgendwo in Gaza
während es in den Himmel schaut
und auf seinen Vater wartet, der in einem Feuerwerk gegangen ist –
und niemandem Lebewohl gesagt hat
nicht einmal seinem Fleisch

nicht einmal sich selbst –
den Drachen, meinen Drachen, den du gemacht hast, über den Himmel fliegen sieht
und für einen Moment denkt, dass ein Engel da ist
und die Liebe zurückbringt
Wenn ich sterben muss
soll er Hoffnung bringen
soll er eine Geschichte sein.“

-Refaat Alareer, (1979-2023), Schriftsteller und Dichter. Am 6. Dezember 2023 wurde er zusammen mit seinem Bruder, seiner Schwester und ihren Kindern bei einem israelischen Luftangriff in Gaza ermordet.

Literaturverzeichnis


Translation courtesy of Thomas Trueten, edited by Scrappy Capy Distro.

  1. Nach offiziellen Statistiken des Gesundheitsministeriums von Gaza. Zusätzlich zu dieser Zahl werden mehr als 10.000 Menschen vermisst, und es ist nicht bekannt, wie viele noch unter den Trümmern begraben sind. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass Israel das Gesundheitssystem von Gaza systematisch zerstört und es fast zum Zusammenbruch gebracht hat, und seitdem stagnieren die Zahlen bei etwa 40.000. Andere Schätzungen gehen von einer viel höheren Zahl aus. 

  2. Übersetzt von Resistance News Network. 

  3. Diese Front ist eskaliert und derzeit ist die Zukunft der Menschen im Libanon ungewiss. Am 23. September wurden bei einem Angriff der israelischen Streitkräfte auf den Libanon mindestens 570 Menschen getötet. Am 27. September wurde Hassan Nasrallah, der Anführer der Hisbollah, ermordet und Millionen Menschen im Libanon wurden aus ihren Häusern vertrieben. Jetzt marschiert Israel im Südlibanon ein. 

  4. „Ich sehe dies nicht mehr als einen Konflikt zwischen Arabern und Juden, zwischen Israelis und Palästinensern. Ich habe diese Dualität, diese naive Vereinfachung des Konflikts aufgegeben. Ich bin von Ali Shariatis und Frantz Fanons Aufteilung der Welt (in ein Koloniallager und ein Befreiungslager) überzeugt. In jedem der beiden Lager findet man Menschen aller Religionen, Sprachen, Rassen, Ethnien, Hautfarben und Klassen. In diesem Konflikt findet man beispielsweise Menschen unserer eigenen Hautfarbe, die unhöflich im anderen Lager stehen, und gleichzeitig findet man Jüd:­innen, die in unserem Lager stehen.“ –Bassel Al-Araj 

  5. Dies ist ein heikles Thema. Die Hamas unterstützte 2012 zunächst die syrische Revolution und brach die Beziehungen zum syrischen Präsidenten Baschar al-Assad ab. Durch diesen Schritt wurde die finanzielle Unterstützung, die die Bewegung vom Iran erhielt, eingestellt. Ein Jahrzehnt später stellte die Hamas in einer umstrittenen Erklärung die Beziehungen zu Assad wieder her. Das politische Chaos und die wechselnden Bündnisse im Nahen Osten während des Arabischen Frühlings, der Militärputsch gegen Mohamed Morsi in Ägypten und die Schließung der Tunnel im Gazastreifen auf ägyptischer Seite sowie die Normalisierungspakte zwischen verschiedenen lokalen Regimen und Israel trugen alle dazu bei, die Hamas zu isolieren und sie zu zwingen, „sich für eine Seite zu entscheiden“. Ich bin der Meinung, dass Anarchist:­innen und Antiautoritäre im Westen die Entscheidung der Menschen in Rojava, amerikanische Hilfe anzunehmen, während sie in Kobane der völkermörderischen Armee des IS gegenüberstanden, nachvollziehen können. Man kann auch die Entscheidungen der Palästinenser unter schwierigen Bedingungen verstehen. Solange wir keine Internationale der Befreiung aufgebaut haben, die den Kämpfen vor Ort tatsächlich materielle Unterstützung bieten kann, werden wir die Entscheidungen derer, die von der Vernichtung bedroht sind und sich zwischen konkurrierenden Imperien und regionalen Ordnungen befinden, nur begrenzt kritisieren können. Das bedeutet nicht, dass wir überhaupt keine Kritik üben sollten, aber wir sollten dies zumindest nuanciert und kontextbezogen tun. 

  6. Dies ist der offizielle israelische Begriff

  7. Im neoliberalen globalen Kapitalismus können ethnische Säuberungen auch privatisiert werden. Judaisierungsversuche können von Siedlerorganisationen oder Immobilienmaklern durchgeführt werden, wodurch das Problem als einfacher Immobilienstreit dargestellt werden kann. Die Beteiligung amerikanischer Siedlerorganisationen an den Versuchen, palästinensische Bewohner:­innen aus Ostjerusalem zu vertreiben, und die Gentrifizierung in Jaffa und bestimmten Stadtvierteln in Haifa sind untrennbar mit jahrzehntelangen ethnischen Säuberungskampagnen verbunden, die sich unter verschiedenen Gesichtspunkten verbergen, da sich Kolonialsysteme an neue Möglichkeiten und Umstände anpassen. 

  8. Es gab nur ein halbes Jahr, 1966, in dem Israel den Palästinensern keine Militärherrschaft auferlegte. Die internen Gemeinschaften entwurzelter Menschen innerhalb des späteren Israels standen bis 1966 unter Militärherrschaft; dann besetzte Israel ein Jahr später das Westjordanland und den Gazastreifen und verhängte dort die Militärherrschaft.