Russische Anarchist*innen über die Meuterei von Wagner

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Statements von drei anarchistischen Organisationen

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Am frühen Morgen des 24. Juni wandte sich Wladimir Putin an Russland und sagte, dass die Rebellion von Jewgeni Prigoschin »das Land in Richtung Anarchie und Brudermord treibt«.

Dies ist ein falscher Gebrauch von Worten. Der Geschwister-Mord ist unter Putin schon lange die Regel. Die Folterung und Ermordung von Dissident*innen war Geschwister-Mord. Die Invasion der Ukraine war ein Geschwister-Mord. Sowohl der Wagner-Konzern als auch das russische Militär sind seit langem in Geschwister-Mord verwickelt. Anarchie ist das Gegenteil von Mord: Sie ist der Zustand, der eintritt, wenn die Menschen nicht miteinander konkurrieren, um sich gegenseitig zu beherrschen. Totalitarismus führt immer zu blutigen Auseinandersetzungen um die Macht.

Wenn mensch sich die Situation in Russland ansieht, kann mensch nicht umhin, an den Bürger*innenkrieg zu denken, der Anfang dieses Jahres im Sudan zwischen der Armee und den Rapid Support Forces ausgebrochen ist. In dem Bestreben, mächtige soziale Befreiungsbewegungen zu unterdrücken, rüstete die Regierung die Söldner der Rapid Support Forces aus, nur um am Ende mit ihnen um die Kontrolle des Landes zu kämpfen.

Diese Art von weit verbreiteter Gewalt ist das unvermeidliche Endergebnis der Militarisierung. Da sich Regierungen und Unternehmen bei der Unterdrückung sozialer Unruhen immer mehr auf rohe Gewalt verlassen und immer mehr Ressourcen für Polizei und private Sicherheitsdienste bereitstellen, schaffen sie die Voraussetzungen für schreckliche Bürger*innenkriege in immer größerem Ausmaß. Der Bürger*innenkrieg, der heute im Sudan und in Russland ausbricht, kann morgen auch anderswo ausbrechen, wenn es uns nicht gelingt, den Kurs unserer Gesellschaft im globalen Maßstab zu ändern.1

Wir haben hier in aller Eile zwei Erklärungen russischer anarchistischer Gruppen übersetzt. Bei beiden handelt es sich zwangsläufig um Untergrundgruppen: die eine hat ihren Sitz in Sibirien, die andere ist die Anarcho-Communist Combat Organization, die wir letztes Jahr interviewt haben.

Bewegung der Irkutsker Anarchist*innen

Auf Russisch hier veröffentlicht.

In der aktuellen Situation bezüglich der Wagner-Meuterei gibt es keine Seite, die wir wählen können, außer der unseren.

Das Gleiche gilt für den Großteil der Bevölkerung – weder das Putin-Regime noch diejenigen, die mit ihm um die Macht konkurrieren, werden im Interesse der gesamten Bevölkerung Russlands handeln.

Gegenwärtig müssen wir uns auf eine Vielzahl möglicher Ergebnisse einstellen. Es ist nicht auszuschließen, dass sich Selbstverteidigungsgruppen bilden, deren Hauptaufgabe in einem Bürger*innenkriegsszenario im Inneren des Landes darin bestehen könnte, die Sicherheit der Bevölkerung sowie die logistische Vernetzung für die Versorgung mit Lebensmitteln und lebensnotwendigen Gütern zu organisieren. Keine*r sollte den militärischen Söldnerverbänden und der russischen Armee schutzlos ausgeliefert sein, und eine der wichtigsten Waffen, die uns allen zur Verfügung stehen, sind Solidarität und gegenseitige Hilfe.

Gleichzeitig sollten wir darüber nachdenken, was zu tun ist, wenn die derzeitige Staatsgewalt in der Stadt Irkutsk oder in der gesamten Region Irkutsk zusammenbricht.

Wir plädieren für die Organisation von offenen Räten, Versammlungen und Foren zu allen wichtigen Fragen des öffentlichen Lebens, darunter Wirtschaft, Versorgung, Naturschutz, Menschenrechte, Selbstverteidigung, Bildung und städtische Dienstleistungen. In all diesen Strukturen möchten wir unabhängige Ausschüsse von Frauen und indigenen Bevölkerungsgruppen sehen2.

In der Zwischenzeit beobachten wir, wie sich die Situation entwickelt. Putin spricht bereits im Fernsehen und sagt, dass er die Zerstörung des Staatssystems und den Ausbruch der ›Anarchie‹ befürchtet! Als Anarchist*innen können wir sagen, dass der Diktator zu Recht Angst vor der Anarchie hat: Schließlich bedeutet dies, dass seine Macht und die Idee der ›russischen Welt‹ aufhören werden zu existieren, und dass stattdessen die Gesellschaft nach den Prinzipien der Selbstverwaltung, der Dezentralisierung und des Föderalismus zu funktionieren beginnt.

Wir glauben, dass die Anarchie in diesem Land noch in weiter Ferne liegt. Aber wir sind in der gegenwärtigen Situation nicht machtlos; wir können uns auf alles vorbereiten, was passieren könnte, und genau beobachten, ob es einen Moment geben wird, der für all diejenigen hier günstig ist, die sich nach Freiheit sehnen und des Putin-Regimes überdrüssig sind. Wir bitten alle, die dies in Erwägung ziehen, darüber nachzudenken, was sie in einem solchen Fall tun würden, und sich mit anderen zusammenzuschließen, denen mensch vertrauen und auf die mensch sich verlassen kann.

Das ist das Mindeste und Notwendigste, was im Moment getan werden kann.


Kampforganisation der Anarcho-Kommunist*innen

Veröffentlicht auf Russisch hier.

Wir sind tatsächlich in eine neue Phase dieser historischen Wende eingetreten. Es war schon lange klar, dass die Spitzen der Machtstruktur bald anfangen würden, sich gegenseitig zu zerfleischen; es war nur eine Frage der Zeit.

Die Hauptaufgabe der anarchistischen und befreienden Bewegungen in Russland und darüber hinaus besteht nun darin, die vorhandenen Kräfte zu bündeln, das Nötige zu beschaffen, den Augenblick zu analysieren, die zerbrochenen Kommunikationskanäle wiederherzustellen und zum Handeln bereit zu sein.

Wir machen uns nichts vor: der Beginn dieses Moments könnte einige Zeit dauern. Von der Februarrevolution (bei der die Generäle an der Absetzung des Zaren beteiligt waren) bis zur Oktoberrevolution vergingen neun Monate. Von der Kornilow-Rebellion bis zum Oktober zwei Monate.

Aber eines ist klar. Erstens: Der Zeitpunkt einer direkten bewaffneten Konfrontation ist näher als je zuvor. Zweitens: Weder das Putin-Regime noch Prigozhinsky sind unsere Freunde. In diesem Kampf zwischen zwei Kannibalen sollten sich Anarchist*innen fernhalten – sie sollen sich gegenseitig so weit wie möglich ausbluten lassen. Auf diese Weise können sie zukünftig weniger Schaden anrichten.

Aber diese Zeit des Wartens auf den richtigen Moment sollte zu unserem Vorteil genutzt werden. Und zwar die ganze Zeit, in jedem Moment – um sich vorzubereiten und die Bereitschaft zum Handeln zu erhöhen –, aber auch, um jeden Moment die Situation zu analysieren, um bereit zu sein, zu handeln und alles hinter sich zu lassen, selbst wenn die Bereitschaft unzureichend ist. Denn noch schlimmer als zu früh zu beginnen und dem Moment vorauseilend zu handeln, ist es, den Moment zu verschlafen, in dem mensch die Geschichte in die richtige Richtung lenken könnte.

Wir möchten auch etwas zu den Aufrufen sagen, gerade jetzt Melde- und Einberufungsbüros des Militärs und andere Regierungsgebäude anzugreifen.

Wir sind mit diesem Aufruf ganz und gar nicht einverstanden. In diesem Moment bereitet sich der Feind darauf vor, einen Angriff abzuwehren – nicht von Partisan*innen, sondern von bewaffneten Meuterern. Solche Objekte jetzt anzugreifen, bedeutet, seine Ressourcen zu vergeuden und die befestigten Festungen des Feindes praktisch mit bloßen Händen anzugreifen.

Der Guerilla muss dort zuschlagen, wo das Reich verwundbar ist, nicht dort, wo die Rüstung steht. Schlagt dort zu, wo der Feind nicht wartet. Deshalb ist es jetzt möglich, Objekte fernab von Städten anzugreifen. Der Feind hat seine Streitkräfte zur Verteidigung zusammengezogen? Das bedeutet, dass er die entfernten Grenzen und Zufahrtsstraßen freigelegt hat. Angriffe auf Gas- und Ölpipelines, Angriffe auf Eisenbahnstrecken, die zu Militäreinrichtungen führen (aber weit von ihnen entfernt sind), Angriffe auf Strom- und Wasserleitungen, die Polizei- und Militärstützpunkte versorgen. Aber nicht die Objekte selbst, wo der Feind lauert.

Oder, wenn das Risiko zu groß ist, nutzt diese Zeit, um euch auf einen bewaffneten Aufstand vorzubereiten.

Ein*e lebendige*r und kampfbereiter Partisan*in, der*die sich an künftigen Konfrontationen beteiligen kann, ist heute hundertmal wichtiger als ein*e Partisan*in, der eine improvisierte Bombe auf einen Polizisten geworfen hat oder von einem angespannten Polizisten erschossen wurde.

Und vergesst nicht das Regime der Terrorismusbekämpfung3 Selbst wenn ihr euch entschließt, nicht eine*n Polizist*in, sondern eine 5 km entfernte Stromleitung anzugreifen, steigt das Risiko, auf dem Weg dorthin erwischt zu werden, unter dem CTO-Regime um ein Vielfaches. Wägt vernünftig ab und geht keine unnötigen Risiken ein.


Avtonom / Autonome Aktion

Diese Erklärung erschien ursprünglich auf Russisch hier.

Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Erklärung können wir die Entwicklung der Ereignisse rund um die ›Wagner-Rebellion‹ noch nicht vollständig und auf längere Sicht vorhersagen. Aber wir können definitiv zwei scheinbar gegensätzliche Tendenzen erwarten: erstens eine zunehmende Repression gegen normale Bürger*innen, nicht nur durch staatliche Sicherheitskräfte, und zweitens gleichzeitig eine Zunahme des Chaos, wenn die gegnerischen Seiten die Menschen mit den Problemen konfrontieren, die sie selbst geschaffen haben.

Natürlich ist Prigoschin nicht besser als Putin: Jetzt kämpfen einige Faschisten gegen andere. Jede autoritäre Macht führt schließlich zu blutigen Konflikten.

In einer solchen Situation wird sich der Ruf nach Selbstorganisation, nach der Schaffung und Stärkung sozialer Bindungen an der Basis und nach gegenseitiger Hilfe ausbreiten. Die Menschen werden neue Initiativen, neue Bewegungen schaffen. Die Aufgabe von Anarchist*innen ist es, jede Anstrengung zu unternehmen, um bei der Schaffung von und der Beteiligung an Basisstrukturen zu helfen, neue Zusammenschlüsse zu schaffen und die Interaktion zwischen bestehenden Zusammenschlüssen zu stärken.

Wir haben bereits geschrieben , dass es in der Auseinandersetzung zwischen den ›Wagneristen‹ und den ›offiziellen‹ staatlichen Strukturen ›unsere Seite‹ nicht geben kann. In der laufenden Auseinandersetzung verfolgen alle nur ihre eigenen Interessen und werden sich nur selbst verteidigen. Für alle anderen ist es besser, sich nicht in diesen Kampf zu begeben und sich nach Möglichkeit von Kollisionspunkten fernzuhalten.

Wenn wir aber eine Alternative zu diesen beiden Ungeheuern schaffen wollen, dann müssen wir lernen, uns zusammenzuschließen, um unsere Probleme zu lösen, den Kampf zur Beendigung von Krieg und Unterdrückung zu unterstützen, uns gegen Gewalt zu wehren und unsere Interessen und Rechte zu verteidigen. Nur so werden wir in der Lage sein, am Aufbau einer neuen Gesellschaft mitzuwirken, die das bankrotte Regime und die von ihm geschaffenen Schlägerbanden ersetzt.

Wir sind solidarisch mit unseren Genoss*innen aus Irkutsk, die schreiben:

Putin spricht bereits im Fernsehen und sagt, dass er die Zerstörung des Staatssystems und den Ausbruch der ›Anarchie‹ befürchtet! Als Anarchist*innen können wir sagen, dass der Diktator zu Recht Angst vor der Anarchie hat: Schließlich bedeutet dies, dass seine Macht und die Idee der ›russischen Welt‹ aufhören werden zu existieren, und dass stattdessen die Gesellschaft nach den Prinzipien der Selbstverwaltung, der Dezentralisierung und des Föderalismus zu funktionieren beginnt.

Wo die staatliche Kontrolle über die Gesellschaft und die Repression schwächer werden, sollten Anarchist*innen die sich bietenden Möglichkeiten nutzen, um anarchistische Ideen in Wort und Tat zu verbreiten. Jetzt kommen Nachrichten über Unruhen in den Gefängniskolonien und Untersuchungshaftanstalten. Wir müssen uns für die Freilassung der politischen Gefangenen und anderer Opfer der Willkürherrschaft einsetzen.

Egal, wie die Rebellion, die sich gerade entfaltet, ausgeht, es muss ein neues Leben von unten wachsen, aus den Forderungen der breiten Schichten der Gesellschaft. Um dies zu ermöglichen, brauchen wir Strukturen der Selbstverwaltung und Selbstorganisation. Vereint euch.

  1. Rückblickend geben uns die Ereignisse vom 6. Januar 2021 in Washington D.C. vielleicht einen kleinen Vorgeschmack darauf, wie ein Konflikt zwischen rechtsextremen Polizisten und Soldaten und der Regierung der Vereinigten Staaten aussehen könnte. 

  2. Die als Irkutsk bekannte Region liegt im Südosten Sibiriens und wird von mehreren indigenen Bevölkerungsgruppen bewohnt; die Geschichte der Kolonisierung Sibiriens weist grobe Parallelen zur Zeitlinie und den Ereignissen der Kolonisierung des sogenannten Amerikas auf. 

  3. In Moskau, dem Moskauer Gebiet und dem Gebiet Woronesch führte die Regierung am 24. Juni als Reaktion auf die Meuterei von Jewgeni Prigoschin und der Firma Wagner eine Anti-Terror-Operation ein.